Text: Rainer Kienböck
Auf Murnau
folgt Wiene: Nach meiner Beschäftigung mit Friedrich Wilhelm Murnau für das
Filmprojekt „Schichtwechsel “, einem Stummfilm im Stile des deutschen
Expressionismus, der im Wien der 20er Jahre spielt, ist nun Robert Wiene an der
Reihe. Dieser längere Beitrag auf Jugend ohne Film soll ergänzend zu den kurzen
Steckbriefen fungieren, die auf der Facebookseite von „Schichtwechsel“
veröffentlicht werden.
Für
gewöhnlich eröffnet man einen biographischen Artikel wie ich ihn im Sinn habe
mit der Nennung des Geburtsdatums und –orts der jeweiligen Person. Bei einem
Artikel über Robert Wiene steht man schon bei diesem Unterfangen vor einem
ersten Problem: Es scheint als ob niemand genau wissen würde wann und wo Wiene
geboren ist. In verschiedenen Quellen stößt man auf unterschiedlichste Tage,
Jahre und Orte. 1872, 1873, 1875, 1879, 1880 und 1881 als Geburtsjahr, den 27.
April bzw. 16. November als Geburtsdatum. Als Geburtsort ist wechselweise
Dresden, Sachsen, Bratislava und Nitra angegeben. Im verwirrenden
Geburtstagslotto setze ich auf Uli Jungs und Walter Schatzbergs ausführliche
Recherchen (siehe Literaturliste), die den 27.4.1873 in Breslau in Schlesien
(heute Wrocław in Polen) am wahrscheinlichsten finden. Sie beziehen sich dabei
auf Wienes Immatrikulationsformular an der Universität Wien vom Frühjahr 1891.
Andernorts gibt Wiene in universitären Formularen allerdings auch Nitra sowie
Bratislava als Geburtsort an und auch über sein Geburtsjahr scheint er sich
nicht sicher gewesen zu sein.
Wann und wo
auch immer Wiene geboren sein mag, aus den verschiedenen Angaben zum Geburtsort
lässt sich einiges über sein Leben und sein Wesen herauslesen. Seine Mutter war
in Bratislava geboren, sein Vater war aus Nitra. Beide Orte lagen in der
ungarischen Reichshälfte des Habsburgischen Kaiserreichs und gehören heute zur
Slowakei. Der Vater Carl Wiene war erfolgreicher Schauspieler u.a. am
Sächsischen Hoftheater und am Burgtheater in Wien (dort wurde am 3. Februar
1873 Roberts Bruder Conrad geboren). Robert Wiene legte augenscheinlich Wert
auf seine ungarische Herkunft. Dies ist der Grund, so vermuten Jung/Schatzberg,
weshalb er bei amtlichen Dokumenten Nitra als Vatersstadt angibt – er möchte
damit auf seine ungarische Herkunft und Staatsbürgerschaft hinweisen (obwohl er
vermutlich in Schlesien geboren ist). Nach Zusammenbruch des k.u.k Kaiserreichs
wird Wiene zum tschechoslowakischen Staatsbürger, was ihm später bei seiner Flucht
aus Deutschland helfen sollte.
Über Wienes
Leben ist wenig bekannt. Er studierte Jus an der Universität Wien und
(vermutlich auch) an der Humboldt-Universität in Berlin, interessierte sich
fürs Theater und arbeitete nach Abschluss seines Studiums um die
Jahrhundertwende als Jurist in Weimar. Als er 1908 nach Wien zurückkehrte
engagierte er sich neben seiner juristischen Beschäftigung in administrativen
Funktionen im Theater und gründete dabei u.a. die Neue Wiener Bühne. Als
Regisseur, Schauspieler oder in einer anderen künstlerischen Position versuchte
er sich jedoch vermutlich nicht. Bereits in Weimar aber hatte er einen Ruf als
Theaterkenner inne und er wurde immer wieder zur Überarbeitung von
Theatermanuskripten hinzugezogen.
Immer wieder
verlaufen sich die Spuren von Wienes Karriere, so finden sich auch keinerlei
Aufzeichnungen warum er sich schließlich dem Film zugewandt hat. Vielleicht
weil er sich dort als Autor versuchen durfte und konnte? Sein erster Beitrag
zum Film war auf jeden Fall sein Drehbuch für „Die Waffen der Jugend“, einem
nicht-erhaltenen Film aus dem Jahr 1912. Als Drehbuchautor hatte Wiene
augenscheinlich Talent, denn ab 1914 war er festangestellter Autor und
Regisseur bei der Messter Film in Berlin. Damals war er bereits vierzig Jahre
alt, also fast eine Generation älter als die anderen großen, deutschen
Filmemacher der 1920er (Murnau, Lang, Pabst). Anders als die letztgenannten war
Wiene kein auteur, kein Genie, sondern ein Filmhandwerker, der in erster Linie
kommerzielle Fließbandarbeit verantwortete – jedoch mit höherem künstlerischen
und literarischen Anspruch als das zur damaligen Zeit gemeinhin üblich war.
Nach zahlreichen Arbeiten mit Henny Porten, dem überragenden deutschen
Filmstars der 1910er Jahre, war er ein etablierter Name im Weimarer Kino.
1920 gelang
Wiene schließlich auch der Durchbruch als Regisseur mit jenem Film, ohne den er
wohl bloß als Fußnote in die Filmgeschichtsschreibung eingegangen wäre: „Das
Cabinet des Dr. Caligari“ ist vielleicht der international bekannteste deutsche
Film überhaupt, der Begriff „Caligarismus“ steht synonym für das deutsche
Filmschaffen der Zwischenkriegszeit und die Stilrichtung des Deutschen
Expressionismus (eine irreführende Auffassung wie ich später zeigen werde).
„Caligari“ ist zwar weder der erste Horrorfilm als den man ihn gerne
propagiert, noch der erste expressionistische Film, aber er popularisierte
viele verschiedene Elemente, die zuvor nur wenig publikumswirksam präsentiert
wurden und geht dabei neue, radikale Wege. „Caligari“ entstammt der Feder des
vielleicht wirkmächtigsten Mannes des Weimarer Kinos, Carl Mayer, der auch
mehrmals mit Murnau zusammenarbeitete und schließlich zusammen mit Ruttmann mit
„Berlin – Symphonie einer Großstadt“ die Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit
begründete, und Hans Janowitz. Diese zwei wurden in der Rezeptionsgeschichte
des Films zumeist als die „wahren“ Initiatoren des Films dargestellt. Dies ist
einerseits Janowitz‘ eigener Verdienst, der einen ausführlichen Bericht
verfasste in dem er kein gutes Haar an Wienes Beitrag zum Film ließ und
andererseits der Siegfried Kracauer anzukreiden, der in seinem Buch „Von
Caligari zu Hitler“ ebenfalls die Rolle Wienes marginalisierte. Jung/Schatzberg
treten dieser These energisch entgegen und bezeichnen Wiene als treibende Kraft
hinter „Caligari“. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte: Aus Wienes
restlichem Oeuvre kann man schließen, dass er vermutlich nicht das Zeug hatte
ein Projekt wie „Caligari“ alleine zu stemmen, aber als Regisseur war er schlussendlich
für den Gesamteindruck verantwortlich und hat Mayers Drehbuch gekonnt
cinematisch in Szene gesetzt und dabei bestmöglich mit den vortrefflichen
Arbeiten der Bühnen- und Maskenbildner kombiniert. Wiene, so könnte man sagen,
konformierte die avantgardistischen Tendenzen des Films und machte sie
massentauglich.
Ich denke
aber, dass „Caligari“ eines jener Kunstwerke ist, das den Künstler selbst
übertrifft. Ein Kunstwerk, dessen Dimensionen einer glücklichen
Aneinanderreihung von Zufällen und unbewussten Handlungen zu verdanken sind und
nicht dem Geniestreich eines Einzelnen. Das zeigt einmal mehr was das
„Kollektivprodukt Film“ von anderen Kunstformen abgrenzt. Die
bilderstürmerischen Tendenzen, dieser verkehrte Ikonoklasmus wider das Reale
ist das Resultat des Unbewussten und des Teamworks. So mag Kracauers These,
dass in diesem Film der Keim des nazistischen Despotismus steckt sogar
bestätigt werden – „Caligari“ nicht als Gedankenexperiment eines Einzelnen,
sondern als psychologischer Abdruck der Volksseele?
