Ich musste
in Venedig bleiben, ich musste nach “Senso” in dieser Stadt bleiben und dort
sterben. Zum ersten Mal breche ich bewusst mit der Chronologie meiner Visconti
Besprechungen, um einen anderem Pfad in seinem Kino nachzuspüren. Dieses Mal
bleibe ich in der Stadt, die auch in „Senso“ jene titelgebende Sehnsucht
auslöste: Venedig, Stadt der Verfalls, Stadt des Todes, „Morte a Venezia“. Bekanntermaßen
hat sich Visconti der gleichnamigen Novelle („Der Tod in Venedig“) von Thomas
Mann angenommen. In einen ermüdenden Vergleich zwischen Vorlage und Adaption,
die nicht zuletzt für einige Kritik an Visconti gesorgt hatte, möchte ich mich
allerdings nicht verlieren. Die Besprechung soll wie bisher alle meine
Visconti-Besprechungen den Film als völlig neu und eigenständig ansehen. „Morte
a Venezia“ ist durchaus als freie Interpretation eines Künstlers zu verstehen,
der mit filmischen Mitteln seinen persönlichen Tod am Lido inszeniert. Ein Tod,
der nicht nur den Körper, sondern auch den Geist langsam dahinsiechen lässt,
der Kunst und Natur erst im Sterben vereint. Der Film beginnt mit der Anreise der
Künstlers Gustav von Aschenbach (er ist Musiker) in die verlorene Stadt. Ein
elegisches Gefühl treibt den Zuseher über das Meer und gefährliche Omen künden
vom Tod. Aschenbach, der von einem perfektioniert nuancierten Dirk Bogarde
verkörpert wird, soll sich auskurieren in Venedig. Doch sein Blick (und es ist
im wahrsten Sinne des Wortes sein Blick) wird gefangengenommen vom jungen
Tadzio, der als Sohn einer polnischen Familie im selben Hotel wie Aschenbach
haust. Ein homoerotisches Begehren entfaltet sich in den zerreißenden Blicken
des körperlich angeschlagenen Mannes. Das Leben haucht sich schmerzvoll ein
letztes Mal zwischen seine Lider. Um ihn herum beginnt Venedig selbst zu
sterben. Eine verheimlichte Epidemie bedroht die Stadt. Irgendwann gibt es
überall Flammen und Rauch und mittendrin steht Aschenbach und folgt seinem
Tadzio. „Morte a Venezia“ ist ein großer Trancefilm, der in seiner Perfektion
als ein Urfilm für das moderne Kunstkino von Pedro Costa bis Albert Serra angesehen
werden kann, indem es (sehr stark vereinfacht) mehr um eine Stimmung geht, die
einen tief im Inneren mitträgt und lange nach dem Film noch festhalten kann,
als um eine möglichst geschickt erzählte Geschichte. Hier wird Film als Musik
begriffen.
Immer wieder
wirft Visconti Flashbacks in seine schwebenden Kamerabewegungen durch die üppig
ausgestatteten Szenenbilder und die leere Unendlichkeit von Strand und Meer. Zunächst
erscheint seine Verwendung der Rückblende unpassend und störend. Zu gefangen
treibt man durch die Elegie des Leidens. Aber schließlich wird klar, dass die
Vergangenheit sich hier direkt auf die Bilder der Gegenwart geschrieben hat.
Das Zeit-Bild ist zum Verfalls-Bild geworden und alles ist im Inbegriff sich
aufzulösen. Die Erinnerungen überblenden die Gegenwart und der Blick von Tadzio,
seine unschuldige Unberührtheit überblendet das immer heftigere Bedauern der
eigenen Vergangenheit. Schließlich werden die Erinnerungsbilder gar zu Fantasie-
und Traumbildern. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Musik: Gustav
Mahlers 5. Sinfonie, die in ihren Klängen schon den Konflikt zwischen Sinnlichkeit
und Kunst, zwischen Perfektion und Natürlichkeit entfaltet und das Geschehen in
eine außerweltliche Zeit hebt, in der Ästhetik und Atmosphäre weit über dem
Leben stehen. Konsequenterweise wird die Filmmusik dann plötzlich selbst zur
Musik von Aschenbach und damit Teil eines dieser subjektiven Flashbacks (so
will ich sie mal benennen). Buhrufe und ein Pfeifkonzert treffen Aschenbach
nach einem Konzert im Herzen. Wenn ich mich daran erinnere wie groß meine eigenen
Schwierigkeiten bei der Besprechung von „Senso“ samt seiner Künstlichkeit
waren, nachdem ich zuvor die neorealistische Natürlichkeit von Visconti gelobt
hatte, wird klar, dass in diesem Konflikt, also Realismus gegen Künstlichkeit
nicht nur das Leiden von Aschenbach oder Mann sondern auch jenes von Visconti und
dem Filmschaffenden an sich liegt. Liegt das Bedauern von Aschenbach nur im
Ausleben einer falschen Sexualität während seines Lebens oder sind es seine
eigenen Ideale an denen er scheitert? Wahrscheinlich geht beides Hand in Hand.
Die Perfektion von Aschenbach ist schon bei ihrer Geburt tot. Aber ihre
Schönheit ist vollkommen. Eine klassizistische Denkweise, die hier mit
filmischen Mitteln von Visconti in malerischen Aufnahmen beerdigt und
wiedergeboren wird.
Interessant
erscheinen auch die zahlreichen Schwenks, die sich von einem Gesicht zum
nächsten hangeln. Visconti spielt mit dem Ursprung dieser Schwenks. Mal scheint
es als würde sich die Kamera autonom von Aschenbach entfernen, ihn fast
vergessen wollen, als würde sich sein Leben vor unseren Augen auflösen. So
lässt sie ihn alleine im Strandstuhl sitzen, alleine im Restaurant und fährt in
der Stadt plötzlich hinter ein Gebäude, das den Blick auf den Protagonisten
versperrt. Dazu passt auch wie lange wir Aschenbach nicht im Spiegel sehen
können und er sich scheinbar auch selbst nicht sehen kann und will, als er sich
beim Friseur für den Tod herrichten lässt. Aber immer wieder fangen Blicke
diese Schwenks auf. Es ist Tadzio. Plötzlich sind es doch POV-Schwenks, die uns
da geboten werden, wir scheinen den müden Augen von Aschenbach durch den Raum
zu folgen und dann wagt Visconti auch einen schwindelerregende
Perspektivwechsel und plötzlich sehen wir Aschenbach durch die Augen von
Tadzio, ein möglicher Verweis auf die eigenen Jugend, die eigene
Vergänglichkeit. Es könnte sowieso die Jugend sein, der der Musiker so lüstern
folgt, jener innere Schmerz des sterbenden Mannes. Die Distanz der Kamera wird zum Sinnbild von der mentalen und körperlichen Entfremdung des Protagonisten. Zu Beginn wirkt Venedig
lebendig. Um ihn herum gibt es Geschrei und die Menschen rennen und lachen. Nach
und nach wird alles tauber und leerer. Es gibt eine Fokussierung auf Tadzio und
das Sterben.
Die immer wieder auftretenden Omen und die surreale Verschwörung
der Welt gegen Aschenbach mitsamt der Epidemie lassen ein Delirium ans
Tageslicht, das sich ebenfalls gegen die Natur zu stellen scheint, also genau
in jenes Ideal der Form, das sich in das Kino von Visconti eingeschrieben hat.
Seit jeher gilt Natürlichkeit als wertendes und wertvolles Kriterium für
filmisches Schaffen. Am Ende filmt Visconti inmitten Aschenbachs goldenem
Sterbensrausch Tadzio im Meer und am rechten Bildrand ist eine Kamera zu sehen.
Diese gehört einem Fotografen, der vorher bereits in zwei Bildern zu sehen war.
Es ist wohl hinlänglich klar, dass Film keine Realität abbildet, aber Erhöhung
und Künstlichkeit sind dennoch oft verpönt. Visconti stellt selbst die Frage,
ob großes Kino aus einer vollkommenen Form, einer durchdachten Komposition
entsteht oder ob es die „echte Welt“ in sich aufnehmen muss, auf natürliche
Zufälle und Unerwartetes reagieren sollte. Diese Frage wird wohl niemals zufriedenstellend
zu beantworten sein. Pauschal könnte man natürlich immer argumentieren, dass
jeder Stoff seine Form braucht, aber das wäre vorschnell und falsch, denn
genauso wahr ist sicherlich, dass jede Form ihren Stoff braucht. Die filmische
Form ist eine Form, die mit künstlichen Mitteln ein Gefühl für das Natürliche
oder für das Gefühl selbst in sich tragen kann. Man kann das eine
kinematografische Realität nennen. Dies gilt wohl für alle Filme, die einen
künstlerischen Wert besitzen. Ebene jene
kinematografische Realität vollzieht sich in „Morte a Venezia“ für mich
deutlich kraftvoller als in „Senso“, weil letzterer sich in einer Mischung aus
Genre, politischer Allegorie, Geschichtskino und malerischen Bildern nicht genug
auf das Gefühl konzentriert. Dieses Gefühl ist wie in jeder Kunst, das was
davon bleiben wird. Visconti trachtet in „Morte a Venezia“ mit aller Kraft und
Intelligenz nach einem Gefühl von Verfall, Dekadenz, Bedauern und Sehnsucht.
Dieses Gefühl löst erst seine Narration, seine Figur, seine Metadiskussion von
Kunst und Sexualität aus. Die abstrakte Schönheit nach der Aschenbach sucht ist zum Film selbst geworden. Und er trifft von der ersten Sekunde mitten ins Herz.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen