Das Kinojahr 2012 hat im dritten Quartal schon mal ordentlich
angezogen und es bleibt zu hoffen, dass das alles entscheidende vierte Quartal
das Jahr von einem durchschnittlichen Niveau auf ein gutes Niveau hievt.
Once upon a time in Anatolia bleibt der unangefochtene
Spitzenreiter, der in Deutschland bzw. Österreich neugestarteten Filme des
Jahres. Bei Nuri Bilge Ceylan spielen sich die entscheidenden Regungen und
Gefühle jenseits des Inhalts und oft auch jenseits des Bildes ab. Seine klar
von Michelangelo Antonioni und Andrei Tarkowski inspirierten Bilder samt oft
autonomer Kameraführung, sein Gefühl für Gesichter, die Ruhe und Kraft seiner
Bilder machen dieses Drama zu einem herausragenden Werk der Filmkunst. Dabei
findet er selbst unter den trockensten Steppen Anatoliens noch eine Prise Humor
über den die Charaktere selbst nicht wissen, ob er zum Lachen ist oder zum
Weinen. Das Schauspiel wirkt trotz der übermächtigen, trostlosen Umgebung so
tief, dass man fast von einem Ensemble-Drama sprechen muss. Ceylan beweist auch
das Metaphorik durchaus ins Kino gehören kann. In einer langen Sequenz verfolgt
er einen Apfel, der in einen Bach kullert und sich dort vom Wasser mitreißen
lässt bis er an einer Engstelle, an der schon viele verfaulte Äpfel warten,
hängenbleibt.
Die Premiere von Ceylans Kriminal-Meditation war in Cannes
2011. Der Sieger der goldenen Palme von Cannes 2012, Michael Hanekes Liebe läuft nun auch seit einiger Zeit
in den deutschen Kinos.
Dabei behandelt er gewissermaßen ein Tabuthema, nämlich
alte Menschen und das Sterben. Allerdings ist dieses Thema in den letzten Jahren
doch vermehrt in Kinofilmen zum Gegenstand geworden, (erinnert sei
beispielsweise an Wolke 9 von Andreas
Dresen oder Away from her von Sarah
Polley ) sodass man dem österreichischen Regisseur wohl kaum ein übergroßes
Wagnis bei der Themenwahl bescheinigen könnte. Insbesondere, wenn man an das
Zielpublikum der kleinen Kinos denkt. Da ist es eigentlich nur konsequent sich
mit älteren Menschen zu beschäftigen. Die Unerbittlichkeit und Präzision eines
Michael Haneke wurde allerdings nie zuvor erreicht. Man kann zeigen, wie eine
Windel gewechselt wird oder man kann-wie Michael Haneke- beobachten wie eine
Windel gewechselt wird und dabei die Dauer des Vorgangs zum Gegenstand seines
Inhalts machen, denn erst durch die Dauer wird die Last und die
Unerträglichkeit und gleichzeitig die Zärtlichkeit dieses Vorgangs bewusst. Das
besondere an Liebe ist, dass die oft
als „kühl“ verschriene Länge und Distanz der Einstellungen von Michael Haneke
in diesem Fall sowohl eine Distanz des Zusehers zulässt und eine Reflektion,
aber gleichzeitig auch eine emotionale Gewalt, die einen körperlich involviert.
Diese Menschlichkeit wird nicht durch Sentimentalitäten erreicht, sondern durch
Ambivalenz und Authentizität innerhalb der Charaktere. Es sind die Szenen, die
scheinbar gar nichts bedeuten, wie das in der Nachbetrachtung herzzerreißende
Bild von Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in der Straßenbahn nach dem
Besuch eines Klavierkonzertes. Als kalkuliertes Wagnis sind die poetischen
Szenen mit einer Taube und einige Traumsequenzen zu bezeichnen, die den
Realismus unterbrechen und dadurch umso wirksamer erscheinen lassen. Jacques
Audiard hatte dieses Stilmittel in Un
prophete perfektioniert, wogegen Haneke damit schlicht und ergreifend noch
tiefer in seine Charaktere eindringt. Und das ohne ihnen jemals zu nahe zu
kommen.
