Donnerstag, 3. Januar 2013

Kleine wahre Lügen über leichte schwere Komödien


In vielerlei Hinsicht ist Guillaume Canets „Les petits mouchoirs“ (dt. „Kleine wahre Lügen“) ein Verwandter der unsäglichen französischen Sommer-FeelGood-Publikumsmagneten „Bienvenue chez les Ch’tis“ (dt. „Willkommen bei den Schtis“) und „Intouchables“ (dt. „Ziemlich beste Freunde“). Ein riesiger finanzieller Erfolg an den Kinokassen, großer Publikumszuspruch und eine französische Leichtigkeit, die der Film zu vermitteln scheint, sind die Gemeinsamkeiten zwischen Canets Film und den beiden genannten Werken. Insbesondere im Ausschlachten klischeehafter Plotstrukturen und die bemühte Suche nach besonders komischen Momenten innerhalb der Handlung findet sich in allen drei Filmen. Es wird einfach zu sehr darauf geachtet, dass man sich gut fühlt nach dem Kinobesuch. Aber irgendwas schwingt da in „Kleine wahre Lügen“ mit, was den Film deutlich tiefer gehen lässt. Nur was?


Canet selbst ist ein großer Star in Frankreich, ein Schauspieler, der unter anderem in „Jeux d’enfants“ von Yann Samuell oder in Danny Bolyes „The Beach“ zu sehen war. In „Kleine wahre Lügen“ versammelt er einen Allstar-Cast um Marion Cotillard, Jean Dujardin und Francois Cluzet. Eine Gruppe von Freunden fährt trotz eines schlimmen Unfalls eines ihrer Freunde zusammen in den Urlaub und erlebt und diskutiert dort zwei Wochen die Liebe. Dabei wird in 2,5 Stunden jeder Charakter mit einer mehr oder weniger bewegenden Hintergrundgeschichte ausgestattet. Aber im Unterschied zu vielen Tragik- oder Beziehungskomödien, die ernstere Töne anschlagen, um dem Herumalbern einen Sinn zu verleihen, handelt es sich bei „Kleine wahre Lügen“ schlicht und ergreifend nicht um eine Komödie. Nur in seinen schwächsten Momenten versucht der Film witzig zu sein. Seine Stärke liegt in der Beobachtung seiner Charaktere, in dem, was sie uns am Anfang noch nicht erzählen wollen. In einer bergmannschen Destruktion ihrer glatten Gesichter. Canet lässt diese Gruppe von Freunden zum Leben erwecken. Auch wenn der Film sich zugegebenermaßen immer wieder in Genrekategorien zwingt und nicht die Freiheit und Präzision eines Desplechin oder Assayas zu erreichen vermag, so finden deren Werke doch Anklang in den Bildern von Canet. Wenn die Freunde zusammen auf der Terrasse sitzen erzählen sich ihre Blicke so viel mehr, als man als Außenstehender wissen kann. Die eigentliche Handlung ist hier nur der Subplot. Vielmehr behandelt der Film die Frage: Was ist Freundschaft? Und diese Frage behandelt er eben lange nicht so klischeehaft, wie die Frage danach klingt. Oft manifestiert sich Freundschaft bei Canet in ihrer Abwesenheit, in der unglücklichen Dosierung von Zuneigung. Alle seine Charaktere sind Egoisten. Aber sie sind auch in der Lage füreinander da zu sein.




Wenn zu Beginn kurz diskutiert wird, ob man den Urlaub absagen soll, dann scheint einem das zunächst eine unwichtige Randepisode zu sein. Man erlebt die Verdrängung durch die Charaktere am eigenen Leib.

Was den Film von vielen anderen leichten schweren Komödien unterscheidet ist, dass die Komödie hier nur Vorwand ist für das Drama, das sich wegen ihr vollzieht. In jedem Witz steckt ein Stück Schuld. Canet hält nicht immer die Balance, aber er erzählt etwas Wahres über seine Figuren. Dass die lange Laufzeit von fast allen Kritikern negativ angemerkt wurde, liegt wohl daran, dass 2,5 Stunden für eine Komödie zu lang sind. Nicht aber doch für das existenzialistische Drama, das sich dahinter verbirgt. Warum aber wirkt das ganze so wenig ausbalanciert?


Der Streitpunkt ist eigentlich: Warum versteckt Canet dieses Potenzial eines großartig beobachteten Films hinter der Fassade einer herkömmlichen Sommerkomödie bzw. eines Sommer FeelGood-Films mit all ihren Gags, popmusikalischen Einlagen, Sentimentalitäten und werbeästhetischen Bildern? Oder ist es gerade diese Differenz zwischen seiner Handlung und der Wahrheit seiner Geschichte, die die Wirkung des Films ausmacht? Ein Film, der viele Fragezeichen lässt.




Zu Beginn sehen wir Ludu. Er ist im Partyrausch. Alles wirkt leicht. Er kommt von der Toilette, sieht alle Frauen an, alle sehen ihn an. Er setzt sich zu einem Freund, der ihm eine Frau vorstellt, die er auf der Party kennengelernt hat. Ohne Umschweife küsst er die Frau. Das Leben ist leicht. Dann geht er zum Rauchen. Spontan entscheidet er sich zu fahren. Er verlässt den Club und springt auf seinen Motorroller. Rauchend fährt er durch ein leeres Paris am Morgen. Alle Ampeln schalten auf grün, es wirkt so leicht. Aus dem Nichts rast ein Laster von links herbei und überfährt Ludo. Das ist die Eröffnungssequenz des Films. In den folgenden zwei Stunden vollzieht der Film dieselbe Nacht wie Ludo. Er kommt leicht daher und alles wirkt einfach, ein Lebensgefühl. Das Drama wird in den flimmernden Nachtlichtern der Discothek genauso verdrängt, wie an den weißen Stränden der französischen Atlantikküste. Aber es kann einen jeden Moment einholen. 


 

„Kleine wahre Lügen“ fängt das Gefühl ein, wenn man lacht und sich gut fühlt, obwohl man eigentlich keinen Grund dafür hat. Manchmal wirkt er ein wenig unausgewogen, aber im Kern macht Canet vieles richtig. Von den wichtigen Kritikern wurde der Film zerrissen. Zu viel Mainstream für die einen, zu wenig Gagdichte für die anderen. Alle haben diesen Film schon gesehen. Das könnte daran liegen, dass man dieses Gefühl von etwas Tieferem, das im Film mitschwingt in einer Nachbetrachtung nicht mehr zu finden vermag. Aber vielleicht ist gerade das die Stärke von Canet: Uns einen Film nicht zu erzählen, den wir alle kennen.






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