Samstag, 7. Dezember 2013

Les glaneurs et la glaneuse von Agnès Varda



Der Mensch als Sammler

Text: Rainer Kienböck

Einer der ureigensten Triebe des Menschen, der Sammeltrieb, ist Gegenstand Agnès Vardas "Les glaneurs et la glaneuse".Mit Weitsicht und Fingerspitzengefühl handelt es sich dabei weder um eine historische Arbeit, noch um eine philosophische Erörterung. Varda gelingt es eine Anzahl kleiner Geschichten zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Das Sammeln bildet in "Les glaneurs et la glaneuse" den Rahmen, unter dem sich die unterschiedlichsten Aspekte dieser Tätigkeit gegenseitig in Beziehung setzen lassen. Im ursprünglichen Sinne sind mit „Glaneurs“ die Frauen gemeint, die den Männern mit ihren Sensen folgten und die Ähren auf den Feldern aufsammelten (im Österreichischen würde man sie als „Klauberinnen“ bezeichnen). Sie bilden den Ausgangspunkt von Vardas filmischer Reise. Jene alten Frauen, die in ihrer Jugend diese Arbeit noch selbst verrichteten kommen zuerst zu Wort. Im Zeitalter der intensiven Landwirtschaft ist ihre Arbeit allerdings nicht mehr gefragt. Zwar bleiben hinter den Erntemaschinen massenhaft Lebensmittel zurück, aber bis auf wenige Randgestalten der Gesellschaft macht sich niemand die Mühe sie aufzusammeln. So bleibt das Vermächtnis der Ährensammlerinnen nur noch in Museen erhalten. Auf den Spuren der Gemälde, welche die „Glaneurs“ thematisieren, reist Varda durch ganz Frankreich und trifft auf die unterschiedlichsten Arten von Sammlern: darunter sind Schrottsammler, Menschen die im Müll ihr Essen sammeln und die direkten Nachfolger der Ährensammlerinnen, die den Erntemaschinen auf die Felder folgen.


Die Motive der unterschiedlichen Personen, die Varda im Film antrifft, sind jedoch gänzlich verschieden. Der Schrott wird von manchen zu Kunst verarbeitet, andere wiederum versuchen Kühlschränke, Fernseher und Öfen wieder in Schuss zu bringen und zu verkaufen. Die einen sammeln ihr Essen im Müll und am Feld aus existenzieller Not, andere als Kritik an der Wegwerfgesellschaft. Die Regiesseurin selbst, ist die „Glaneuse“ des Filmtitels. Der englische Titel drückt es hier expliziter aus („The Gleaners and I“). Sie sucht und sammelt Individuen, die teils belächelt, teils ignoriert von der Gesellschaft, sich aus Protest oder Armut, dem Sammeln verschrieben haben.Ein unschuldiges Konzept auf den ersten Blick, aber auch wenn sie es nie ausspricht, haben wir es hier mit einem Manifest gegen die kapitalistische Wegwerfgesellschaft zu tun – Varda ist zu subtil, zu gereift, um dies so auszusprechen wie ich es mir hier anmaße, aber still und leise, begraben unter dem liebevollen Blick ihrer Kamera offenbart sich die politische Drastik ihres Films.


Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die französische Filmemacherin mehr und mehr vom fiktionalen Film entfernt, und sich der dokumentarischen Form zugewandt. Ihr Gespür fürs Geschichtenerzählen geht dadurch aber keineswegs verloren. Auch wie selbstverständlich sie neue Medien wie die Videokamera neben klassischen Film stellt und die beiden Formen nahtlos ineinander übergehen lässt ist bemerkenswert – diese Frau hat nie aufgehört zu lernen. Gerade angesichts ihres fortgeschrittenen Alters ist diese Flexibilität bewundernswert. Das Resultat aus handwerklicher Raffinesse und sozialem Gespür ist ein „greifbarer“ Film im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Film zum Anfassen. Sammeln als Akt des Greifens. Immer wieder spielt auch Varda mit diesem Bild, dann wenn ihre eigene Hand ins Bild rutscht. