Samstag, 22. Dezember 2012

Louis Malles Fahrstuhl zur Nouvelle Vague



Louis Malle


Für gewöhnlich wird der Beginn der Nouvelle Vague mit den ersten Filmen von Jean-Luc Godard („À bout de souffle“) oder Francois Truffaut (Les quatre cents Coups) datiert. Doch bereits 1957, zwei Jahre vor Truffaut und drei Jahre vor Godard kam ein Film von einem jungen Regisseur aus reichem Hause in die französischen Kinos, der der berühmten Filmbewegung des Landes so einiges vorwegnahm. Er wird nur deshalb nicht so prominent mit der Nouvelle Vague in Verbindung gebracht, weil Regisseur Louis Malle nicht der schreibenden Zunft, die sich um die Cahiers du Cinéma und deren Chefredakteur André Bazin gegründet hatte, angehörte. Vielmehr lernte er das Filmemachen von der praktischen Seite aus. Die Filmschule verließ er nach nur zwei Jahren, weil ihm der Stoff dort zu theoretisch war. Er arbeitete als Assistent für Robert Bresson bei „A condamné à mort s’est echappé“, führte Co-Regie bei der oscarprämierten Dokumentation „Le monde du silence“ und drehte dann seinen ersten Spielfilm: „Ascenseur pour l’échafaud“ (dt. „Fahrstuhl zum Schafott“). Ein Film, der beweist, dass die Überlegungen und Innovationen der Nouvelle Vague aus einer weit breiteren Krise hervorgingen, als den kritischen Überlegungen einiger Kinointellektueller und Cineasten in Paris.
 
Der amerikanische Einfluss


„Fahrstuhl zum Schafott“ ist in seinem Kern ein geschickt verwobenes Stück Film Noir. Eine Frau und ihr Liebhaber planen den Mord am Ehemann der Frau, einem reichen Geschäftsmann für den der Liebhaber arbeitet. Der ausgeklügelte Plan scheint aufzugehen, bis auf der Flucht des Liebhabers vom Tatort der Aufzug ohne Chance auf schnelle Rettung steckenbleibt. Der Film erzählt nun die Geschichte des Liebhabers, der versucht mit der Situation im Fahrstuhl zurecht zu kommen, die Geschichte der Frau, die auf ihren Liebhaber wartet und dann beginnt ihn zu suchen und an ihm zu zweifeln, und die Geschichte eines jungen Pärchens, das sich spontan das Auto des Liebhabers nimmt. In kontrastreichen schwarz/weiß Bildern fängt der Film eine Nacht voller Geschehnisse ein, die die Macht des Zufalls demonstrieren. Lasterhafte Figuren und ein Verbrechen, um das sich die pessimistische Handlung bewegt. Die Grundelemente des amerikanischen Noir-Genres sind da, nur dass es sich beim urbanen Raum nicht um Los Angeles handelt, sondern um Paris. Außerdem werden die unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, die so typisch für die schwarze Serie sind, in räumliche Ebenen verkehrt, weil die Handlung zwar in strenger Chronologie, aber eben an unterschiedlichen Schauplätzen abläuft. Der Clou ist, wie sich die Ereignisse an den unterschiedlichen Orten gegenseitig bedingen und wie ironische Zufälle schließlich einen Sog kreieren, aus dem sich kaum einer der Charaktere befreien kann. Ein weiterer deutlich spürbarer amerikanischer Einfluss liegt in der Musik, die von Miles Davis komponiert wurde. Die jazzigen Töne untermalen die depressive, melancholische Grundstimmung, die zwischen spannungsgeladenen Momenten immer wieder zum Vorschein kommt. Das Hollywood-Kino übte großen Einfluss auf die Nouvelle Vague aus. Der französische Film orientierte sich am amerikanischen Genrekino von Howard Hawks bis Nicholas Ray. Das war eines der Paradigmen der jungen Autoren der Cahiers du Cinéma: Eine größere Wertschätzung dessen, was lange als stupides Unterhaltungssystem herhalten musste. Sie erkannten die Möglichkeiten des persönlichen Ausdrucks innerhalb der Grenzen von Genres. 

Jean-Pierre Melville

In vielerlei Hinsicht gab es auch für diese Ansicht schon berühmte Vorbilder. Regisseur Jean-Pierre Melville ist ohne Übertreibung als völlig amerikanisiert zu bezeichnen. Seine dunklen Gangsterfilme handeln von kühlen Männern mit Hüten und Trenchcoats, sein Paris sieht aus wie LA oder New York, seine Charaktere heißen Bob oder Jeff Costello. Melville balanciert über seine gesamte Karriere hinweg zwischen der Huldigung eines klassischen Kinos und eines persönlichen Ausdrucks, der dem amerikanischer Genreregisseure um einiges näher stand. Er drehte nie einen amerikanischen Film, aber auch nie einen französischen. 1963 schickt er Jean-Paul Belmondo in  L’aîné des Ferchaux“ auf einen Road-Trip durch die Vereinigten Staaten und erfüllt sich damit wohl einen persönlichen Traum.  Die Nacht übt eine große Faszination aus auf die französischen Filmemacher. Die Nacht, in der die Außenseiter und Verbrecher die Bühne betreten, in der kein Platz für Emotionen ist, aber die meisten Emotionen zu Tage treten, die Nacht als Hort der gefährlichen Handlungen, als Ausdruck des Respekts vor dem amerikanischen Nachkriegskino im Vergleich zum eigenen Kino dieser Zeit.

Die Drifter





Louis und Véronique, so heißt das junge Paar in „Fahrstuhl zum Schafott“. Er setzt meist einen bewusst coolen Blick auf, trägt eine Lederjacke und lässt sich durch das Leben treiben und sich auf keinen Fall etwas vorschreiben. Sie hat relativ kurze Haare, ist bis in die pathetischsten Regionen emotional und hat in gleicher Weise Lust auf Abenteuer, als auch Lust auf ein normales Leben.  Sie führen noch nicht die allgemein gehaltenen, philosophischen Gespräche über das Leben und die Liebe, wie das die Paare bei Godard später häufig tun. Sie strahlen aber die gleiche Unabhängigkeit von jedweder filmischen Dramaturgie und gesellschaftlichen Regeln aus, wie jene Godard-Paare. Nachdem Louis sich spontan das Cabriolet nimmt, beginnen die beiden einen Road-Trip des Verbrechens im Stile von „Bonnie and Clyde“. Dabei handelt es sich eigentlich um die sympathischsten Charaktere des Films, sie führen nichts Böses im Schilde, stolpern nur von einem Verbrechen ins Nächste. Durch sie vermittelt Malle die ganze Unabhängigkeit seines filmischen Schaffens. Ihr Weg ist gewissermaßen der Weg des Schicksals für alle Figuren des Films. Er gehorcht noch deutlich mehr einer klassischen Dramaturgie, als Godard etwa in „Pierrot Le Fou“. Auch fehlt den beiden eine politische Motivation. Interessanterweise wurde Malle gerade diese Entpolitisierung negativ angerechnet. Den Mord, den sie verüben, verüben sie an einem proletenhaften Deutschen, der mit seinem Mercedes prahlt. Es klingen immer wieder poltische Töne an, aber es gibt keine Position, die man im Film ausmachen könnte. Auch bei Godard gibt es keine klaren, allgemeinen Positionen, aber seine Einwürfe wirken deutlich gezielter und aufgeklärter und er vermittelt durch sie eine persönliche Haltung zu den politischen Diskussionen. „Fahrstuhl zum Schafott“ ist auch in dieser Hinsicht eher als Zeitdokument zu verstehen, denn als ausgereiftes Werk. Er kombiniert verschiedene Elemente eines Kinos, das erst in den darauffolgenden Jahren zu seiner Perfektion (eine Perfektion, die ja zu großen Teilen aus einer gewissen Nicht-Perfektion besteht) gelangt und lebt hauptsächlich von einem äußerst intelligenten Drehbuch, einer fesselnden Stimmung und von einer großen europäischen Leading Lady im Moment ihres Durchbruchs.



Godard und die Frauen



Jeanne-Oder Jeanne geht durch die Nacht


Die Rede ist von Jeanne Moreau, die als Florence Carala im Film zu sehen ist. Sie garniert die oberflächlichen Genremotive des Films mit moralischer und melancholischer Tiefe. Dabei bewahrt sie eine äußerliche Festigkeit, die von einer zerbrechlichen Voice-Over Narration unterlaufen wird. Eine Frau, die wankt. Auf der Suche nach ihrem Liebhaber geht sie durch die städtische Nacht und versucht ihren Zweifel und ihre Angst zu verstecken. Sie ist eine Vorläuferin jener vielschichtigen Frauenfiguren, die in der Nouvelle Vague immer wieder zum Vorschein kommen; Malle macht sie zum einen zu einer klassischen Femme Fatale, zum anderen strahlt sie jene Freiheit von Klischees aus, die den üblichen blonden, hell ausgeleuchteten Pendants des amerikanischen Kinos häufig anhaftet. Außerdem erweitert sich ihre Rolle dahingehend, dass sie neben Polizisten Lino Ventura (who else?) zur Auflösung der Verwirrungen beiträgt. Immer wieder betrachtet sie sich in Spiegelungen. Sie hat nicht vor ihre Würde in dieser Nacht zu verlieren. Da ihr (ermordeter) Gatte ein reicher Mann ist, versucht sie diesen Reichtum auch in den niedersten Situationen weiter auszustrahlen. Ihr Konflikt ist ein innerer. Es ist schwer sie zu lesen, aber daraus zieht Jeanne Moreau ihre gesamte Faszination und Präsenz. Eine Darstellerin, die wie gemacht war für eine neue Art Kino, das sich mit dem zum Teil abgestorbenen Innenleben seiner Charaktere beschäftigen wollte. Einige Jahre später spielt sie bei Michelangelo Antonioni in „La notte“. Dort ist die Liebe, an der sie zweifelt gar nicht mehr vorhanden, das Verbrechen gibt es nicht mehr. Antonioni lässt das Innenleben völlig regieren. Ihre visuell ansprechenden Wege, die in den Straßen der Nacht von Kameramann Henri Decaë mit natürlichem Licht gedreht wurden, sind eines der poetischen Highlights des Films. 

La notte von Michelangelo Antonioni
 

Sicherlich ist „Fahrstuhl zum Schafott“ kein absolutes Meisterwerk, aber es ist ein wichtiges Werk auf dem Weg des Kinos in eine neue Zeit und eines jungen Regisseurs auf dem Weg zu sich selbst.



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