Luchino Visconti ist ein Regisseur, der die Herzen vieler
Filmbegeisterter höherschlagen lässt. Aber oft aus völlig unterschiedlichen
Gründen. Die einen sehen in ihm einen Neorealisten, der Milieus durchdringt und
zu wahrhaftigen Geschichten kommt. Andere nehmen ihn als großen Stilisten des
Melodrams war, bei dem jedes Bild ständig von einem hysterischen Exzess mit
elegischen Kamerafahrten und strahlenden Farbkompositionen durchbohrt werden
könnte. Die Nächsten schätzen ihn für seine Nähe zur Literatur, seine Fähigkeit
ganze Jahrzehnte in einen Film zu packen. Wieder andere bewundern, wie sich
Visconti entwickelt hat im Laufe seiner Karriere und womöglich zu einem der
vielseitigsten Filmemacher der Geschichte avancierte. In den nächsten Wochen
werde ich mich ein wenig intensiver mit dem Werk von Visconti beschäftigen.
Natürlich immer nur soweit, wie es das Format dieses Blogs zulässt. Ich werde
einige seiner Filme zum ersten oder zum wiederholten Mal betrachten und darüber
schreiben, wie sie sich für mich ganz unmittelbar, ohne die Last der
Filmgeschichte darstellen. Gleichzeitig werde ich mich nicht davon befreien
können, aus einem gewissen geschichtlichen Blickwinkel auf das Kino des Luchino
Visconti zu schauen.
In seinem vieldiskutierten Erstlingsfilm und
neorealistischen Gründungsstein „Ossessione“ wagt sich Visconti an eine
Verfilmung des amerikanischen Romans „The Postman Always Rings Twice“, der
bekanntermaßen später zwei amerikanische Verfilmungen und zahlreiche
Variationen erfuhr. (Darunter auch Christian Petzolds „Jerichow“) Es geht um
die klassischste aller gefährlichen Beziehungskonstellationen, eine Affäre der
unglücklichen Frau mit einem jungen Mann. Die einzige Lösung für das junge
Glück ist Mord. Kurzerhand entschließen sich Giovanna und Gino also einen
Autounfall vorzutäuschen und den Ehemann zu ermorden. Ab da ist ihnen die Polizei
auf den Fersen. Mit der Zeit verliert die Beziehung der beiden an Tiefe und
Zuneigung. Erst als sie sich wieder zu finden scheinen, steuert das Ganze auf
ein tragisches Ende hinzu. In einigen Sequenzen durchdringt der damals
37jährige Visconti sein Milieu tatsächlich. Sein Milieu, das ist hier die
Po-Ebene. Das ist der hoffnungsvolle Hafen ohne Hoffnung in Ancona und die
lebendige Stadt Ferrara. Das sind Arbeiter, die mit ausgedörrten Gesichtern meist
neugierig die Handlung betrachten. Das ist ganz im Stil des frühen Fellinis ein
Jahrmarkt, eine Attraktion. Das Milieu ist hier auch das Gerede der Menschen,
das sind die Erwartungen an ein endlich normales Leben, das es nie geben wird.
Auffällig scheint zunächst die abwechslungsreiche Art und Weise, in der
Visconti, der den Roman von seinem Lehrmeister Jean Renoir erhielt zwischen
einem amerikanischen Pulp-Thriller, einem hysterischen Melodram und einem
neorealistischen Frühwerk springt, ja geradezu virtuos die poetischen Momente
in seiner Banalität und die banalen Szenen in ihren Ausschweifungen sieht. Von
einfachen Bildern des Einschlafens und des stillen Verzweifelns, bis hin zu
lebendigen Jahrmarktpräsentationen bedient der Film viele Bildikonen des
Neorealismus. Zur cineastischen Größe reift „Ossessione“ immer dann, wenn er
beginnt elliptisch zu schweben zwischen und in den Bildern. Zum Beispiel als Giovanna
in Ferrara Gino zusammen mit einer Prostituierten erwischt und die Kamera ganz
wie bei Melville in „Le Samourai“ anfängt in einer seitlichen Bewegung die
Dramatik des Geschehens zu betonen oder wenn expressionistisch anmutende (wie
manches im Film) Bilder eines kleinen Kindes zwischen den Dialog von Giovanna
und Gino gegen Ende geschnitten sind. Erzählerisch beschreibt der Film eine
Kreisbewegung von einer verlorenen Seele auf der Straße hin zu einer noch
verloreneren Seele auf der Straße. Schon der Beginn mit seinem Blick aus der
Frontscheibe eines LKWs weist auf das tragische Ende hin. Visconti schwirrt um
Themen wie Schicksal, Loyalität, Liebe und Religion und so ganz klar scheint
nie wohin er will. Aber das gereicht dem Film zu seiner größten Stärke, nämlich
einer unheimlichen Dichte und Fülle an Emotion und Eindrücken.
Rückschauend auf das Phänomen Neorealismus haben schon
viele Autoren bemerkt, dass der „Realismus“ von heute oft wenig mit dem „Realismus“
von damals zu tun hat. Auch bei Rossellini und De Sica ist es schließlich immer
das Melodram, das durch diese Handlungen treibt. Eher sind es die kurzen
Momente der toten Zeit, der Isolation, des stummen Nachdenkens und des
Stillstehens, die im späteren italienischen Kino ihren Gipfel fanden, aber in „Ossessione“
bei Visconti durchaus schon vorhanden sind. Fast wie ein letzter Stillstand
gegen das Leben wirkt auch eine fast aus dem Nichts erscheinende Szene
verschlafender Zweisamkeit am Ufer des Po. Je länger die Handlung ihre Narben
auf die Figuren malt, desto regungsloser verharren diese in Positionen der
Machtlosigkeit. Warum handeln, wenn es keinen Zweck mehr hat? Auffällig ist
auch die Verwendung von Musik bei Visconti. Zunächst erscheint der Score sehr
melodramatisch, fast wie in einem ganz klassischen Hollywood-Melodram. Doch
nach und nach wird deutlich, dass die Musik praktisch gar keine Handlung
akzentuiert, sondern immer nur innere Bilder entstehen lässt. Eine Liebesszene
ist bedrohlich, ein Streit ist fröhlich. Wenn Visconti jedoch diegetische Musik
verwendet, steigt er wieder über sich selbst. Er spielt in Ferrara fröhliche
Tanzmusik von einem Plattenspieler als Gino und Giovanna sich furchtbar
streiten und anschreien. Als früher im Film der Ehemann mit Giovanna und Gino
zu einer Art Karaoke Veranstaltung mit dem Schwerpunkt auf große Opernnummern
geht, offenbart sich hinter dem schwafelnden Herrscher des Hauses plötzlich
eine sensible Seele, die ihn innerhalb weniger Sekunden zu einer tragischen
Figur werden lässt. Hier findet sich das Kino von Visconti am besten. Zwischen
dem realistischen Setting der Bar, den alten und begeisterten Gesichtern, den
künstlerischen Gefühlen eines kaputten Mannes und dem unübersehbaren
Durchdringen verbotener Gefühle in den Augen seiner Protagonisten. Alles ist
gleichzeitig. Oft wechselt der Film fast in eine stumme Darstellung und
überlässt sich völlig den Bildern.
In einem mutigen Manöver hat Visconti dem Film dann noch
eine ganz eigene homosexuelle Ausweichmöglichkeit gegeben, die er irgendwie
vorbei an der faschistischen Zensur gemogelt hat. Der Vagabund, mit dem Gino
einige Zeit umherreist bietet ihm ein alternatives Leben, jenseits jeglicher
weiblicher Liebschaften an. Mit sehnsuchtsvollen Blicken wird hier männliche Körperlichkeit
ausgestellt und kurzzeitig scheint es als rühre die existentielle Verzweiflung
von Gino auch aus einer sexuellen Verunsicherung. Allgemein erscheint seine
Flucht aus der Beziehung, sein ständiger Trieb zum Fortlaufen nicht nur als Prototyp
eines moderneren Helden, sondern auch als Figur, die sich noch gar nicht
gefunden hat. Wenn man abschließend bedenkt, dass es sich hierbei um das Debütwerk
von Visconti handelt, dann wird einem fast schwindlig. Es ist eine
bedingungslos ehrliche Version eines fremdsprachigen Romans, der er die
entscheidenden Gefühle im entscheidenden Moment zu entlocken vermag. Aus
heutiger Sicht mag manche charakterliche
Entwicklung und manche Äußerung von Emotion leicht übertrieben wirken, aber in
seiner Treue zur melodramatischen Darstellung hat Visconti auch früh seine ganz
eigene Linie im Neorealismus mitgeprägt.
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