Der neue Beitrag zum Thema wortlose Sequenzen beschäftigt sich mit „Raging Bull“ von Martin Scorsese. Die wortlose Sequenz ist in diesem Fall die berühmte Titelsequenz. In ihrem Zentrum steht vor allem die Musik: Es ist das Intermezzo der Oper „Cavalleria Rusticana“ von Giovanni Verga, welche auch in „The Godfather Part 3“ prominent verwendet wird.
Die Sequenz dauert mitsamt den Produzentenlogos 2 Minuten und 53 Sekunden. Sie besteht aus einer Einstellung und zeigt den Boxer Jake La
Motta (gespielt von Robert De Niro) in Vorbereitung auf einen Kampf durch den
Ring tänzeln und sich aufwärmen. Er trägt einen extravaganten Mantel mit
Leopardenmuster und wirkt fast wie ein Tänzer. Die Sequenz läuft in Zeitlupe ab
und ist-wie der gesamte Film von 1980- in körnigen Schwarz/Weiß Bildern
gehalten. Unmittelbar nach dieser Sequenz sehen wir den alten Jake La Motta. Das
Gegenteil, wenn man so möchte: Dick, schwerfällig und philosophierend. „Raging
Bull“ markiert gewissermaßen den Höhepunkt des Schaffens von Martin Scorsese.
Hier trifft sich seine amerikanisch-italienische, temporeiche Direktheit mit
seinen existentialistischen Ideen; seine kinematographische Power mit seinem
cineastischen Mut. Hier war Scorsese der Filmemacher, der er immer hätte sein
sollen.
Die Ästhetik
Augenscheinlich ist das Schwarz und Weiß. Bis heute entstehen
immer wieder Filme in Schwarz und Weiß, meistens wird das dann als Hommage an
eine Zeit oder einen Stil verstanden; so rechtfertigt sich Anton Corbijn zu
seinem Film „Control“ wie folgt: „ Es gibt praktisch nur schwarz/weiß Fotos von
Joy Division.“, Haneke sieht die Zeit nach dem ersten Weltkrieg auch in
schwarz/weiß und die Coen-Brüder finden, dass ein Film Noir eben in Schwarz und
Weiß gehört. Natürlich (nur ein Nebeneffekt selbstverständlich) sieht das auch
ziemlich gut aus. Ähnlich verhält es sich bei Scorsese und seinem Kameramann
Michael Chapman. Allerdings hatte Jake La Motta in seiner Autobiografie, auf
die sich der Film logischerweise stützt bereits bemerkt, dass er sich an sein
Leben erinnere, wie an einen Schwarzweißfilm. Bedenkt man, dass um 1980
Sylvester Stallone mit Rocky das Boxerfilm-Genre beherrschte, kann man die
Entscheidung von Scorsese für diese Ästhetik dennoch als mutig ansehen; sie
gibt dem Film bis heute etwas klassisches, etwas hollywoodartiges. Die Zeitlupe
wird meistens zur Erhöhung von Charakteren benutzt. Auch hier hat sie diesen
Effekt, aber irgendwie hat sich auch etwas von „nicht vom Fleck kommen.“; es
ist trotzdem die Ästhetik und Schönheit des Boxsports, die Scorsese zeigt.
Die Körperlichkeit und Erhöhung der Sportler. Immer wieder schießt ein
Blitzlicht aus der tobenden Menge. Dem ganzen haftet etwas Traumartiges bei.
Mit einer einzigen Einstellung etabliert Scorsese die Ästhetik des Films, die
Ästhetik seines Charakters und seines Berufes. Mehr noch lässt er eine
tragische Komponente mitschwingen, etwas Schicksalhaftes. Die ganze Sequenz
wirkt wie die Vergangenheit, wie etwas Vergessenes. Nebenbei läuft eine
völlig gewöhnliche Titelsequenz. Die Ästhetik kommt auch vom
Schauspiel; diese Körperlichkeit und Leichtigkeit. Und dann senkt De Niro doch
wieder den Kopf und wirkt schwer. Besessenheit, Schuld, Gewalt und Freude.
Alles ist spürbar in den tänzelnden Schritten, die nicht nur dieser Sequenz,
sondern auch dem Boxsport seine Ästhetik verleihen.
Das Gefängnis
Die ganze Sequenz über wird das Bild von der Ringbegrenzung
quer durchdrungen. Wir haben keinen freien Blick auf den Protagonisten. Einmal
kommt er auf uns zu, es wirkt fast, als wäre es ihm möglich das Gefängnis des
Bildes zu überwinden, aber dann dreht er doch wieder um. Man kann den
Bildausschnitt als Metapher für die folgende Handlung des Filmes verstehen. Das
innere Gefängnis des tragischen Helden Jake La Motta, wenn man so möchte. Der
Titel „Raging Bull“ passt hier natürlich auch. Wie ein wilder Stier bewegt sich
La Motta durch den Ring. Auf und ab. Aber er ist nicht frei. Eigentlich will La
Motta verstanden werden. Aber da ist eine Grenze zwischen ihm und seiner Umwelt.
Er ist mehr ein Ausstellungsobjekt, denn der Mensch, der er eigentlich sein
möchte. Die metaphorische Behandlung des Filmtitels in der Eröffnungsszene ist
ein beliebtes Stilmittel. Derzeit ist sie zum Beispiel bei Walter Salles in
seiner Romanverfilmung „On the road“ zu sehen. Man sieht ein paar Füße über
verschiedenartige Wege gehen. Dann stellt sich natürlich auch die Frage nach
unserer eigenen Unfreiheit als Zuseher. Diese blinden, tobenden Menschenmassen,
die La Motta eben nicht verstehen wollen und können; das Blitzlicht und das
blinde Folgen dieses Helden. Denn darum geht es Scorsese auch: Die Verklärung
eines Sportlers ins Heldentum. Der Druck, der damit einhergeht. Wo sich Sport
und Film treffen, trieft es normalerweise vor Pathos. Scorsese kommentiert dieses
Pathos in seiner Eröffnungssequenz. Ab der folgenden Szene ist davon kaum etwas
zu spüren.
Die Oper
L'eclisse Eröffnungsszene |
Die Szene ist gewissermaßen als Prolog zu verstehen. Die Wahl
der Musik ist nicht zufällig. In „Cavalleria Rusticana“ geht es um Verrat,
Glauben, Leidenschaften und den Fall eines Menschen. Sie wirkt herausgehoben,
eben weil sie sich nur auf die Musik und die Bilder verlässt und nicht auf
Worte. Auch Opern haben gewöhnlich einen Prolog. Dieses Stilmittel gibt dem
ganzen Film also etwas opernhaftes. Man fühlt das Schicksal, ohne dass ein Wort
gesprochen wurde. Die Musik übernimmt die Emotion und trägt die Bilder, die sie
mit der Zeitlupenästhetik und dem stickigen Rauch zu untermalen scheinen.
Solche Prologe gibt es natürlich häufiger in der Filmgeschichte. Streng
genommen sind alle Titelsequenzen, die nur mit Musik untermalt sind als
Äquivalent zu einem Prolog zu verstehen. Man kann ein konträres Gefühl
installieren, wie Michelangelo Antonioni in „L’eclisse“ als er Mina den „L’eclisse
Twist“ singen lässt, ein unheimlich fröhliches und befreiendes Lied, völlig
entgegengesetzt der Eröffnungsszene und Thematik des Films. Sehr ähnlich zur
Ästhetik von Scorsese verhalten sich erstaunlicherweise Lars von Triers letzte
Arbeiten. Zum Beispiel in „Antichrist“ oder „Melancholia“ gibt es einen Prolog,
der jeweils mit Opernmusik von Richard Wagner untermalt wird. Auch von Trier
verwendet die Zeitlupe als Stilmittel der absoluten Erhöhung. Präsentiert er in
„Antichrist“ damit aber den Auslöser der Geschichte, zeigt er in „Melancholia“
praktisch den gesamten folgenden Handlungsablauf in überstilisierten Bildern.
Solche Sequenzen vor die eigentliche Handlung zu stellen, offenbart die Tendenz
des Regisseurs als Geschichtenerzähler. Sie ermöglichen es dem Zuseher in die
richtige Stimmung zu kommen oder eben genau das nicht. Paradoxerweise wirken
sie dem folgenden Film nie fremd; sie stellen eine Tür oder ein freundliches
Schild dar, welches zum Eintritt in den Film auffordert. Schön, wenn man dabei
schon so viele essentielle Informationen transportieren kann, wie Martin
Scorsese in „Raging Bull“.
Weiter wird es gehen mit „Professione:reporter“ von
Michelangelo Antonioni
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