Alles ist möglich. Ein Film, wie die
Schachtel Pralinen von Forrest Gump, der durch einen scheinbar unsichtbaren
roten Faden, der nur auf der interpretatorischen Ebene zu existieren scheint,
zusammengehalten wird. Bei Leos Carax regiert die völlige dramaturgische
Freiheit. Seine Bilderströme sind assoziativ, seine Inszenierung ist eine
Wundertüte. Holy Motors ist ein Film,
der das Kino verehrt und gleichzeitig verurteilt. Die wilden, selbstreflexiven
Sprünge, die sich der Film praktisch im Minutentakt erlaubt mögen für den ein
oder anderen Zuseher zu viel des Guten sein, aber der in Cannes gefeierte Film
des 51jährigen Franzosen ist einer der bedeutendsten Filme des Jahres. Insbesondere,
weil es diesen roten Faden tatsächlich gibt.
Ähnlich wie in Cronenbergs Cosmopolis fährt der Hauptcharakter mit
einer Limousine durch eine vielleicht gegenwärtige/vielleicht dystopische Welt,
ähnlich wie bei Cronenberg übt der Film massive Gesellschafts- und
Medienkritik, sobald man sich in dem Gewirr aus Begegnungen und Momentaufnahmen
zurechtfinden kann. Das war es aber auch schon mit den Parallelen zwischen den
beiden Filmen, denn Holy Motors besitzt eine Humanität, Vitalität und
Freiheit, die dem kühlen und bemüht wirkenden Robert
Pattinson-ist-doch-cooler-als-ihr-dachtet-Vehikel des kanadischen
Kultregisseurs völlig abgeht. Carax führt den Zuschauer in einen sich ständig
drehenden Kreis, der Emotionen, indem man ab einem gewissen Zeitpunkt immer
wieder von vorne angespannt erwartet, ob man gleich lachen, weinen oder
nachdenken wird. Manchmal muss man alles gleichzeitig. In seiner surrealen
Episodenstruktur erinnert der Film manchmal an Buñuels Das Gespenst der Freiheit, aber eigentlich erinnert der Film an
nichts, was man bisher gesehen hat.
In Carax‘ Filmographie gibt es zwei
wiederkehrenden Charaktermotive:
Den (total)
verrückten Mann und die begehrenswerte, traurige Frau.
Sein „verrückter
Mann“ ist wie so oft Dennis Lavant, der in diesem Film in elf verschiedene
Rollen schlüpft, die alle durch ein Masken- und Kostümsortiment im Inneren der
Limousine zusammengehalten werden und durch die prinzipielle Idee des zerstückelten
Schauspielers bzw. Menschen. Lavant besticht durch eine Körperlichkeit, die
manchmal schier aus der Leinwand zu springen scheint. Holy Motors zwingt den Schauspieler förmlich dazu eine riesige
Bandbreite an Facetten zu zeigen, die Struktur des Films erfordert völlig
Auslieferung und Einfühlung, die mit einem Ruck aufgebrochen werden muss und in
rasender Geschwindigkeit gewechselt werden muss. Es ist auch ein Film über das
Wesen des Schauspielers, eine Parabel auf die Schauspielerei und in deren
Zentrum steht mit Lavant ein Mann, dem keine Grenzen bekannt sind, der sich
scheinbar mit geschlossenen Augen durch den Film tragen lässt und ein
beeindruckendes Ergebnis abliefert. Die begehrenswerte Frau wird in Holy Motors von mehreren
Schauspielerinnen dargestellt. Carax versteht es, wie kaum ein zweiter, Frauen
zwar als das Objekt der Begierde zu installieren, aber ihnen durch eine
einfühlsame, präzise Beobachtung einen eigenständigen Charakter zu geben. Seine
Frauen haben Schwächen, aber in ihre Verletzlichkeit oder Naivität liegen oft
ihre Reize. Er verliebt sich (im wahrsten Sinne) in seine Schauspielerinnen und
erforscht ihre Gesichter und Körper nach einer Wahrheit, die er dann in einem
destruktiven Anfall vernichten kann. Eva Mendes, Kylie Minogue, Edith Scob und
eine wundervolle Elise Lhomeau tragen alle eine Trauer in sich, die sie
begehrenswert macht. Gleichzeitig wird mit ihnen die Rolle der Frau
thematisiert.
Den Film zu interpretieren halte ich für
anmaßend. Man kann nur Eindrücke und Assoziationen schildern. Holy Motors beschäftigt sich mit der
Welt in einer ständigen Beobachtungssituation, einer Welt, in der die Kameras
verschwindend klein werden, aber wir uns ihrer Existenz immer bewusst sein
müssen. Es geht um Schauspielerei, das Wesen des Schauspiels, der Wahnsinn in
der Herausforderung unterschiedliche Rollen in kurzer Zeit zu spielen; genauso
spielen alle Menschen diese Rollen. Sie wechseln und manchmal würde man sich
wünschen, dass man eine Akte bekommen würde wie im Film, in der einem die
Familie, Freunde und Geschäftspartner erklärt werden, bevor man sie jeden Tag
sieht. Wir leben in einem Zeitalter der Bruchstücke, wie das zerstörte
Puppenkabinett am Ende des Films, in einer Welt der ständigen
Selbstmultiplizierung, wie in der Szene in der Lagerhalle. Es ist, als hätten
wir mehrere Leben. Wir entfremden uns vor uns selbst und werden müde, wir
handeln nach Mustern, fast automatisch und motorisiert. Unsere Emotionen werden
auf Abruf geweckt und entsprechen bestimmten Vorstellungen. Insbesondere im
Kino und darum geht es Leos Carax offensichtlich auch. Film als Medium, das
Menschen ausstellt, auf der Suche nach Bildikonen. Carax bekämpft das Kino mit
cineastischen Mitteln. Seine Stille ist immer die totale Stille, seine Musik
trifft einen ins Mark.
Dabei erlaubt sich der Regisseur immer wieder
Ausflüge in den Wahnsinn. Einen Wahnsinn, der ihn am Leben zu halten scheint. Hier
steht ein Filmemacher, der schreit: Ich bin frei. Fangt mich doch. Ihr bekommt
mich nicht. Dass es noch Leute gibt, die diesen Wahnsinn fördern, ist von einer
derartigen Wichtigkeit, dass man ihnen dankend die Füße küssen sollte. Das Kino
war gut gefüllt, weil es eben immer noch bzw. gerade heute genug Leute gibt,
die am Wahnsinn interessiert sind. Weil das Leben eben auch so ist, wie eine
Schachtel Pralinen. Aber wie kann man gleichzeitig eine Hommage an das Kino
liefern und einen Abgesang auf dessen Existenz?
Der Regisseur bringt es auf den Punkt:
"Cinema is my country but
it is not my business"
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