Ich habe etwas länger gewartet bis ich mir den Stern am
deutschen Kinohimmel des vergangenen Jahres (beziehungsweise schon 2012 ) angesehen habe. Der Spiegel
bezeichnete den Film als einen „Glücksfall für das deutsche Kino“ und überall
wird hervorgehoben, dass Regisseur Jan Ole Gerster mutig auf wirkliche
Charakterentwicklung verzichtet und ganz außerordentliche neue Wege geht. Als
ich den Film mit den entsprechenden Erwartungen anschaue, bin ich fast
schockiert . „Oh Boy“ ist eine einfache, einigermaßen gelungene Beobachtung
eines jungen Studienabbrechers in Berlin, der dort einen Tag verbringt, an dem
vieles schief läuft. Die klassische Konstellation (ein Mann gegen den Rest der
verschworenen, bizarren Welt) einer amerikanischen Komödie, nur dass der
Klamauk sich bei Gerster oft in absurde Stille verkehrt. Ein jazziger Score erinnert
an Woody Allen, auch der schwarz-weiße Look könnte von Allen sein, ja selbst
die Figuren und der Rhythmus könnten von Allen sein, aber auch die Drifterphase
der Nouvelle Vague oder coenesque Komödien standen hier Pate. Ein bisschen
Kafka wird auch in den (nicht vorhandenen) Kaffee gerührt und schließlich hat
man den besten deutschen Film des Jahres? Da bin ich mir nicht so sicher.
Schauspiel, Kamera und Musik sind auf dem obersten Level. Insbesondere Hauptdarsteller
Tom Schilling überzeugt in seiner passiven Frustration, durch die ganz selten
ein Funkeln huscht und er trifft damit sicherlich den Nerv bezüglich vieler
junger Nicht-Studenten seiner Generation. Auch Ulrich Noethen als Schillings
Vater überzeugt. Die schwarz-weiß Ästhetik unterstreicht das jazzige,
improvisierte Leben des Protagonisten und die Kargheit des seltsam feindlichen
und doch wiedererkennbaren Berlins. Ansonsten ist der Umgang mit der deutschen
Hauptstadt keineswegs besonders originell oder vielschichtig. Gerster fühlt
sich immer wieder hingezogen mit einer etwas lauten Subtilität auf die Stadt
als weiteren Charakter hinzuweisen. Er zeigt im Hintergrund Bilder der
Wahrzeichen. Das Schlechte daran ist, dass er sie überhaupt zeigt (man würde
merken, dass es Berlin ist ohne Friedrichstraße und Fernsehturm), das Gute
daran ist, dass er sie oft mit dem leeren oder fragenden Blick seines
Protagonisten unterschneidet und damit ein großes Fragezeichen auf die Stadt
legt. Als er am Ende aber eine bildliche Untermalung von imaginierten Peter Fox
Lyrics wagt, offenbart er doch, dass er es ziemlich cool findet, einen Film
über sein Berlin zu drehen und eine merkwürdige Ambivalenz zwischen Abgesang
und Lobgesang auf die Stadt tut sich da auf. Schon zu Beginn des Films wird „Taxi
Driver“ zitiert und man erinnert sich unweigerlich an den letzten
schwarz-weißen Abgesang auf eine Stadt, der das tat, nämlich „La Haine“. „Oh
Boy“ nimmt genau wie „Taxi Driver“ und „La Haine“ den Point of View eines
Außenseiters unter vielen ein. Allerdings ist der deutsche Außenseiter in der Gesellschaft
integriert, er ist kein Gewaltverbrecher. Der deutsche Außenseiter ist
Existentialist ohne Lust sich als solcher zu bezeichnen. Er wandert durch die
Stadt und eigentlich kümmert sie ihn nicht. Deshalb verstehe ich nicht, warum
die Stadt so involviert werden muss. Sowohl New York als auch Paris sind in den
angesprochenen Filmen Feinde der Hauptfiguren, sie liefern eine
Aggressionsfläche, aber in „Oh Boy“ könnte Berlin auch viele andere
Studentenstädte sein. Für den Protagonisten ist das herzlich egal. Gerster scheint
es hier mehr, um das persönliche Element und die Absurdität gewisser
hauptstädtischer Phänomene zu gehen.
