De rouille et d'os |
Vor kurzem war ich mit einigen Freunden in Jacques Audiards
Film „De rouille et d’os“ (dt.: „Der Geschmack von Rost und Knochen“). Vor dem
Film unterhielten wir uns ein bisschen über Audiard und ich formulierte den
etwas merkwürdigen Satz: „Bei Audiard geht es immer um das Atmen. Menschen
atmen in seinen Filmen.“ Die Blicke, die ich für diesen Ausdruck erntete, waren
irgendwo zwischen „Was will der Mann von uns?“ und „Ja, lass ihn nur.“ Deshalb
habe ich mich entschieden etwas genauer zu erläutern, was Atmen im Kino sein
kann, wie wichtig es ist und wie es zur Abbildung einer Realität beiträgt, ja
das Kino im Unterschied zu Fernsehen beziehungsweise Film allgemein definiert.
Für mich gibt es drei Formen von Atmen im Kino:
1.
Das
Atmen als Ausdruck des Körperlichen
2.
Das
Atmen der Kamera
3.
Das
Atmen als Erzählpause
Das Atmen als Ausdruck
des Körperlichen
Un prophete |
Damit meine ich genau jenes Atmen, dass sich bei Jacques
Audiard finden lässt; die Momente, in denen die Körper der Schauspieler an die
Grenzen ihrer Körperlichkeit geführt werden, in denen sie beginnen als Körper
zu existieren und nicht nur als verpixelte Fläche auf der digitalen
Kinoleinwand herumirren. In „Un prophete“ von Audiard sitzt der junge Malik
nach seinem ersten Mord auf dem Bett, sein ganzer Körper bebt, Spucke läuft ihm
aus dem Mundwinkel, sein Körper geht auf und ab, er ringt nach Luft. Schon
zuvor, als er mit der Rasierklinge übt, schnauft er wild. Wir merken seine
Anstrengung, seine Lebendigkeit. In „De rouille et d’os“ sitzt Alain nach einem
Boxkampf im Auto, das Handtuch über den Kopf geworfen, wir blicken auf ihn
durch die Augen von Stéphanie und spüren jede Ader von ihm Zucken, jeden Muskel
sich entspannen. Viele der geschleckten Filme Hollywoods vergessen diese
Körperlichkeit über die Zerstückelung ihrer Einstellungen. So besitzen die
Charaktere im ansonsten netten „Silver Linings Playbook“ von David O.Russel,
der momentan in den Kinos läuft, trotz ihrer körperlichen Aktivitäten (Joggen,
Tanzen) praktisch keine Körperlichkeit, weil ihre Berührung in den beständigen
Schnittfolgen gar nicht gewährleistet wird und weil sie nicht Atmen, weil
Erschöpfung sich hier nur über die ersten zwei oder drei Wörter zieht bis die
hoch gefeierten Bradley Cooper und Jennifer Lawrence wieder in einen normalen
Tonfall fallen, sodass wir auch ja alles verstehen. Atmen, das sind die Ecken
und Kanten einer Inszenierung. In „De battre mon cœur s'est arrêté“ von Audiard ist das
Atmen des Protagonisten Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit, er scheint sich
selbst besiegen wollen, Verkrampfung und Wut, Gewalt und Gefühl, beides drückt
sich durch sein wildes und unregelmäßiges Schnaufen aus. Sein angespanntes
Gesicht erreicht uns lebendig statt nur eine Formel aus dem Drehbuch zu sein.
De battre mon cœur s'est arrêté |
Ist
das Atmen also eine Schauspieltechnik? Nein, zumindest ist es nicht
ausschließlich eine Schauspieltechnik, es ist mehr noch ein Zeichen für einen Regisseur,
der in seiner Welt lebt, der dreidimensionale Figuren erschafft und damit meine
ich nicht die Kindergarten-Drehbuchschule vom Zeichnen ambivalenter und
vielschichtiger Charaktere, die dann in der Presse und von anderen Leuten, die
gerne kluge Dinge über Filme sagen besonders gelobt wird, sondern ich meine das
Erschaffen einer realen Körperlichkeit. Darin liegt zum Beispiel auch der
Unterschied zwischen Daniel Craig als James Bond und all seinen Vorgängern. Er
ist ein körperlicher Bond, man merkt ihm die Anstrengung an, er atmet; wogegen Pierce
Brosnan immer so wirkte, als wäre er mit Photoshop auf die Kinoleinwand gesetzt
worden, völlig getrennt von seiner Umgebung. Hierin liegt auch die Stärke des
Kinos von Fatih Akin; das sind ganz bewusste Entscheidung auf der Ton- und
Bildebene. Man hört die Unebenheiten der Charaktere, man fühlt sie förmlich.