Denn wo ist der Punkt, an dem Menschenwürde aufhört existent
zu sein? Eine Frage mit der sich Liebe genauso
beschäftigt, wie sich das Kino selbst damit beschäftigen muss. Menschenwürde,
die auch in Shame von Steve McQueen
ein Thema ist. In diesem Fall ist das „Tabuthema“ Sexsucht. (ein Wort, so tabu,
dass es das Rechtschreibprogramm als Fehler markiert.) Ein Film, der durch die
ungeheure Stilsicherheit seiner Bilder überzeugt. Hier ist alles aus einem
Guss, die Kamerabewegungen, die Farben des Szenenbilds, die Musik. Der einzige
Fremdkörper ist derjenige, der eigentlich wie gemahlen zu sein scheint für
diese Welt, für dieses New York: Brandon, gespielt von Michael Fassbender. Er
lässt sich treiben von einer Affäre in die Nächste und dabei geht es nur um
einen Kick, obwohl er schon lange nichts mehr spürt. Wenn die entscheidenden
Momente bei Once upon a time in Anatolia zwischen
den Bildern liegen, so liegen sie in Shame
direkt in den Gesichtszügen von Michael Fassbender. Dieses Abfallen der
Lebenslust, diese Leere brennt sich in die Köpfe der Zuseher, sodass es einen
Monate nachdem man den Film sehen konnte, noch kalt den Rücken runter läuft.
Neben Haneke machte im Jahrgang 2012 in Cannes vor allem Leos
Carax auf sich aufmerksam. Sein Film Holy
Motors ist ein wilder, absurder, gesellschaftskritischer Trip durch unsere
(?) Gesellschaft. Man fühlt sich ein wenig wie der Zeuge des Wahnsinns. Doch
dann holt einen der Film ein und man weiß nicht mehr wie einem geschieht.
Sozialdrama und Fantasy-Epos in einem Film, tieftraurig und schreiend komisch,
aber immer bizarr. Vor allem scheint dieser Trip ein Trip in die Freude am Kino
zu sein. Carax bewegt sich wie ein Tier durch das Kino, er schleicht um die
Sitze und wartet darauf uns genau das zu geben, was wir nicht erwarten. Ein
Schauspieler lässt sich mit einer Limousine durch die Stadt fahren und spielt
viele unterschiedliche Rollen innerhalb des Tages. Wie viele Personen muss man
sein, um zu funktionieren? Und funktioniert man dann noch? Holy Motors ist ein Film, der unter seiner absurden Oberfläche
philosophische Tiefen versteckt und der die sinnlosen Grenzen des narrativen
Kinos offenlegt, um zu zeigen, was eigentlich auch möglich ist. Damit ist er
sowohl eine Hommage an ein altes Kino, als auch ein Fingerzeig für ein neues
Kino.
Deutlich bescheidener kommt da schon Martha Marcy May Marlene von Sean Durkin daher. Aber in einem
gewissen Understatement und der Ruhe des Films liegt seine Stärke. Martha,
gespielt von einer grandiosen Elizabeth Olsen gerät in den Bann einer
merkwürdigen Sekte, um Anführer Patrick. (noch grandioser: John Hawkes) Kaum
merklich verschwimmen die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Glück
und Unglück und schließlich auch immer mehr zwischen Realität und Imagination.
Dieses Gefühl greift über die Leinwand hinaus und gibt dem Zuseher im Kino ein
Gefühl des Unwohlseins, welches man noch lange nach dem Ende des Films mit sich
trägt.
Das gegenteilige Gefühl, nämlich das Gefühl des unendlichen
Hypes begleitet normalerweise die Minuten nach dem Ende eines Christopher Nolan
Films. Viel anders gestaltet sich das auch nicht mit dem Ende der
Batman-Trilogie The Dark Knight Rises.
Kritisch könnte man bemerken, dass Nolan trotz seiner unbestrittenen
Fähigkeiten als Filmemacher auch mit dem dritten Teil nicht über gewöhnliche
Blockbuster-Klischees hinwegspringen kann. So scheint er das Ende des Films um
einige Minuten zu verpassen, den Actionanteil um einige Minuten zu überziehen
und einige viele Male zu wenig Luft zu holen. Dennoch ist Christopher Nolan DER
Blockbuster-Regisseur unserer Zeit, wenn man so möchte der Steven Spielberg
seiner Generation. Im Gegensatz zu praktisch jedem anderen Superheldenfilm
schafft Nolan eine kongruente Welt und verbindet einen akzeptablen Teil an
Anspruch mit gut gemachter Unterhaltung. Besonders sein spürbares Augenmerk auf
das Schaffen einer abgeschlossenen Trilogie muss ihm hoch angerechnet werden,
insbesondere da wohl ca. ein Drittel der Zuseher Batman Begins nicht gesehen haben dürfte. Wer aber alle drei Teile gesehen
hat und sich unkritisch auf die Welt einlassen kann, der hat ein Kinospektakel
erlebt, dass sich nicht hinter den größten Mehrteilern der Geschichte zu
verstecken braucht.