Das größte Problem scheint mir in der Charakterzeichnung zu
liegen. Außer der Hauptfigur sind alle Charaktere sehr grob überzeichnet, ihr
Verhalten ist stereotyp, einer Komödie angemessen. Dadurch ermöglicht der Film
nicht, dass man sich auf einer Gefühlsebene mit der Hauptfigur identifiziert.
Das durch die Welt treiben wird nur von außen gefilmt und obwohl die Kamera mit
zahlreichen Suchschwenks immer wieder versucht das Drifter-Feeling zu transportieren,
muss man doch mehr lachen als fühlen. Es spricht natürlich nichts dagegen eine
solche Komödie zu drehen, aber wenn viele Kritiker darin ein Portrait einer
ganzen Generation sehen und einen Film, der eben über sein bloßes Dasein als
nette Komödie hinausreicht, dann ist das schlicht nicht nachvollziehbar. Eine
gebundene, kohärente Narration, cleveres Verschwinden und Wiederauftauchen von Figuren
und ein durchkomponierter Rhythmus kanalisieren hier ein Leben, das eigentlich
ohne Ordnung abläuft. Keine einzige Sekunde fühlt man sich so verloren wie die
Figur, denn immerzu wird alles zusammengehalten. Die Nebenfiguren verhalten sich
nie so realistisch, dass man sich ertappt fühlt, sondern immer ein wenig
over-the-top. Gerster spielt Jazz mit Noten. Der Film schwebt immer einige
Meter über der Realität, in einem Zustand des Träumens. Man mag argumentieren,
dass dieser Zustand genau jenem der Hauptfigur entspricht, aber dann frage ich
mich, warum Gerster so wenig Zeit für tote Zeit verwendet. Seine Momente des
Nichts, die doch eigentlich den Hauptteil des Lebens ausmachen, sind integriert
in Montagesequenzen oder lustige Zwischenfälle. Nie transportiert sich die
Ausweglosigkeit wirklich, denn man wird zu sehr unterhalten. Denkt man an den
Anfang von „Je tu il elle“ von Chantal Akerman oder etwa Oliver Assayas und
seine Auseinandersetzungen mit Jugend bemerkt man schnell, dass man viel weiter
gehen könnte, um eine Generation ohne Lust und ohne Perspektive zu zeigen. Wie
schon Heinrich Heine bemerkte ist Deutschland eben ein Land des Träumens und
nicht der Erde. Körperlichkeit und harter Realismus sind kaum vorhanden. „Oh
Boy“ geht nicht weit genug. Das ist kein Plädoyer für Identifikation im
amerikanischen Stil, sondern für Radikalität und tatsächliche Wahrheitssuche in
der Darstellung vom Leben. Daher bemerkt man auch jederzeit (und die Kritiker
haben das in Scharen getan), dass die melancholische Stimmung des Films
konstruiert ist. (toll, wie schön, dass konstruiert ist…). Als könnte man
Stimmungen konstruieren.
Das kann man dem Film aber nicht wirklich vorwerfen, denn
schließlich scheint Gerster eher in Richtung einer Woody Allen artigen
intellektuellen Auseinandersetzung mit einer Figur gezielt zu haben. Und das
gelingt ihm auch ganz vortrefflich, sicher besser als Allen in seinen letzten
Filmen. Die Frage scheint eher zu sein, warum dieser Film so gehyped wird. Für
einen Debütfilm ist „Oh Boy“ mit Sicherheit herausragend, aber wie viele
unterhaltsame, intelligente Komödien kann dieses Land denn noch vertragen? Die
Seitenhiebe auf den Kulturbetrieb (Nazi-Thematik, Off-Theater) lassen sich ganz
leicht auf den intelligenten deutschen Film dieses Jahrtausends verkehren. Es
wird nachgedacht, es wird alles gut gemacht und am Ende bleibt ein weiterer Film,
der wunderbar ins Fernsehen passt und niemanden stört. Ich gebe zu, dass es
andere, weitaus schlimmere Filme gegeben hätte, um diese generelle Kritik zu
äußern, aber „Oh Boy“ ist in diesem Fall Opfer seiner eigenen Beliebtheit, die
ich ganz offen hinterfragen möchte, geworden.
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