In vielerlei Hinsicht ist
Guillaume Canets „Les petits mouchoirs“ (dt. „Kleine wahre Lügen“) ein
Verwandter der unsäglichen französischen Sommer-FeelGood-Publikumsmagneten „Bienvenue
chez les Ch’tis“ (dt. „Willkommen bei den Schtis“) und „Intouchables“ (dt.
„Ziemlich beste Freunde“). Ein riesiger finanzieller Erfolg an den Kinokassen,
großer Publikumszuspruch und eine französische Leichtigkeit, die der Film zu
vermitteln scheint, sind die Gemeinsamkeiten zwischen Canets Film und den
beiden genannten Werken. Insbesondere im Ausschlachten klischeehafter
Plotstrukturen und die bemühte Suche nach besonders komischen Momenten
innerhalb der Handlung findet sich in allen drei Filmen. Es wird einfach zu sehr darauf geachtet, dass man sich gut fühlt nach dem Kinobesuch. Aber irgendwas schwingt
da in „Kleine wahre Lügen“ mit, was den Film deutlich tiefer gehen lässt. Nur
was?
Canet
selbst ist ein großer Star in Frankreich, ein Schauspieler, der unter anderem
in „Jeux d’enfants“ von Yann Samuell oder in Danny Bolyes „The Beach“ zu sehen
war. In „Kleine wahre Lügen“ versammelt er einen Allstar-Cast um Marion Cotillard,
Jean Dujardin und Francois Cluzet. Eine Gruppe von Freunden fährt trotz eines
schlimmen Unfalls eines ihrer Freunde zusammen in den Urlaub und erlebt und
diskutiert dort zwei Wochen die Liebe. Dabei wird in 2,5 Stunden jeder
Charakter mit einer mehr oder weniger bewegenden Hintergrundgeschichte
ausgestattet. Aber im Unterschied zu vielen Tragik- oder Beziehungskomödien,
die ernstere Töne anschlagen, um dem Herumalbern einen Sinn zu verleihen,
handelt es sich bei „Kleine wahre Lügen“ schlicht und ergreifend nicht um eine Komödie.
Nur in seinen schwächsten Momenten versucht der Film witzig zu sein. Seine
Stärke liegt in der Beobachtung seiner Charaktere, in dem, was sie uns am
Anfang noch nicht erzählen wollen. In einer bergmannschen Destruktion ihrer
glatten Gesichter. Canet lässt diese Gruppe von Freunden zum Leben erwecken.
Auch wenn der Film sich zugegebenermaßen immer wieder in Genrekategorien zwingt
und nicht die Freiheit und Präzision eines Desplechin oder Assayas zu erreichen
vermag, so finden deren Werke doch Anklang in den Bildern von Canet. Wenn die
Freunde zusammen auf der Terrasse sitzen erzählen sich ihre Blicke so viel mehr,
als man als Außenstehender wissen kann. Die eigentliche Handlung ist hier nur
der Subplot. Vielmehr behandelt der Film die Frage: Was ist Freundschaft? Und
diese Frage behandelt er eben lange nicht so klischeehaft, wie die Frage danach
klingt. Oft manifestiert sich Freundschaft bei Canet in ihrer Abwesenheit, in
der unglücklichen Dosierung von Zuneigung. Alle seine Charaktere sind Egoisten.
Aber sie sind auch in der Lage füreinander da zu sein.
Wenn
zu Beginn kurz diskutiert wird, ob man den Urlaub absagen soll, dann scheint
einem das zunächst eine unwichtige Randepisode zu sein. Man erlebt die
Verdrängung durch die Charaktere am eigenen Leib.
Was
den Film von vielen anderen leichten schweren Komödien unterscheidet ist, dass
die Komödie hier nur Vorwand ist für das Drama, das sich wegen ihr vollzieht.
In jedem Witz steckt ein Stück Schuld. Canet hält nicht immer die Balance, aber
er erzählt etwas Wahres über seine Figuren. Dass die lange Laufzeit von fast
allen Kritikern negativ angemerkt wurde, liegt wohl daran, dass 2,5 Stunden für
eine Komödie zu lang sind. Nicht aber doch für das existenzialistische Drama,
das sich dahinter verbirgt. Warum aber wirkt das ganze so wenig ausbalanciert?
Der
Streitpunkt ist eigentlich: Warum versteckt Canet dieses Potenzial eines
großartig beobachteten Films hinter der Fassade einer herkömmlichen
Sommerkomödie bzw. eines Sommer FeelGood-Films mit all ihren Gags, popmusikalischen Einlagen, Sentimentalitäten
und werbeästhetischen Bildern? Oder ist es gerade diese Differenz zwischen
seiner Handlung und der Wahrheit seiner Geschichte, die die Wirkung des Films
ausmacht? Ein Film, der viele Fragezeichen lässt.
Zu
Beginn sehen wir Ludu. Er ist im Partyrausch. Alles wirkt leicht. Er kommt von
der Toilette, sieht alle Frauen an, alle sehen ihn an. Er setzt sich zu einem
Freund, der ihm eine Frau vorstellt, die er auf der Party kennengelernt hat.
Ohne Umschweife küsst er die Frau. Das Leben ist leicht. Dann geht er zum
Rauchen. Spontan entscheidet er sich zu fahren. Er verlässt den Club und
springt auf seinen Motorroller. Rauchend fährt er durch ein leeres Paris am
Morgen. Alle Ampeln schalten auf grün, es wirkt so leicht. Aus dem Nichts rast
ein Laster von links herbei und überfährt Ludo. Das ist die Eröffnungssequenz
des Films. In den folgenden zwei Stunden vollzieht der Film dieselbe Nacht wie
Ludo. Er kommt leicht daher und alles wirkt einfach, ein Lebensgefühl. Das
Drama wird in den flimmernden Nachtlichtern der Discothek genauso verdrängt,
wie an den weißen Stränden der französischen Atlantikküste. Aber es kann einen
jeden Moment einholen.
„Kleine
wahre Lügen“ fängt das Gefühl ein, wenn man lacht und sich gut fühlt, obwohl
man eigentlich keinen Grund dafür hat. Manchmal wirkt er ein wenig
unausgewogen, aber im Kern macht Canet vieles richtig. Von den wichtigen
Kritikern wurde der Film zerrissen. Zu viel Mainstream für die einen, zu wenig
Gagdichte für die anderen. Alle haben diesen Film schon gesehen. Das könnte
daran liegen, dass man dieses Gefühl von etwas Tieferem, das im Film mitschwingt
in einer Nachbetrachtung nicht mehr zu finden vermag. Aber vielleicht ist
gerade das die Stärke von Canet: Uns einen Film nicht zu erzählen, den wir alle
kennen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen