Es gibt noch immer Filme, die einen schockieren können.
Es kann einen doch nichts mehr schockieren.
Ein Pärchen fährt auf einer amerikanischen Autobahn, sie
schläft, er fährt. Man schreckt förmlich hoch, weiß nicht, ob man weinen soll
oder sich übergeben soll. Man hat alles schon gesehen, im Internet kann man
sich alles anschauen: Morde, Leichen, Kinder, die vergewaltigt werden.
Sie sehen eine Ansammlung großer Windräder und steigen
spontan aus, um sich das aus der Nähe anzusehen.
Der Schock kommt aus dem Inhalt, er kann nur aus dem Inhalt
bestehen, weil die Oberfläche (Nacktheit, Tabuszenen etc) schon abgearbeitet
wurde in der Filmgeschichte; aber wenn es aus dem Inhalt geschieht, kann es
eine unheimliche Kraft entfalten.
Filme, die provozieren wollen langweilen, das ist
vorhersehbar und lachhaft.
Sie schwimmen in einem Swimmingpool. Am Horizont ist eine
typische amerikanische Kleinstadtstraße zu sehen. Er ist Künstler. Markantes
Gesicht, seine Haare verdecken seine Augen. Sie wirkt zerbrechlich und
kränklich. Abhängigkeit und Verlangen sprechen aus ihren Augen. In einem
plötzlichen emotionalen Ausbruch weint sich fürchterlich. Er weiß um diese
Zerbrechlichkeit. Manchmal macht es ihm Spaß sie zerbrechen zu sehen. Manchmal
tut es ihm Leid. Die Welt um sie herum existiert kaum. Die Straßen sind leer;
wenn ihnen Menschen begegnen, dann kühl oder feindselig. Sie reden wenig und
haben viel Sex. Es ist kaum schöner Sex. Es ist harter Sex; er ist brutal zu
ihr. Sie liebt ihn.
Was hat das zu bedeuten, wenn man als Zuseher schockiert
wird? Wenn man entsetzt ist? Prinzipiell ist es eine Reaktion; man wird
körperlich getroffen, was für sich genommen eine wahnsinnige Leistung vom
Kunstwerk ist. Aus dem Lateinischen bedeutet Provokation zunächst einmal
„herausfordern“. Wenn ein Kunstwerk bzw. Film herausfordert, ist das
prinzipiell sogar erwünscht. Trotzdem regen sich Zuschauer immer wieder auf
über Provokation; sie buhen in Cannes die Filme von Gaspar Noé oder Lars von
Trier aus. Sie werfen ihnen vor, dass Provokation zum Selbstzweck wurde. Vielleicht
ist es das. Vielleicht ist das aber
immer noch eine der wenigen Möglichkeiten von sich aus distanzierte und
emanzipierte Zuseher wirklich zu „kriegen“?
Bruno Dumont hat etwas zu sagen. Und er ist ein Meister
darin eine merkwürdige Stimmung aufzubauen. Ganz subtil, obwohl kaum etwas
passiert, passiert unheimlich viel; es beschleicht einen ein krankhaftes
Gefühl. Schreie sind dafür ein probates Mittel. Sie hysterisch, er lustvoll. Die Bilder und Geräusche brennen sich ein und man rechnet jeden
Augenblick damit, dass die Leinwand explodiert; gewissermaßen wird sie es tun.
In Filmen wirken Situationen oft vorhersehbar. Verbrechen
werden begangen und man hat es als Zuseher schon geahnt. Erst ist ein
merkwürdiges Geräusch zu hören. Dann gibt es eine Nahaufnahme des Opfers. Musik
setzt ein. Es wird nichts gesprochen und es ist meistens dunkel. Auch beliebt
ist es den oder die „Täter“ kurz vor der Tat zu zeigen, kurz bevor die „Opfer“
auf sie treffen. Sie sehen meist etwas merkwürdig aus, es gibt untersichtige
Aufnahmen, es gibt Nahaufnahmen und es gibt unheimliche Musik. Zudem werden
Verbrechen natürlich immer plausibel erklärt. Er handelte es diesem oder jenem
Motiv, er war nur geisteskrank etc. So kann die kleine, heile Welt des Zusehers
stabilisiert werden und er erfreut sich trotz allem Bösen in der Welt seines
bürgerlichen Lebens. Das ist nichts weiter als der Eskapismus, der seit ihren
Anfängen die Filmindustrie prägt; aus der der ach so emanzipierte Zuseher nicht
emanzipieren kann. Und dann ist er entsetzt über einen Film wie Twentynine
Palms.
Oft lachen Zuseher dann. Was ist das für ein Lachen? Ist es Unverständnis
oder betont man damit seine Überlegenheit gegenüber der Sache, betont man also,
dass es sich ja nur um einen Film handelt? Findet man es (womöglich auf eine
sadistische Art) tatsächlich lustig? Verlegenheitslachen?
Er lässt sie ab und zu mit seinem Hummer durch die Wüste
fahren. Als sie zum ersten Mal fährt (sie scheint fahren erst zu lernen oder
ist es die Besonderheit des Hummers?) nimmt sie ein paar Zweige mit, die am
Rande des Weges in die Straße hängen. Es gibt Kratzer. Er regt sich auf, er
wird wieder sanft, er wird wieder rau. Später fährt sie wieder. Er steigt kurz
auf, setzt sich auf ein paar Felsen und schaut in die Ferne. Was sieht er in
dieser Wüste aus Staub?
Twentynine Palms ist einer der wichtigsten Filme dieses Jahrhunderts
bis jetzt. Er beschreibt das Gefühl einer Gesellschaft und er packt den Zuseher
körperlich; er verbietet sich jedes Verlegenheitslachen und jedes Bekunden von
Unverständnis. Er zielt auf die Darstellung von wahrem Leben und nicht auf
irgendwelche filmischen Klischees. Er betont existenzielle Leere und die
Willkür des Lebens. Bei Filmen, hat Michelangelo Antonioni gesagt, geht es
nicht darum, dass man sie versteht, man muss sie fühlen. Twentynine Palms fühlt
man, vielleicht mehr, als viele ertragen wollen und können. Das liegt nicht an
verschiedenen Szenen, das liegt an einer immensen Präzision in der Beobachtung
und der Tatsache, dass man als Zuseher Teil dieser Welt wird und eben nicht
sagen kann: „Ach, ich sitze hier im Kino und das da ist nur auf der Leinwand.“
Anmerkung von Dumont im Drehbuch: Wir werden sie Sexszenen aus einer angebrachten Entfernung filmen, sodass der Zuseher nicht in Verlegenheit kommt. (von mir, frei übersetzt) |
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