Von einem Filmblog wird am Ende des Jahres immer eine Liste
verlangt. Die Top10 hier, die übersehenen Geheimtipps da, die schlechtesten
Filme dort. Das kann aber immer nur eine Momentaufnahme sein, weil sich insbesondere
gute Filme in ihrer Bewertung über die Jahre immer verschieben werden. Sterne
oder andere Bewertungskriterien dienen hauptsächlich zur Gewinnung einer
größeren „Leserschaft“. Man will nicht lesen, nur kurz wissen, ob es sich lohnt
ins Kino zu gehen oder ob man sich doch einen Stream im Internet zieht.
Deshalb habe ich mich entschieden einfach 22 Momente und
Augenblicke des Kinojahres aus 22 Filmen, die mich nachhaltig beeindrucken zu
schildern und so eine Empfehlung für diese Filme auszugeben. Das Kinojahr 2012
war sicherlich ein gutes, vor allem für den europäischen Film. Die Reihenfolge
der genannten Filme ist willkürlich
We need to talk about Kevin von Lynne Ramsay
Die ersten Minuten des Films heben jegliche zeitliche
Reihenfolge gleich völlig aus den Angeln. Sofort beginnt man den Bildern zu
misstrauen, den Gesichtern. In diesem Film ist alles, was schön sein sollte von
Bosheit besessen. Eva ist auf einer Tomatenschlacht in Spanien. Alles ist rot,
sie schließt die Augen und schwebt durch die Menge. Es ist ein Traumbild. Ein Bild ohne kausale
Beziehung zum Film, ein Stimmungsbild, das die Atmosphäre des Filmes
vorwegnimmt und einen gefangen hält. Eine langsame Fahrt auf eine geöffnete
Balkontür bei Nacht. Der Vorhang weht leicht im Wind. Was sich dahinter
verbirgt, ist das Grauen.
Drive von Nicolas
Winding Refn
Der Driver steigt mit seiner Freundin in den Aufzug. Langsam
schließt sich die metallene Türe, die goldenes Licht reflektiert. Im Aufzug wirkt
alles wie in Bronze gegossen, alles spielt sich in Zeitlupe ab, die Zeit
scheint stillzustehen. Es steht noch ein Mann im Aufzug. Die Kamera fährt an
dem Körper des Mannes herunter und offenbart, dass er eine Pistole trägt. Der
Driver sieht das. Er nimmt seine Freundin, drückt sie in die Ecke und küsst
sie. Das Licht verändert sich, die Freundin bekommt ein Spotlight, sie glänzt
in diesem Ausbruch der Emotion. Aber es hält kaum an, da wird klar, dass es nur
ein Ablenkungsmanöver des Drivers war. Oder war es seine letzte Chance auf
einen Kuss?
Take Shelter von Jeff
Nichols
„There is a storm coming like nothing you have ever seen.“,
schreit Curtis durch den Raum bei einem Essen in der Gemeinde. Zuvor ist er den
ständigen Blicken, dem äußeren Druck der Menschen erlegen, die ihn stumm
beobachten und für verrückt halten. Ihn hält es nicht mehr. Er schlägt einen
Freund zu Boden und wirft den Tisch um. Alle sind wie erstarrt und sehen ihm
zu. Das Verrückte wird ausgestellt, der Verrückte stellt sich aus. Die Kamera
wahrt Distanz. Wir fragen uns: Ist er wirklich verrückt oder sind es wir? Er
fragt in die Runde, ob er verrückt ist. Dann schneidet Nichols auf seine Frau.
Sie steht an der Hand mit der schockierten Tochter. Und sie nimmt ihn in die
Arme.
Tabu von Miguel Gomes
Plötzlich und ohne Vorwarnung hört man die Dialoge nicht
mehr. Man muss beginnen die Bilder zu lesen. Dies geschieht im Moment der
steigenden Anziehung zwischen Aurora und Ventura. In der gleichen Weise, wie
sie sich ineinander verlieben, verliebt man sich in die puren Bilder dieser
Sequenzen. Die Lockerheit der Inszenierung, die klassische Dramaturgie, die
Liebe zum Film. Gomes drückt sie ganz einfach in Bildern aus. Man lacht
innerlich und weiß gleichzeitig um die Traurigkeit des Gezeigten.
Moonrise Kingdom von
Wes Anderson
Die Trainingshose von Captain Sharp ist etwas zu kurz geraten.
Er hat sie wohl schon sein ganzes Leben. Eine unglückliche Seele mit kindlichem
und gutem Herz. Aber Captain Sharp trägt das Gesicht von Bruce Willis. Captain
Sharp sitzt in einem Turm, um zu telefonieren. Seine zu kurze Trainingshose
fällt im Sitzen besonders auf. „It's been proven by history: all mankind makes
mistakes.“
Holy Motors von Leos
Carax
Ein Kinosaal. Wie erstarrte Leichen sitzen die Zuseher in
ihren Sesseln. Alles scheint zu schweben. Ein Mann blickt von oben auf diesen
Saal. Dann schleicht er durch die Reihen. Unbemerkt. Zu ihm gesellt sich ein
Wolf. Er pirscht sich von hinten an die Zuseher an und der Film beginnt von
diesem Moment an ein Kino zu zelebrieren, in dem alles möglich und nichts
erklärbar scheint. Aber alles bleibt auch interpretierbar.
Dans la maison von François
Ozon
Neugier, die befriedigt werden will. Der Leser/Zuseher, der
mehr wissen will. Hinter allem muss sich noch was verstecken. Claude sitzt auf
den Stufen zum Wohnzimmer des Hauses eines Schulkameraden. Er hat damit
begonnen eine Geschichte über die Geschehnisse im Haus zu schreiben. Die Grenzen
zwischen Beobachter und Beobachteten, zwischen Fiktion und Realität beginnen zu
verschwimmen. Er sieht, was er sehen will, wir hören, was wir brauchen. Eine
Geschichte voller Spannung über die Geschichte der Spannung. Der voyeuristische
Blick von Claude auf den Treppen ist einer von vielen dieser Art. Er bringt die
Geschichte weiter. „A Suivre.“
Was bleibt von
Hans-Christian Schmid
Wenn sich eine in ihre Einzelteile zerlegte Familie in einem
Bad aus Lügen plötzlich für Momente nochmal finden kann, aufgrund eines Charles
Aznavour-Klassikers, der spontan angestimmt wird, dann wird einem klar, dass
das Leben nicht aus einheitlichen Stimmungen besteht, sondern aus Momenten. Es
läuft einem eiskalt den Rücken runter in dieser Achterbahnfahrt der wechselnden
Sympathien. Was bleibt ist der Verlust einer familiären Beständigkeit.
The Dark Knight Rises
von Christopher Nolan
Das Stilmittel verschiedene Situationen in Filmen häufiger zu
zeigen und anders ausgehen zu lassen, um Emotionen zu erwecken ist, wie schon
in Inception mit dem wiederkehrenden Bild der Kinder auch in The Dark Knight
Rises in Perfektion angewandt worden. Alfred trägt die Last der ganzen Trilogie
mit sich. Er steht für den Zuseher, der sich ein finales Glück für Bruce
wünscht. Er hat diesen Traum, dass er eines Tages in ein Café geht, sich etwas
bestellt, den Blick hebt und dort Bruce
sieht, der es geschafft hat und Batman hinter sich gelassen hat. Er soll dort
mit einer Frau sitzen. Als er Bruce diese Geschichte am Anfang erzählt, sehen
wir für den Bruchteil einer Sekunde einen anderen Mann dort sitzen. Später
kommt Alfred wieder in das Café. Und er hebt seinen Blick.
Stillleben von
Sebastian Meise
Eine verschlossene Scheune am Rande eines kleinen Weges. Die
Tür ist verschlossen, kein Blick hinein ist möglich. Es sind die ersten
Sekunden des Films und es drückt von allen Seiten, denn je länger man dieses
kleine Haus betrachtet, desto schlimmer sind die Erwartungen an das, was sich
dahinter verbirgt. Und dann setzt die Musik ein. „Voyage, Voyage“, und man
ahnt, dass sich diese Tür im Laufe des Films noch öffnen wird.
Once Upon A Time in
Anatolia von Nuri Bilge Ceylan
Eine Frau hat den exakten Tag ihres Todes vorausgesagt. Sie
hat ihr Kind geboren und ist kurze Zeit später ohne erkennbaren Grund gestorben.
Aber sie hatte bereits lange vorher gesagt, dass sie an diesem Tag sterben
wird. Diese Episode erzählt der Staatsanwalt dem Doktor immer wieder. Sie
scheint alles zu sein, was in den traurigen Augen des Beamten vor sich geht.
Der Arzt schließt das aus, vermutet Selbstmord. Am Ende der Nacht, völlig
entkräftet, gesteht der Staatsanwalt, das es sich um seine Frau handelte. Er
steht zerbrechlich im Büro des Doktors, schwach und einsam. Er hatte sie
betrogen. Und es wird klar, dass die Wahrheit manchmal besser begraben bleibt.
Tinker, Tailor,
Soldier, Spy von Tomas Alfredson
In den hinter Brillengläsern versteckten Augen von George
Smiley lassen sich die Geschichten eines Lebens lesen. Es sind melancholische
Augen, die bereuen, was geschehen ist, die vielleicht ein ganzes Leben
verabscheuen, ein Leben der Täuschung und Selbst(ent)täuschung. Es sind wachsame
Augen, denen nichts entgeht, die sich ständig bedroht und gefährdet fühlen. Es
sind die Augen eines verlorenen Glaubens, der Resignation, die sich überall
dort einsam fühlen, wo sie eigentlich heimisch sind. Im Dunst des
Zigarettenrauchs funkeln sie aber manchmal auf. Und dann entgeht ihnen nichts.
Monsieur Lazhar von
Philippe Falardeau
Bachir sitzt noch spät in einem leeren Klassenzimmer und
korrigiert. Er ist leer und erschöpft. Ein verlorener Mann ohne Heimat, der
einer ganzen Schulklasse diese Heimat zurückgeben muss. Leise ist Musik zu
hören. Sie dringt in das Klassenzimmer und wird lauter. Langsam transformieren
sich die Klänge in arabische Rhythmen. Sie werden lauter und dringen bis zu
Bachir vor. Er steht auf und beginnt sich dazu zu bewegen. Zum ersten Mal
schimmert seine wahre Natur auf, zum ersten Mal sehen wir den ganzen Mann, der
seine verborgene Heimat erleben kann. Bis er von seiner Kollegin unterbrochen
wird.
Argo von Ben Affleck
In einem Feuerwerk der Parallelmontagen vollzieht sich das
atemlose letzte Drittel des Films. In glasklaren Formen reduziert sich der Film
in unheimlich effektiver Weise auf puren Suspense. Die als Filmcrew getarnten
Botschafter müssen die Flughafenkontrollen unerkannt passieren, um das Land
verlassen zu können. Allerdings wurde die Buchung storniert. Tony weiß das. Er
riskiert es trotzdem. Alles hängt plötzlich an einem übermotivierten
Aufnahmeleiter, der die Filmproduzenten, die den Flug rückbuchen können wegen
Dreharbeiten vor ihrem Büro aufhält. Unerbittlich klingelt dort das Telefon.
Und Tony steht am Schalter. „Argo fuck yourself.“
Paradies: Liebe von
Ulrich Seidl
Teresa sitzt mit einer neu gewonnenen Freundin im Urlaub an
der Bar ihres Hotels. Sie beginnt damit die exotische Welt der kenianischen
Männer zu genießen. Sie fühlt sich begehrt und jung. Seidl zeigt die zwei
Frauen von hinten, in engen Badeanzügen, die ihr Alter und ihre Fettpolster
nicht verstecken. Die beiden Frauen beginnen Kontakt mit dem Barkeeper
aufzunehmen. Sie machen sich über ihn lustig, sehen ihn nicht als Menschen. Sie
lassen in österreichische Wörter sagen und amüsieren sich über seine
Aussprache. Die sexuellen Abgründe, die Einsamkeit, die menschlichen Schwächen,
Rassismus. Alles wird ausgestellt. Man weiß nur nicht, ob man lachen darf.
Jenseits der Hügel von
Cristian Mungiu
Im Moment der Umarmung, der großen Nähe zweier Personen, die
als blasse Farbklekse in einer grau/weißen Umgebung eingeführt werden, wird die
Angst spürbar. Sie dürfen nicht gesehen werden. Es ist verboten. Trotzdem
scheint die Zeit still zu stehen. Dann brettert ein Zug durch den Hintergrund
und man spürt den harten Gegenwind, der einer unausgesprochenen Liebe im Weg
stehen wird. Gut, dass der Dreck auf der Scheibe am Ende den Blick versperrt.
Den Blick auf eine Wahrheit, die nicht nur in Anatolien besser versteckt
bleibt.
Moneyball von Bennett
Miller
Billy Beane sieht sich die Spiele seiner Mannschaft nicht an.
Er ist abergläubisch und glaubt, dass sie verlieren, wenn er die Spiele
verfolgt. Trotzdem bedeuten sie ihm alles. Immer wieder schaltet er das Radio
an, um es gleich wieder auszuschalten. Einmal fährt er mit seinem Auto zu einem
Spiel der zweiten Mannschaft, während sein Team ein wichtiges Spiel hat. Seine
Ex-Frau und Tochter rufen ihn an. Sie gratulieren ihm zu seinem Erfolg und die
Tochter bittet ihn ins Stadion zu fahren und sich das anzusehen. Billy dreht
um. Als er das Stadion betritt, mit skeptischen Blick und das Match eine
unerwartete Wende zu nehmen scheint, finden sich in seinem Blick Resignation,
Angst und ein fehlender Selbstrespekt, die gleichzeitig der Motor dieses Mannes
sind. Er verlässt das Stadion wieder.
Martha Marcy May
Marlene von Sean Durkin
Am Ende blickt Martha zurück. Aus dem Auto. Ihr paranoides Gefühl
der Verfolgung scheint sich zu bestätigen. Sie werden verfolgt. Ein Gefühl, das
einen den ganzen Film über begleitet wird so auch über den Abspann hinaus
transportiert. Der Blick zurück ist kein Blick in die Vergangenheit. Martha
lebt sowieso schon dort. Es ist ein Blick der Angst vor der Gegenwart. Ein
Film, der die Hoffnung auf eine Zukunft aus seinen Charakteren saugt und sich
auf den Zuseher überträgt wie ein Virus. Man verlässt den Kinosaal und blickt
sich um.
Amour von Michael
Haneke
Ist das ein Akt der Liebe? Wie brutal ist es dann, das zu
tun, was man tun muss, um jemanden wirklich von Herzen zu lieben? Nichts wird
verschönt im Moment, in dem Georges das Leid seiner Frau beenden will. Er hat
sich darauf vorbereitet, er hat sie darauf vorbereitet. Aber nichts bereitet
den Zuschauer darauf vor. Nie war eine Erlösung schlimmer. Es sind die
schnellsten Bewegungen, die Georges im ganzen Film ausführt. Aber es bleibt
eine Erlösung und dieses Gefühl haftet dem Film auch an. In dieser
urteilsfreien Ästhetik, diesem Respekt vor der Menschlichkeit liegt oft eine
Kühle. Hier fehlt diese Kühle und das macht es umso schwerer sie zu ertragen. Der
Weg zur Liebe ist ein Kampf für Georges.
Beasts of the Southern
Wild von Benh Zeitlin
Die Bewohner das Bathtubs haben sich zu einem kleinen
Festessen versammelt. Die Hitze des Raumes spiegelt sich in den
schweißgebadeten Gesichtern und überkochenden Temperamenten. Jemand will
Hushpuppy zeigen, wie sie einen Krebs mit Besteck essen kann. Der Vater sieht
das und er rastet aus. Er will das nicht, er will nicht, dass seine Tochter
Teil der Zivilisation wird. Er will, dass sie weiter im Bathtub bleibt. Er
zeigt ihr, wie man einen Krebs ganz ohne Besteck ausnimmt. Sie tut es ihrem Vater
gleich. Stolz und wild. Ihr Vater erzieht sie zu einem Sohn. Aber dieser Sohn
liebt ihn. Und Hushpuppy beginnt auf den Tisch zu springen und zu schreien. Ein
unschuldiges Kind.
Shame von Steve McQueen
Es regnet Gold beim nächsten Kick, den sich Brandon holen
muss, um seine Sucht nach sexueller Befriedigung beizukommen. Er hat sich zwei
Frauen bestellt und treibt sich mit ihnen nahe an die Bewusstlosigkeit.
Zunächst lässt man sich mit ihm fallen in die Verlockungen der golden
glänzenden Frauen, der sexuellen Verführung. Doch je länger man das Gesicht von
Brandon studiert, desto mehr sieht man die Abgründe hinter der Fassade. Von
einer Faszination und Begierde, von Lust und Freiheit verliert dieses Gesicht
seinen Ausdruck zunächst zu Anstrengung und Selbstbezogenheit, Schmerz und
Traurigkeit, bis es schließlich in einem völligem Kampf verkrampft, den es nur
noch verlieren kann. Und das Gold und die Frauen werden zu einer Ausweglosigkeit,
die Brandon erdrücken.
Gnade von Matthias
Glasner
Niels steht an der kleinen Erinnerungsstätte, dort wo seine
Frau ein Kind überfahren hat. Er und seine Frau haben es niemand erzählt.
Paradoxerweise haben sie dadurch wieder zu sich gefunden. Tag für Tag spielen
sie dieses Spiel. Sie begegnen den Eltern des Kindes. Sie leben eine Lüge und
finden dadurch zu ihrer eigenen Wahrheit. An diesem Tag kommt die Mutter des
Kindes zu der Stelle. Sie kennt Niels kaum. Niels umarmt sie in seiner
Verlorenheit und bekundet sein Bedauern. Alle Schuld, die er trägt wirft er
ausgerechnet an die Frau, gegenüber der er die Schuld mitträgt. Er hofft auf
eine Vergebung für die er noch viel weiter gehen muss.
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