Louis Malle |
Für gewöhnlich wird der Beginn der Nouvelle Vague mit den
ersten Filmen von Jean-Luc Godard („À bout de souffle“) oder Francois Truffaut
(Les quatre cents Coups) datiert. Doch bereits 1957, zwei Jahre vor Truffaut
und drei Jahre vor Godard kam ein Film von einem jungen Regisseur aus reichem
Hause in die französischen Kinos, der der berühmten Filmbewegung des Landes so
einiges vorwegnahm. Er wird nur deshalb nicht so prominent mit der Nouvelle
Vague in Verbindung gebracht, weil Regisseur Louis Malle nicht der schreibenden
Zunft, die sich um die Cahiers du Cinéma und deren Chefredakteur André Bazin
gegründet hatte, angehörte. Vielmehr lernte er das Filmemachen von der
praktischen Seite aus. Die Filmschule verließ er nach nur zwei Jahren, weil ihm
der Stoff dort zu theoretisch war. Er arbeitete als Assistent für Robert
Bresson bei „A condamné à mort s’est echappé“, führte Co-Regie bei der
oscarprämierten Dokumentation „Le monde du silence“ und drehte dann seinen
ersten Spielfilm: „Ascenseur pour l’échafaud“ (dt. „Fahrstuhl zum Schafott“).
Ein Film, der beweist, dass die Überlegungen und Innovationen der Nouvelle
Vague aus einer weit breiteren Krise hervorgingen, als den kritischen
Überlegungen einiger Kinointellektueller und Cineasten in Paris.
Der amerikanische Einfluss
„Fahrstuhl zum Schafott“ ist in seinem Kern ein geschickt
verwobenes Stück Film Noir. Eine Frau und ihr Liebhaber planen den Mord am
Ehemann der Frau, einem reichen Geschäftsmann für den der Liebhaber arbeitet.
Der ausgeklügelte Plan scheint aufzugehen, bis auf der Flucht des Liebhabers
vom Tatort der Aufzug ohne Chance auf schnelle Rettung steckenbleibt. Der Film
erzählt nun die Geschichte des Liebhabers, der versucht mit der Situation im
Fahrstuhl zurecht zu kommen, die Geschichte der Frau, die auf ihren Liebhaber
wartet und dann beginnt ihn zu suchen und an ihm zu zweifeln, und die
Geschichte eines jungen Pärchens, das sich spontan das Auto des Liebhabers
nimmt. In kontrastreichen schwarz/weiß Bildern fängt der Film eine Nacht voller
Geschehnisse ein, die die Macht des Zufalls demonstrieren. Lasterhafte Figuren
und ein Verbrechen, um das sich die pessimistische Handlung bewegt. Die
Grundelemente des amerikanischen Noir-Genres sind da, nur dass es sich beim
urbanen Raum nicht um Los Angeles handelt, sondern um Paris. Außerdem werden
die unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, die so typisch für die schwarze Serie
sind, in räumliche Ebenen verkehrt, weil die Handlung zwar in strenger
Chronologie, aber eben an unterschiedlichen Schauplätzen abläuft. Der Clou ist,
wie sich die Ereignisse an den unterschiedlichen Orten gegenseitig bedingen und
wie ironische Zufälle schließlich einen Sog kreieren, aus dem sich kaum einer
der Charaktere befreien kann. Ein weiterer deutlich spürbarer amerikanischer
Einfluss liegt in der Musik, die von Miles Davis komponiert wurde. Die jazzigen
Töne untermalen die depressive, melancholische Grundstimmung, die zwischen
spannungsgeladenen Momenten immer wieder zum Vorschein kommt. Das
Hollywood-Kino übte großen Einfluss auf die Nouvelle Vague aus. Der
französische Film orientierte sich am amerikanischen Genrekino von Howard Hawks
bis Nicholas Ray. Das war eines der Paradigmen der jungen Autoren der Cahiers
du Cinéma: Eine größere Wertschätzung dessen, was lange als stupides
Unterhaltungssystem herhalten musste. Sie erkannten die Möglichkeiten des
persönlichen Ausdrucks innerhalb der Grenzen von Genres.
Jean-Pierre Melville |
In vielerlei Hinsicht
gab es auch für diese Ansicht schon berühmte Vorbilder. Regisseur Jean-Pierre
Melville ist ohne Übertreibung als völlig amerikanisiert zu bezeichnen. Seine
dunklen Gangsterfilme handeln von kühlen Männern mit Hüten und Trenchcoats,
sein Paris sieht aus wie LA oder New York, seine Charaktere heißen Bob oder
Jeff Costello. Melville balanciert über seine gesamte Karriere hinweg zwischen
der Huldigung eines klassischen Kinos und eines persönlichen Ausdrucks, der dem
amerikanischer Genreregisseure um einiges näher stand. Er drehte nie einen
amerikanischen Film, aber auch nie einen französischen. 1963 schickt er
Jean-Paul Belmondo in „L’aîné des Ferchaux“ auf einen Road-Trip
durch die Vereinigten Staaten und erfüllt sich damit wohl einen persönlichen
Traum. Die Nacht übt eine große
Faszination aus auf die französischen Filmemacher. Die Nacht, in der die
Außenseiter und Verbrecher die Bühne betreten, in der kein Platz für Emotionen
ist, aber die meisten Emotionen zu Tage treten, die Nacht als Hort der
gefährlichen Handlungen, als Ausdruck des Respekts vor dem amerikanischen
Nachkriegskino im Vergleich zum eigenen Kino dieser Zeit.
Die Drifter
Louis und Véronique, so heißt das junge Paar in „Fahrstuhl
zum Schafott“. Er setzt meist einen bewusst coolen Blick auf, trägt eine
Lederjacke und lässt sich durch das Leben treiben und sich auf keinen Fall
etwas vorschreiben. Sie hat relativ kurze Haare, ist bis in die pathetischsten Regionen
emotional und hat in gleicher Weise Lust auf Abenteuer, als auch Lust auf ein
normales Leben. Sie führen noch nicht
die allgemein gehaltenen, philosophischen Gespräche über das Leben und die
Liebe, wie das die Paare bei Godard später häufig tun. Sie strahlen aber die
gleiche Unabhängigkeit von jedweder filmischen Dramaturgie und
gesellschaftlichen Regeln aus, wie jene Godard-Paare. Nachdem Louis sich
spontan das Cabriolet nimmt, beginnen die beiden einen Road-Trip des
Verbrechens im Stile von „Bonnie and Clyde“. Dabei handelt es sich eigentlich
um die sympathischsten Charaktere des Films, sie führen nichts Böses im Schilde,
stolpern nur von einem Verbrechen ins Nächste. Durch sie vermittelt Malle die
ganze Unabhängigkeit seines filmischen Schaffens. Ihr Weg ist gewissermaßen der
Weg des Schicksals für alle Figuren des Films. Er gehorcht noch deutlich mehr
einer klassischen Dramaturgie, als Godard etwa in „Pierrot Le Fou“. Auch fehlt
den beiden eine politische Motivation. Interessanterweise wurde Malle gerade
diese Entpolitisierung negativ angerechnet. Den Mord, den sie verüben, verüben
sie an einem proletenhaften Deutschen, der mit seinem Mercedes prahlt. Es
klingen immer wieder poltische Töne an, aber es gibt keine Position, die man im
Film ausmachen könnte. Auch bei Godard gibt es keine klaren, allgemeinen
Positionen, aber seine Einwürfe wirken deutlich gezielter und aufgeklärter und
er vermittelt durch sie eine persönliche Haltung zu den politischen
Diskussionen. „Fahrstuhl zum Schafott“ ist auch in dieser Hinsicht eher als
Zeitdokument zu verstehen, denn als ausgereiftes Werk. Er kombiniert
verschiedene Elemente eines Kinos, das erst in den darauffolgenden Jahren zu
seiner Perfektion (eine Perfektion, die ja zu großen Teilen aus einer gewissen
Nicht-Perfektion besteht) gelangt und lebt hauptsächlich von einem äußerst
intelligenten Drehbuch, einer fesselnden Stimmung und von einer großen
europäischen Leading Lady im Moment ihres Durchbruchs.
Godard und die Frauen |
Jeanne-Oder Jeanne geht durch die Nacht
La notte von Michelangelo Antonioni |
Sicherlich ist „Fahrstuhl zum Schafott“ kein absolutes
Meisterwerk, aber es ist ein wichtiges Werk auf dem Weg des Kinos in eine neue
Zeit und eines jungen Regisseurs auf dem Weg zu sich selbst.
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