Technische Brillanz gibt es auch in Hugo von Martin Scorsese zu sehen. Jenseits der bestechenden
3D-Bilder, ist der Film (und deshalb funktioniert er auch so gut; völlig
unabhängig von der Technik) ein Kinderfilm, der die Herzen von Erwachsenen
höher schlagen lässt: „Der Film, den jeder gerne als Kind gesehen hätte.“ Diese
Feststellung meint wohl so viel wie: „Der Film, der jeden wieder zum Kind
werden lässt.“ Die Verbindung von Modernität und Klassik sowohl zum Thema des
Films, als auch zum Thema seiner Form, als auch zum Thema der Filme im Film zu
machen, ist ein großartiger Schritt eines Regisseurs, der vielleicht nicht mehr
die ganz großen Wagnisse eingeht, aber dennoch weit davon entfernt ist
einzurosten.
Zurück zu den Regungen und Gefühlen von Once upon a time in Anatolia. Diese spielen sich auch deshalb oft
jenseits des Bildes ab, weil die Charaktere versuchen sie zu verstecken. Dieses
Thema taucht in bemerkenswert vielen Filmen des Jahres 2012 auf: Die
verdrängten und versteckten Gefühle. Brandon lässt sie in Shame höchst selten aus sich heraus, trotz seiner erdrückenden
Einsamkeit. Der fürsorgliche Ehemann in Liebe
tut einfach seine Pflicht. Damit schützt er sich vor der eigenen
Verzweiflung, ob der Resignation seiner Frau. In Was bleibt von Hans-Christian Schmid zeigt die Figur des Lars
Eidinger seine Gefühle nicht vor anderen, selbst in einem Blockbuster wie The
Dark Knight Rises muss die Hauptfigur Bruce Wayne seine wahren Emotionen
vor seinem Butler Alfred verstecken. Aber was, wenn es gar keine Gefühle zu
geben scheint, wie in Drive von
Nicolas Winding Refn? Ein emotional abgestorbener Machotraum, der sezierend und
gewalttätig seine Liebe zu seiner Nachbarin ausdrückt. Eine Mischung aus purem
Trash und Kunstfilm, die zum Kultfilm avanciert.
Kult ist auch Woody Allen. Mit seinem To Rome with love erreicht er allerdings nu rein laues Niveau. Die
Dokumentation Woody-A Documentary von
Robert B. Weide macht das auch nicht viel besser. Ganz nett, ganz unterhaltsam,
aber zum Kern des Menschen oder Regisseurs Woody Allen dringt man darin nicht
vor. Genauso wenig tut man das bei Polanski-
A Film Memoir, ein teilweise wahnsinnig gestellt wirkendes Interview mit
dem polnischen Regisseur, das sich mit dessen außergewöhnlichen Leben und
Schaffen beschäftigt. Trotzdem ist es eine gute Tendenz, dass solche
Dokumentationen in die Kinos kommen. (wenn auch aus dem Internet gestreamed,
wie bei der Vorführung in Augsburg.)
Hier mal die völlig subjektive Top15 2012 so far:
1. Once Upon a Time in Anatolia (Nuri Bilge Ceylan)
2. Liebe (Michael Haneke)
3. Shame (Steve
McQueen)
4. Holy Motors (Leos Carax)
5. Martha Marcy May Marlene (Sean Durkin)
6. The Dark Knight Rises (Christopher Nolan)
7. Hugo Cabret (Martin Scorsese)
8. Drive (Nicolas Winding Refn)
9. Monsieur Lazhar
(Philippe Falardeau)
10.
Stillleben (Sebastian Meise)
11. Young Adult (Jason Reitman)
12. Moonrise Kingdom
(Wes Anderson)
13. Was bleibt (Hans-Christian Schmid)
14. On the road (Walter Salles)
15. Barbara (Christian Petzold)
Die größte
Enttäuschung des Jahres bleibt für mich bislang der hochgelobte Oscargewinner The Artist.
In den
nächsten Wochen gibt es aber einiges, auf das man sich freuen kann:
Die Wand
Gnade
Miss Bala
Ha-shoter
Skyfall
Argo
Pieta
Cloud Atlas
Killing Them Softly
Dans la maison
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