Samstag, 14. Juli 2012

Twentynine Palms von Bruno Dumont




Es gibt noch immer Filme, die einen schockieren können.

Es kann einen doch nichts mehr schockieren.

Ein Pärchen fährt auf einer amerikanischen Autobahn, sie schläft, er fährt. Man schreckt förmlich hoch, weiß nicht, ob man weinen soll oder sich übergeben soll. Man hat alles schon gesehen, im Internet kann man sich alles anschauen: Morde, Leichen, Kinder, die vergewaltigt werden.
Sie sehen eine Ansammlung großer Windräder und steigen spontan aus, um sich das aus der Nähe anzusehen.

Der Schock kommt aus dem Inhalt, er kann nur aus dem Inhalt bestehen, weil die Oberfläche (Nacktheit, Tabuszenen etc) schon abgearbeitet wurde in der Filmgeschichte; aber wenn es aus dem Inhalt geschieht, kann es eine unheimliche Kraft entfalten.



Filme, die provozieren wollen langweilen, das ist vorhersehbar und lachhaft.

Sie schwimmen in einem Swimmingpool. Am Horizont ist eine typische amerikanische Kleinstadtstraße zu sehen. Er ist Künstler. Markantes Gesicht, seine Haare verdecken seine Augen. Sie wirkt zerbrechlich und kränklich. Abhängigkeit und Verlangen sprechen aus ihren Augen. In einem plötzlichen emotionalen Ausbruch weint sich fürchterlich. Er weiß um diese Zerbrechlichkeit. Manchmal macht es ihm Spaß sie zerbrechen zu sehen. Manchmal tut es ihm Leid. Die Welt um sie herum existiert kaum. Die Straßen sind leer; wenn ihnen Menschen begegnen, dann kühl oder feindselig. Sie reden wenig und haben viel Sex. Es ist kaum schöner Sex. Es ist harter Sex; er ist brutal zu ihr. Sie liebt ihn.

Was hat das zu bedeuten, wenn man als Zuseher schockiert wird? Wenn man entsetzt ist? Prinzipiell ist es eine Reaktion; man wird körperlich getroffen, was für sich genommen eine wahnsinnige Leistung vom Kunstwerk ist. Aus dem Lateinischen bedeutet Provokation zunächst einmal „herausfordern“. Wenn ein Kunstwerk bzw. Film herausfordert, ist das prinzipiell sogar erwünscht. Trotzdem regen sich Zuschauer immer wieder auf über Provokation; sie buhen in Cannes die Filme von Gaspar Noé oder Lars von Trier aus. Sie werfen ihnen vor, dass Provokation zum Selbstzweck wurde. Vielleicht ist es das.  Vielleicht ist das aber immer noch eine der wenigen Möglichkeiten von sich aus distanzierte und emanzipierte Zuseher wirklich zu „kriegen“?



Bruno Dumont hat etwas zu sagen. Und er ist ein Meister darin eine merkwürdige Stimmung aufzubauen. Ganz subtil, obwohl kaum etwas passiert, passiert unheimlich viel; es beschleicht einen ein krankhaftes Gefühl. Schreie sind dafür ein probates Mittel. Sie hysterisch, er lustvoll. Die Bilder und Geräusche brennen sich ein und man rechnet jeden Augenblick damit, dass die Leinwand explodiert; gewissermaßen wird sie es tun.

In Filmen wirken Situationen oft vorhersehbar. Verbrechen werden begangen und man hat es als Zuseher schon geahnt. Erst ist ein merkwürdiges Geräusch zu hören. Dann gibt es eine Nahaufnahme des Opfers. Musik setzt ein. Es wird nichts gesprochen und es ist meistens dunkel. Auch beliebt ist es den oder die „Täter“ kurz vor der Tat zu zeigen, kurz bevor die „Opfer“ auf sie treffen. Sie sehen meist etwas merkwürdig aus, es gibt untersichtige Aufnahmen, es gibt Nahaufnahmen und es gibt unheimliche Musik. Zudem werden Verbrechen natürlich immer plausibel erklärt. Er handelte es diesem oder jenem Motiv, er war nur geisteskrank etc. So kann die kleine, heile Welt des Zusehers stabilisiert werden und er erfreut sich trotz allem Bösen in der Welt seines bürgerlichen Lebens. Das ist nichts weiter als der Eskapismus, der seit ihren Anfängen die Filmindustrie prägt; aus der der ach so emanzipierte Zuseher nicht emanzipieren kann. Und dann ist er entsetzt über einen Film wie Twentynine Palms.

Oft lachen Zuseher dann. Was ist das für ein Lachen? Ist es Unverständnis oder betont man damit seine Überlegenheit gegenüber der Sache, betont man also, dass es sich ja nur um einen Film handelt? Findet man es (womöglich auf eine sadistische Art) tatsächlich lustig? Verlegenheitslachen?



Er lässt sie ab und zu mit seinem Hummer durch die Wüste fahren. Als sie zum ersten Mal fährt (sie scheint fahren erst zu lernen oder ist es die Besonderheit des Hummers?) nimmt sie ein paar Zweige mit, die am Rande des Weges in die Straße hängen. Es gibt Kratzer. Er regt sich auf, er wird wieder sanft, er wird wieder rau. Später fährt sie wieder. Er steigt kurz auf, setzt sich auf ein paar Felsen und schaut in die Ferne. Was sieht er in dieser Wüste aus Staub?

Twentynine Palms ist einer der wichtigsten Filme dieses Jahrhunderts bis jetzt. Er beschreibt das Gefühl einer Gesellschaft und er packt den Zuseher körperlich; er verbietet sich jedes Verlegenheitslachen und jedes Bekunden von Unverständnis. Er zielt auf die Darstellung von wahrem Leben und nicht auf irgendwelche filmischen Klischees. Er betont existenzielle Leere und die Willkür des Lebens. Bei Filmen, hat Michelangelo Antonioni gesagt, geht es nicht darum, dass man sie versteht, man muss sie fühlen. Twentynine Palms fühlt man, vielleicht mehr, als viele ertragen wollen und können. Das liegt nicht an verschiedenen Szenen, das liegt an einer immensen Präzision in der Beobachtung und der Tatsache, dass man als Zuseher Teil dieser Welt wird und eben nicht sagen kann: „Ach, ich sitze hier im Kino und das da ist nur auf der Leinwand.“

Anmerkung von Dumont im Drehbuch: Wir werden sie Sexszenen aus einer angebrachten Entfernung filmen, sodass der Zuseher nicht in Verlegenheit kommt. (von mir, frei übersetzt)

 

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