Montag, 9. Dezember 2013

Visconti before Christmas: Ossessione



Luchino Visconti ist ein Regisseur, der die Herzen vieler Filmbegeisterter höherschlagen lässt. Aber oft aus völlig unterschiedlichen Gründen. Die einen sehen in ihm einen Neorealisten, der Milieus durchdringt und zu wahrhaftigen Geschichten kommt. Andere nehmen ihn als großen Stilisten des Melodrams war, bei dem jedes Bild ständig von einem hysterischen Exzess mit elegischen Kamerafahrten und strahlenden Farbkompositionen durchbohrt werden könnte. Die Nächsten schätzen ihn für seine Nähe zur Literatur, seine Fähigkeit ganze Jahrzehnte in einen Film zu packen. Wieder andere bewundern, wie sich Visconti entwickelt hat im Laufe seiner Karriere und womöglich zu einem der vielseitigsten Filmemacher der Geschichte avancierte. In den nächsten Wochen werde ich mich ein wenig intensiver mit dem Werk von Visconti beschäftigen. Natürlich immer nur soweit, wie es das Format dieses Blogs zulässt. Ich werde einige seiner Filme zum ersten oder zum wiederholten Mal betrachten und darüber schreiben, wie sie sich für mich ganz unmittelbar, ohne die Last der Filmgeschichte darstellen. Gleichzeitig werde ich mich nicht davon befreien können, aus einem gewissen geschichtlichen Blickwinkel auf das Kino des Luchino Visconti zu schauen. 


In seinem vieldiskutierten Erstlingsfilm und neorealistischen Gründungsstein „Ossessione“ wagt sich Visconti an eine Verfilmung des amerikanischen Romans „The Postman Always Rings Twice“, der bekanntermaßen später zwei amerikanische Verfilmungen und zahlreiche Variationen erfuhr. (Darunter auch Christian Petzolds „Jerichow“) Es geht um die klassischste aller gefährlichen Beziehungskonstellationen, eine Affäre der unglücklichen Frau mit einem jungen Mann. Die einzige Lösung für das junge Glück ist Mord. Kurzerhand entschließen sich Giovanna und Gino also einen Autounfall vorzutäuschen und den Ehemann zu ermorden. Ab da ist ihnen die Polizei auf den Fersen. Mit der Zeit verliert die Beziehung der beiden an Tiefe und Zuneigung. Erst als sie sich wieder zu finden scheinen, steuert das Ganze auf ein tragisches Ende hinzu. In einigen Sequenzen durchdringt der damals 37jährige Visconti sein Milieu tatsächlich. Sein Milieu, das ist hier die Po-Ebene. Das ist der hoffnungsvolle Hafen ohne Hoffnung in Ancona und die lebendige Stadt Ferrara. Das sind Arbeiter, die mit ausgedörrten Gesichtern meist neugierig die Handlung betrachten. Das ist ganz im Stil des frühen Fellinis ein Jahrmarkt, eine Attraktion. Das Milieu ist hier auch das Gerede der Menschen, das sind die Erwartungen an ein endlich normales Leben, das es nie geben wird. Auffällig scheint zunächst die abwechslungsreiche Art und Weise, in der Visconti, der den Roman von seinem Lehrmeister Jean Renoir erhielt zwischen einem amerikanischen Pulp-Thriller, einem hysterischen Melodram und einem neorealistischen Frühwerk springt, ja geradezu virtuos die poetischen Momente in seiner Banalität und die banalen Szenen in ihren Ausschweifungen sieht. Von einfachen Bildern des Einschlafens und des stillen Verzweifelns, bis hin zu lebendigen Jahrmarktpräsentationen bedient der Film viele Bildikonen des Neorealismus. Zur cineastischen Größe reift „Ossessione“ immer dann, wenn er beginnt elliptisch zu schweben zwischen und in den Bildern. Zum Beispiel als Giovanna in Ferrara Gino zusammen mit einer Prostituierten erwischt und die Kamera ganz wie bei Melville in „Le Samourai“ anfängt in einer seitlichen Bewegung die Dramatik des Geschehens zu betonen oder wenn expressionistisch anmutende (wie manches im Film) Bilder eines kleinen Kindes zwischen den Dialog von Giovanna und Gino gegen Ende geschnitten sind. Erzählerisch beschreibt der Film eine Kreisbewegung von einer verlorenen Seele auf der Straße hin zu einer noch verloreneren Seele auf der Straße. Schon der Beginn mit seinem Blick aus der Frontscheibe eines LKWs weist auf das tragische Ende hin. Visconti schwirrt um Themen wie Schicksal, Loyalität, Liebe und Religion und so ganz klar scheint nie wohin er will. Aber das gereicht dem Film zu seiner größten Stärke, nämlich einer unheimlichen Dichte und Fülle an Emotion und Eindrücken. 



