Grausamkeiten und Gräueltaten des „echten“
Lebens bieten sich immer wieder für Verfilmungen an. Schließlich gelingt es
keinem Medium besser unsere Schaulust zu befriedigen, uns unerklärliche Dinge
plausibel erscheinen zu lassen und Unterhaltung aus Brutalität zu ziehen.
Zuseher, die Filme dann auf moralischen Standards verurteilen, lauern dann
hinter sämtlichen Ecken und unterscheiden nicht zwischen Ironie, Psychologie,
Philosophie, Sozialkritik und billigen Gewalt für Gewalt Filmen. Alles wird als
Provokation verstanden. In À perdre la raison von Joachim Lafosse bleibt dieser
pseudo-moralische Aufschrei aus und das obwohl der Film auf einer Begebenheit
basiert, deren Notwendigkeit zur Verfilmung durchaus fragwürdig erscheint. Eine
Mutter in Belgien hat- unter dem Druck ihres familiären Umfelds leidend- ihre 4
Kinder getötet. Und dass dieser Aufschrei ausbleibt, zeigt die Schwäche des
Films an vielen Stellen. Mangelnde Geduld in der Beobachtung, eine
Rechercheartig-zusammengewebter-Plot und das Drücken einer unerklärlichen
Geschichte in eine klassische Dramaturgie.
Dabei sind die Voraussetzungen nicht
schlecht. Mit Niels Arestrup und Tahar Rahim spielt das Duo aus dem
fantastischen „Un prophet“ von Jacques Audiard in einer (dreist kopierten)
Konstellation, die ihre Stärken wieder zum Vorschein bringt. In den Schatten
gestellt werden sie aber von einer umwerfenden Émilie Dequenne, die den langsamen
Verlust des Verstandes mit ungeheurer Wucht zu spielen weiß. Sobald Lafosse
sich Zeit nimmt seinen Charakteren zuzusehen, sobald er sich scheinbare
Erklärungen spart, zeigt sich die Stärke dieses Films. In einer herausragenden
Szene bleibt die Kamera lange auf dem Profil der Mutter. Sie fährt mit dem Auto
und beginnt zu einem Lied im Radio zu singen. Während sie singt bricht sie in
Tränen aus. Warum? Sie weint fürchterlich und bleibt stehen. Warum? Immer
wieder diese Frage. Denkt man an Filme wie „Elephant“ von Gus van Sant oder „71
Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ von Michael Haneke, sieht man die
Bescheidenheit mit der große Autoren an dieses Thema herangehen. Van Sant
bietet unterschiedliche Gründe an und Haneke eigentlich keinen Grund. Dadurch
bleibt es dem Zuseher selbst überlassen die Gründe zu suchen. Diese Autoren
zeigen nur, erklären nicht. Ohne die Psychologie zu überspitzen, versucht
Lafosse dagegen eine Abgeschlossenheit aufzubauen. Seine Geschichte ist eine
Geschichte der Ausweglosigkeit, weil von der ersten Szene an klar ist, was
passieren wird. Weil seine Dramaturgie ein einziger Fall in den Wahnsinn ist
und keinen Spielraum zulässt. Dieser fehlende Spielraum zeigt sich bis hinein
in die immer gleichen Kameraschwenks von unten nach oben und dem ständigen
Anschneiden diverser Gegenstände im Vordergrund. Man mag entgegenhalten, dass „À
perdre la raison“ mit der Marokko-Episode durchaus eine Fluchtmöglichkeit, eine
Alternative anbietet. Allerdings wirkt diese Episode von Anfang an als Mittel,
um der Mutter ihrer letzten Hoffnung zu berauben.
Störend auch die Geschwindigkeit der
Erzählung in der ersten Hälfte des Films. Man kommt kaum zum Atmen, weil der
Film versucht in kürzester Zeit ein gesamtes Familienleben zu zeigen.
Eigentlich ist die erste Stunde des Films eine einzige Montagesequenz, die
wirkt, als hätte man alle Ergebnisse einer Recherche in den Film bringen
wollen. Immer wieder versucht Lafosse mit signifikanten Szenen, die er
herausnimmt, ein exemplarisches Bild von der aktuellen Situation zu zeichnen.
Er zeigt wie ein neues Kind geboren wird, wie die Eltern zum ersten Mal
streiten und schon der nächste Sprung. Das nächste Kind und der nächste Streit.
Man merkt dem Film einfach zu sehr seine Konstruktion an und daher auch kein
moralischer Aufschrei. Das gezeigte wird mit zu viel Respekt behandelt, das
Thema ist/war zu sensibel zum Zeitpunkt der Verfilmung. Vieles hat man sich
einfach nicht trauen können. Vielleicht hätte man noch einige Jahre warten
sollen oder es mehr entfremden sollen oder mutiger sein sollen. Am Ende steht
kein schlechter Film, der aber zum Themenfilm verkommt, der gerne eine
psychologische Studie wäre und ein Stück vom Realitätskuchen erhaschen wollte,
aber nur durch sein beeindruckendes Schauspiel an Wert gewinnt.
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