Text: Rainer Kienböck
Pünktlich zur Award-Season startet J.C. Chandors „All Is Lost“ in den österreichischen Kinos.
Warum der Film
dennoch eher ein Versuch einer intimen Charakterstudie ist, und sich dem Diktat
der Oscar-Maschinerie nicht unterwirft, habe ich versucht im folgenden Beitrag
herauszuarbeiten.
„All Is Lost“ ist neben dem
Publikumsliebling „Gravity“, der zweite Film dieses Winters, der sich mit einem
Charakter im Überlebenskampf auseinandersetzt. Die Rarität solcher Filme hält
sich ohnehin in Grenzen. Erst letzten Winter spielte Ang Lees „Life of Pi“ mit
einer ähnlichen Prämisse. Immer geht es um Individuen, die nach einem
katastrophalen Ereignis in immer größeres Unglück stürzen. Als Ahnvater dieses
„Genres“ muss wohl Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ herhalten, dessen
gleichnamiger Hauptcharakter nach einem Schiffbruch auf einer Insel landet, und
dort um sein Leben kämpft. In seiner knapp 300-jährigen Geschichte wurde Defoes
Buch eifrig adaptiert – sowohl in Romanform als auch für die Bühne, fürs Radio,
und fürs Kino. Am prominentesten wohl von Robert Zemeckis, modernisiert, als
„Cast Away“. Im Fernsehen spielt z.B. die Serie „LOST“ mit ähnlichen Ideen.
Diese Liste könnte man ewig fortsetzen und erweitern – von Lord Tennysons Ballade
„Enoch Arden“ (verfilmt u.a. von D.W. Griffith-Hier die Besprechung auf Jugend ohne Film) bis
hin zu Ernest Hemingways genialer Novelle „The Old Man and the Sea“ (Aleksandr
Petrovs atemberaubende Öl-auf-Glas-animierte Kurzfilmadaption kann ich
wärmstens empfehlen).J.C. Chandor konnte auf eine Menge Material
zurückgreifen, um sich inspirieren zu lassen. Er wählte aber einen ganz anderen
Weg. „All Is Lost“ kommt ohne Einführung, fast ohne Dialog (nicht einmal
Zwiegespräche mit einem Volleyball) und ohne echte Auflösung aus. In seiner
Struktur ist der Film beinahe avantgardistisch – Chandor versucht sich im
Naturalismus und ist damit über weite Strecken sehr erfolgreich – die melodramatische Überhöhung im Schlussakt passt da
leider nicht ganz ins Bild. Kaum naturalistisch sind gezwungenermaßen auch
seine Sturmszenen. Obwohl Robert Redford einiges durchmachen musste und den
Großteil der Wasser-Stunts sogar selbst performt hat, kann man in einem
Tropensturm nun mal keinen Film drehen. Und gerade im Gegensatz zur reduzierten
Ästhetik des restlichen Films springt
einem der Green-Screen dann so richtig ins Auge. Von visuellem Feuerwerk wie in
„Life of Pi“ ist er aber weit entfernt, das ist in diesem Fall auch gut so.
Apropos Redford: Der Schauspieler ist
mittlerweile 77 Jahre alt, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war er 75. Wie man in
solch fortgeschrittenem Alter noch so eine physisch und psychisch
anspruchsvolle Rolle so formidabel ausfüllen kann ist mir ein Rätsel und
verlangt höchsten Respekt. Noch dazu, weil der Film von Redfords Präsenz lebt.
Der Film ist eine One-Man Show, bis auf eine andere Hand, und zwei kurzen
abgehackten Funksprüchen findet sich keine andere Spur menschlicher Beteiligung
im Film. Diese Radikalität hebt „All Is Lost“ von vergleichbaren Filmen ab. Ich
kann natürlich nicht fürs gesamte World Cinema sprechen, aber zumindest die obengenannten
Filme ähnlichen Sujets, bedienen sich Flashbacks, Prologen, Epilogen oder
zumindest eines CGI-Tigers um einen dramaturgischen Bogen zu spannen. „All Is
Lost“ arbeitet ohne diese Hilfsmittel, der Film ist jedoch nicht fühlbar
langsamer erzählt. Ich würde sogar sagen, „All Is Lost“ komprimiert Zeit viel
effektiver als die meisten Filme in diesem Subgenre. Zwar bedient sich Chandor
ausgiebig beim Murphy‘schen Gesetz, der Film verliert aber nie so ganz seine
Glaubwürdigkeit. Redfords Charisma, mutige Entscheidungen in
der Inszenierung und ein erprobtes Konzept bilden den formalen Rahmen von „All
Is Lost“, der wahre Grund sich den Film anzusehen, spielt sich aber auf der
Metaebene ab: Der Kampf eines Individuums gegen eine unkontrollierbare
Übermacht. Die Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit. Die bittere
Erkenntnis, dass man als Einzelner keine Chance hat diesen Test zu bestehen. Hier
lassen sich wieder Parallelen zu Weltraumepen wie „Apollo 13“ oder dem eingangs
erwähnten „Gravity“ ziehen. Der Ozean und das Weltall sind beide nur mittels
Technik zu bezwingen und stellen für den „nackten Menschen“ einen übermächtigen
Feind dar. Auf hoher See haben sich Filme wie „The Poseidon Adventure“, „The
Perfect Storm“, ja sogar „Titanic“ mit dieser Gefahr auseinandergesetzt.
Ich sehe noch eine andere Parallele –
nämlich zu Chandors Debütfilm „Margin Call“. Chandor traf mit diesem Film den
Puls der Zeit. Die Finanzmärkte als Spielplatz pathologisch-gestörter Yuppies.
Vor dem Hintergrund der damaligen (und auch heutigen) wirtschaftlichen und
politischen Lage, wurde der Film in erster Linie als Kommentar zur gegenwärtigen
Situation gedeutet. Im Vergleich mit „All Is Lost“ eröffnen sich aber ganz neue
Interpretationsräume, die rückwirkend eine andere Lesart von „Margin Call“
zulassen. Zwar arbeitet Chandor in „Margin Call“ mit konventionellen
Erzählstrukturen und einem starbesetzten Ensemble-Cast, aber die Geschichte die
er erzählt, unterscheidet sich nicht annähernd so stark von „All Is Lost“ wie
man vermuten mag. In beiden Filmen sehen sich Männer einer unlösbaren Aufgabe
gegenüber. Beide Filme handeln von einer Katastrophe, die nicht abzuwenden ist,
von einem Kampf gegen eine Übermacht, die nicht zu kontrollieren ist. Im Falle
von „Margin Call“ handelt es sich bei dieser Übermacht um einen Sturm aus 1en
und 0en – dem aufgeblähten und unaufhaltsamen Finanzmarkt. Im Falle von „All Is
Lost“ handelt es sich um einen tatsächlichen Sturm. Beide Filme präsentieren
eine prekäre Ausgangslage. Einerseits der Stellenabbau im Büro, andererseits
das leckende Boot. Die Protagonisten bemühen sich daraufhin die Löcher zu
stopfen. Der Flut, die auf sie hereinbricht, sind sie aber nicht gewachsen.
Es erinnert mich sehr an "Das Meer in mir" oder "mar adentro"
AntwortenLöschenDas Meer als geschlossener und offener Raum,
indem Träume ihre Zuflucht finden,
als Innenleben der Seele gleichgestellt.
Ramón Sampedro schreibt im Totenbett:
Ins Meer hinein, ins Meer,
in seine schwerelose Tiefe,
wo die Träume sich erfüllen,
und Zwei in einem Willen sich vereinen,
um zu stillen eine große Sehnsucht.
Ein Kuss entflammt das Leben
mit einem Blitz und einem Donner,
und sich verwandelnd
ist mein Körper nicht mehr Körper,
als Dräng ich vor zum Mittelpunkt
des Universums.
Die kindlichste Umarmung
und der reinste aller Küsse,
bis wir beide nicht mehr sind
als nur noch eine große Sehnsucht.
Dein Blick und mein Blick
wortlos hin und her geworfen,
wie ein Echo wiederholend: tiefer, tiefer,
bis weit jenseits allen Seins,
aus Fleisch und Blut und Knochen.
Doch immer wach ich auf
und immer wär ich lieber tot,
um endlos mich mit meinem Mund
in deinen Haaren zu verfangen.
Das Meer als Ort der Unendlichkeit, der Sehnsucht, des Endes und des Anfangs. Nicht nur in "Mar adentro", der das undurchschaubare Meer ja gleichzeitig als Grund für das Leiden (der Unfall) und als Ode an die Fantasie anspricht. (die traumhaften Kamerflüge zum Meer). Immer ist es das Meer. Wieviele Filme enden am Meer? Immer ein starrer letzter Blick hinaus, es zieht sie alle hin Fellini, Visconti, Truffaut oder Bergman. Keiner kann sich dem Meer entziehen. Romantik und Nüchternheit treffen aufeinander (selbst John Ford hat am Meer gedreht!) Irgendwie gleicht das Meer ja auch dem Kino. Es ist fasznierend anzuschauen, es verbergen sich tausende Bilder und Geschichten darin, es übt eine Stimmung auf uns aus. Es scheint von alleine zu leben und obwohl es manchmal ganz still zu liegen scheint, bewegt es sich immer. Es kann gefährlich sein und beruhigend, laut und leise, aggressiv und sanft. Für Sampedro liegt im Meer wahrscheinlich auch das Bild der Todessehnsucht. Im Kino vermag sich das Leben auch zu töten.
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