Rückschauend auf das Phänomen Neorealismus haben schon viele Autoren bemerkt, dass der „Realismus“ von heute oft wenig mit dem „Realismus“ von damals zu tun hat. Auch bei Rossellini und De Sica ist es schließlich immer das Melodram, das durch diese Handlungen treibt. Eher sind es die kurzen Momente der toten Zeit, der Isolation, des stummen Nachdenkens und des Stillstehens, die im späteren italienischen Kino ihren Gipfel fanden, aber in „Ossessione“ bei Visconti durchaus schon vorhanden sind. Fast wie ein letzter Stillstand gegen das Leben wirkt auch eine fast aus dem Nichts erscheinende Szene verschlafender Zweisamkeit am Ufer des Po. Je länger die Handlung ihre Narben auf die Figuren malt, desto regungsloser verharren diese in Positionen der Machtlosigkeit. Warum handeln, wenn es keinen Zweck mehr hat? Auffällig ist auch die Verwendung von Musik bei Visconti. Zunächst erscheint der Score sehr melodramatisch, fast wie in einem ganz klassischen Hollywood-Melodram. Doch nach und nach wird deutlich, dass die Musik praktisch gar keine Handlung akzentuiert, sondern immer nur innere Bilder entstehen lässt. Eine Liebesszene ist bedrohlich, ein Streit ist fröhlich. Wenn Visconti jedoch diegetische Musik verwendet, steigt er wieder über sich selbst. Er spielt in Ferrara fröhliche Tanzmusik von einem Plattenspieler als Gino und Giovanna sich furchtbar streiten und anschreien. Als früher im Film der Ehemann mit Giovanna und Gino zu einer Art Karaoke Veranstaltung mit dem Schwerpunkt auf große Opernnummern geht, offenbart sich hinter dem schwafelnden Herrscher des Hauses plötzlich eine sensible Seele, die ihn innerhalb weniger Sekunden zu einer tragischen Figur werden lässt. Hier findet sich das Kino von Visconti am besten. Zwischen dem realistischen Setting der Bar, den alten und begeisterten Gesichtern, den künstlerischen Gefühlen eines kaputten Mannes und dem unübersehbaren Durchdringen verbotener Gefühle in den Augen seiner Protagonisten. Alles ist gleichzeitig. Oft wechselt der Film fast in eine stumme Darstellung und überlässt sich völlig den Bildern.



In einem mutigen Manöver hat Visconti dem Film dann noch eine ganz eigene homosexuelle Ausweichmöglichkeit gegeben, die er irgendwie vorbei an der faschistischen Zensur gemogelt hat. Der Vagabund, mit dem Gino einige Zeit umherreist bietet ihm ein alternatives Leben, jenseits jeglicher weiblicher Liebschaften an. Mit sehnsuchtsvollen Blicken wird hier männliche Körperlichkeit ausgestellt und kurzzeitig scheint es als rühre die existentielle Verzweiflung von Gino auch aus einer sexuellen Verunsicherung. Allgemein erscheint seine Flucht aus der Beziehung, sein ständiger Trieb zum Fortlaufen nicht nur als Prototyp eines moderneren Helden, sondern auch als Figur, die sich noch gar nicht gefunden hat. Wenn man abschließend bedenkt, dass es sich hierbei um das Debütwerk von Visconti handelt, dann wird einem fast schwindlig. Es ist eine bedingungslos ehrliche Version eines fremdsprachigen Romans, der er die entscheidenden Gefühle im entscheidenden Moment zu entlocken vermag. Aus heutiger Sicht mag  manche charakterliche Entwicklung und manche Äußerung von Emotion leicht übertrieben wirken, aber in seiner Treue zur melodramatischen Darstellung hat Visconti auch früh seine ganz eigene Linie im Neorealismus mitgeprägt. 


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