Denn nur wer atmet, ist lebendig.
Das Atmen der Kamera
Audiard am Set von Sur me lèvres |
Bei einem Filmdreh hörte ich die Regisseurin unerlässlich zu
ihrem Kameramann sagen: „Lass die Kamera ein bisschen Atmen“; was sie damit
meinte war wohl die leichte Bewegung der Kamera (und schließlich des Bildes),
bei der Benutzung einer Handkamera oder einer Steady-Cam. Das ist nicht zu
verwechseln mit einer Pseudo-Authentizitäts-Wackelkamera, die hektisch ein
Gefühl des Geschehens vermitteln versucht, wie zum Beispiel in den grausamen
Actionsequenzen des amerikanischen Hits „The Hunger Games“. Nein, bei diesem
Atmen handelt es sich vielmehr um den Einsatz der Kamera, wie sie ein Hans-Christian
Schmid oder die Dardenne-Brüder benutzen. Durch die ständige Bewegung der
Kamera wird er eine emotionale Ebene erzeugt, die der intellektuellen Kühle und
Präzision ihrer Geschichten entgegenwirkt und so den Zuschauer am Herzen anzusprechen
vermag. Natürlich ist diese leichte Kamerabewegung auch eine Mode, heute geht
es so weit, dass im Bild die Schärfe gesucht wird; sie ist die scheinbar
effektivste Art der Kamerabewegung durch die sich die Filmemacher nicht
wirklich spürbar machen, denn sie vermittelt ein Gefühl von Subjektivität.
Deshalb muss man streng abgrenzen zwischen den vielen Mainstreamproduktionen,
die diese Art der Kameraführung bei Point-of-View Einstellungen verwenden oder
zur Visualisierung von Schwindel, Übelkeit, Ekstase etc. und jenen Filmen,
deren ganzer Stil darauf basiert. Die Filme die durchzogen sind von einem Atmen
der Kamera versuchen auf der technischen Ebene die gleiche Körperlichkeit zu
erreichen, wie sie durch das tatsächliche Atmen des Schauspielers vermittelt
wird. Dabei sollte es aber nicht wie so oft um technische Perfektion gehen,
weil genau diese der Körperlichkeit im Weg steht. Gerade weil es so in Mode
gekommen ist die Kamera leicht zu bewegen, verliert sich die Wirkung oft
völlig. Wirklich effektiv kann dieses Stilmittel meiner Meinung nach nur
verwendet werden, wenn es den Gemütszustand der Protagonisten widerspiegelt,
wenn es Ausdruck von deren/dessen Weltwahrnehmung ist; alles andere ist
Selbstverherrlichung und die typische Kopie dessen, was man selbst so gern sieht.
Damit meine ich auch, dass die Kamera unterschiedlich stark atmen sollte, denn
nicht immer sind die Charaktere gleich beunruhigt, gleich lebendig. Gaspar Noé
wendet dieses Verfahren in seinem „Irréversible“ (den man gar nicht
überstrapazieren kann) exemplarisch an: Je hektischer und extremer die Situation,
desto freier schwebt, fliegt und wackelt die Kamera durch den Raum und als
alles noch ruhig ist, da steht auch die Kamera. Es gibt viele Gründe für
Kamerabewegung jenseits einer inneren oder äußeren Figurenbewegung, aber wenig
Gründe für eine unmotiviert atmende Kamera. (außer vielleicht den Moment des
voyeuristischen Horrors, der Spannung, wenn Einstellungen, beispielsweise
hinter einem Vorhang so wirken als wären sie subjektiv und man sich unwohl
fühlt.)
Das Atmen als
Erzählpause
De rouille et d'os |
Das ist dann eher eine Aufgabe des Schnitts. Es sind die
Momente zwischen oder nach der Handlung, der Augenblick, in dem die Kamera noch
ein wenig länger bei den Charakteren verweilt. Über diese Stellen definieren
sich Filme. Nicht alles muss eine Bedeutung haben, manche Bilder sollten
einfach für sich selbst stehen und eine Stimmung schaffen. Audiard hat
zahlreiche Bilder jener Art in seinen Filmen, wenn er sich langsam um seine
Charaktere herumbewegt, wenn Alain aus dem Fenster blickt, wenn Malik zum
ersten Mal das Gefängnis verlassen darf. Statt sich in irren Geschwindigkeiten
durch die Handlung zu hangeln und lediglich funktionale Szenen im finalen
Schnitt zu lassen, um eine ständige Unterhaltung bei annehmbarer Länge zu
gewährleisten, sollte man sich lieber darum bemühen eine gewisse Tiefe und Echtheit
der gefilmten Welt zu sichern; auch Audiard hetzt manchmal zu sehr in „De
rouille et d’os“, versucht akribisch die Handlung in zwei Stunden zu erzählen,
statt den ein oder anderen Moment stehenzulassen. John Cassavetes war ein Meister dieser
Momente. Er erreichte sie durch die absolute Freiheit, die er seinen
Schauspielern in Bezug auf die Interpretation seiner vorgeschriebenen
Drehbücher gab. Laurent Cantet fand viele dieser atmenden Stellen in „Entre les
murs“, als er den Lehrer zwischen der Hektik des Schulalltages immer wieder auf
das leere Klassenzimmer blicken ließ.
Entre les Murs |
Filme brauchen diese Zeit zum
Verschnaufen, sie müssen sich festsetzen. Es ist keine Überraschung, dass die
Komödien, die dem Leben nahe stehen und nicht als reine Blödelorgie dienen,
diese Pausen von der Erzählung nehmen. So finden sich zum Beispiel in „Happiness“
von Todd Solondz unzählige Einstellungen von Charakteren, die abends alleine im
Bett sitzen, reflektieren und so uns die Möglichkeit zur Reflektion geben. Oft
wird man überwältig von den Filmen, die einem scheinbar keine Pause geben, die
von einem Highlight in das nächste springen; „da wird einem nicht langweilig“,
sagt man dann. Nur oft hat man diese Filme unmittelbar nach ihrem Ende schon
wieder vergessen, man kann gar nicht alles verarbeiten. Das Bescheuerte daran
ist, dass die Schnelligkeit der Handlung, der Versuch des Aussparens sämtlicher
nicht-funktionaler Szenen weder vor Spannung, noch für Humor, noch für eine
bessere Unterhaltung sorgt. Niemand wird bestreiten, dass Roman Polanskis „Ghostwriter“
trotz einer langsamen Erzählweise und vieler rein atmosphärischer,
charakterbezogener Momente eine mindestens gleichwertige Spannung erzeugen
kann, als jeder Hollywood-Blockbuster. Sieht man sich zum Beispiel „The
Adjustment Bureau“ von George Nolfi an, wird man fast erschlagen von dieser
unnötigen Hektik bis irgendwann nur noch Farben und Formen vor einem über die
Leinwand flimmern.
The Adjustment Bureau |
Beim Humor ist das ganz ähnlich. Versuchen Filme zwanghaft
ein Gagfeuerwerk abzufeuern, empfindet man sie irgendwann als ermüdend, ja
dumm. Mag dieses Konzept im Kino noch funktionieren (frei nach dem Motto: bei
200 Leuten lacht immer irgendeiner über irgendeinen Gag und nimmt die anderen
mit), so merkt man dann oft beim nochmaligen Schauen alleine oder im kleineren
Kreis, dass Charaktere nur noch installiert werden, um Gags zu produzieren statt dass Charaktere produziert werden, die Gags produzieren. Schließlich kann
man auch mit langsamer, atmender Erzählhaltung unterhalten, wenn man denn möchte.
Quentin Tarantino unterhält mit Gewalt und Musik, Paul Thomas Anderson unterhält
mit Perversion und Schuld, Ulrich Seidl unterhält mit Ekel und schwarzem Humor
und Jacques Audiard unterhält mit Unberechenbarkeit und Ehrgeiz. Gerade in den
langen, scheinbar nichts-aussagenden Einstellungen liegt oft die Wahrheit aller
Filme, in etwa so, als würde man einen einsamen älteren Mann von seinem Fenster
aus beobachten, wie er draußen steht und die Tauben füttert.
Was noch?
Es gibt „Atmen“ von Karl Markovics und „Außer Atem“ von Jean-Luc
Godard; die hektischen Schnitte bei Godard lassen einen in der Tat atemlos
zurück; Atmen heißt in beiden Filmen immer auch leben. Außer Atem heißt auch,
dass man keine Zeit hat; doch Zeit sollten sich Filme nehmen. Es ist ein Trugschluss
zu glauben, dass der Unterhaltungsfaktor etwas mit der Laufzeit des Films zu
tun hat.
A bout de souffle |
Manchmal atmet auch der Sitznachbar im Kino sehr laut; er
sollte nie lauter atmen, als der Film selbst. Sein Atmen verhindert dann, dass
man in den Film einsteigen kann, dass man sich in der Leinwand verliert. Atmen
ist auch in der realen Welt Ausdruck von Intensität, Nähe (in diesem Fall: zu
nah) und Körperlichkeit. Das Kino hat die Fähigkeit diese Attribute auf der
Leinwand zu versammeln. Bei Audiard passiert genau das. Deshalb habe ich davon
gesprochen, dass seine Filme atmen.
Sur mes lèvres
De battre mon coeur s'est arretè
Un prophete
De rouille et d'os
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