Woraus
entsteht die Anziehungskraft des Films? Aus den formidabel gearbeiteten Sets
mit ihren schrägen Linien und extravaganten Schattenspielen? Aus den großen
Twists, die die Narrative umkehren? Oder, wie Mike Budd vorschlägt, aus der
Ambivalenz aus klassischem Narrativum und modernistischem Expressionismus?
Dieser
letzte Punkt erscheint mir in der Beschäftigung mit „Caligari“ als besonders
fruchtvoll: modernistisch-expressionistisches Drehbuch und Dekor wird von Wiene
in klassisch-konservative Bahnen gelenkt, was zur einzigartigen Dynamik des
Films führt.
Viele
Fragen, die sich seit gut hundert Jahren einer Beantwortung entziehen. So lange
wird dieser Film schon diskutiert und noch immer finden sich neue
Interpretationsmuster – ist das das Kennzeichen eines großen Films?
So prägend
sich „Caligari“ auch entpuppte und so stark der Film auch bis heute rezipiert
wird, so überschätzt ist vielleicht sogar sein Einfluss auf die zeitgenössische
Filmlandschaft. Die Selbstverständlichkeit mit der „Caligarismus“ und das
deutsche Filmschaffen der 20er Jahre gleichgesetzt wird ist eigentlich nicht
haltbar. Einerseits, weil, wie eben gezeigt, „Caligari“ selbst kein pures
expressionistisches Musterstück ist und andererseits, weil sich keine klare
Reihe von Nachfolgerfilmen zeichnen lässt. Ein weiteres Indiz, dass nicht auf
Wiene als treibende Kraft hinter „Caligari“ schließen lässt – er hat es nie
geschafft diesen Erfolg zu reproduzieren. Zwar hat er sich noch weitere Male im
Caligari-Stil versucht, doch ohne seine Mitstreiter nie im gleichen Maße
reüssiert. So blieben sowohl sein „Genuine“ (1920), „Raskolnikow“ (1923) als
auch „Orlacs Hände“ (1925), die einzigen drei post-caligarischen Filme Wienes,
die ebenfalls dem Caligarismus zugeordnet werden könnten, mehr oder weniger
bedeutungslos.
Aber genug
vom „Cabinet des Dr. Caligari“. Nach diesem Film arbeitete Wiene vornehmlich
als Regisseur und verfasste nur mehr vereinzelt Drehbücher für andere
Regisseure. „Die Jagd nach dem Tod“ (1920), ein monumentaler Vierteiler, und
„INRI“ (1923), ein episches Bibelstück, zeugen vom neugewonnenen
Selbstvertrauen und den größeren finanziellen Freiheiten seiner
post-caligarischen Karriere. Mitte der 1920er Jahre wurde Wiene schließlich
nach Wien gelockt. Dort arbeitete er zwischen 1924 und 1926 für die Pan-Film,
wurde dort zu einer Art künstlerischem Supervisor befördert und zählte zu den
wichtigsten Stimmen innerhalb der österreichischen Filmindustrie. In Wien
erlebte er den Höhepunkt seiner Karriere mit den fünf Filmen „Pension Groonen“
(1925), „Orlacs Hände“ (1925), „Der Leibgardist“ (1925), „Der Rosenkavalier“
(1926) und „Die Königin vom Moulin Rouge“ (1926). „Orlacs Hände“ ist wohl der
interessanteste Film im Spätwerk Wienes, „Der Rosenkavalier“ einer seiner
kommerziell erfolgreichsten. Letzterer ist eine Adaption der Richard Strauss
Oper und entstammt aus einer Zusammenarbeit Wienes mit Strauss und Hugo von
Hofmannsthal.
„Orlacs
Hände“ hingegen lässt noch einmal den Geist des Caligarismus hochleben. Wie
auch die noch in Deutschland entstandene „Schuld und Sühne“-Adaption
„Raskolnikow“ (dem ich leider nicht habhaft werden konnte – Wienes Filme sind
schwer in die Finger zu bekommen) weicht das expressionistische Dekor hier
einem naturalistischerem Filmbild. Das Expressionistische verlagert sich ins
Innere der Charaktere. Wie in „Caligari“ spielt Conrad Veidt die Hauptrolle,
seine Verkörperung des Paul Orlac ist einer der Höhepunkte seiner Karriere. Mir
erscheint als sei dieser Film maßlos unterschätzt. Die gequälten Blicke Veidts werden
vielleicht in keinem anderen Film zu gewinnbringend zu Geltung gebracht.
„Orlacs Hände“ ist eine große Produktion und zeugt von der einstigen Größe der
österreichischen Filmindustrie. Licht und Kamera machen deutlich weshalb der
Deutsche Expressionismus gemeinhin als großer Ahnvater des Film Noir postuliert
wird – manche der Szenen könnte man eins zu eins in solch einen Genrefilm
übernehmen. Zwar ist das Abstrakte der caligarischen Bilder verschwunden, doch
die Psychologisierung des Films zeugt vom Erbe „Caligaris“. Die wahnsinnige
Gedankenwelt des Protagonisten wird nicht mehr im Dekor gespiegelt, sondern
wird nur in Veidts Augen ersichtlich – gequältes Entsetzen und verzweifeltes
Funkeln und natürlich die Hände nicht nur als Werkzeug des Schauspielers,
sondern als vollwertiger Partner im Ensemble und Dekor. Ein großes und schönes
Psychodrama, das eigentlich weniger naive Melodramatik verdient hätte.
Nach seiner
Rückkehr nach Deutschland wurde es ruhiger um Wiene. Zwar machte er auch den
Umstieg vom Stumm- zum Tonfilm mit, doch seine weiteren Filme waren reine
Industrieprodukte ohne künstlerischen Mehrwert.
Schließlich
musste Wiene, wie so viele seiner Zeitgenossen fliehen. 1933 endete mit dem
Film „Taifun“ seine Filmkarriere in Deutschland. In Aufzeichnungen der
Nazi-Behörden wird er als „nicht-arisch“ eingestuft – andere Hinweise auf eine
etwaige jüdische Herkunft sind allerdings nicht zu finden. Nach einem kurzen
Intermezzo in Budapest landete Wiene schließlich in Paris, das er nur mehr
1935/36 verließ, als er kurzzeitig in London lebte. Robert Wiene verstarb am
15. Juli 1938 kurz nach Abschluss der Dreharbeiten zu seinem letzten Film
„Ultimatum“. Wenige Jahre später sollte er sein hohes Ansehen, dass er zu
Lebzeiten in der deutschen Filmszene innehatte durch Kracauers Kritik einbüßen,
erst Ende der 80er Jahre wurde diese Sichtweise revidiert.
Zu Wiene ist
bei weitem nicht so viel Literatur vorhanden wie zu Murnau. Ich darf trotzdem
auf diese zwei Bücher hinweisen, die mir in meinen Recherchen sehr geholfen
haben:
„Robert
Wiene. Der Caligari-Regisseur“, Uli Jung/Walter Schatzberg, Berlin: Henschel
1995.
Großartig
recherchierte, umfangreiche Biographie. Stark durch persönliche Tendenzen der
Autoren beeinflusst aber meines Erachtens das umfassendste und brauchbarste,
dass es zu Wiene zu lesen gibt.
„The Cabinet
of Dr. Caligari", Hg. von Mike Budd, New Brunswick/London: Rutgers
University Press 1990.
Großer
Sammelband zu Wienes berühmtesten Film, der Beiträge zu Produktionshistorie,
Interpretation, der Einordnung des Films im Filmkanon, u.v.m. bietet.
Filmliste
(Auswahl): (20 seiner ca. 90 Filme sind erhalten)
„Das Cabinet
des Dr. Caligari“ (1920)
„Genuine“
(1920)
„Die Jagd
nach dem Tode“ (1920)
„Raskolnikow“
(1923)
„INRI“
(1923)
Die Wiener
Periode:
„Pension
Groonen“ (1925) – verschollen
„Orlacs
Hände“ (1925)
„Der
Leibgardist“ (1925) – verschollen
„Der
Rosenkavalier“ (1926)
„Die Königin
vom Moulin Rouge“ (1926)
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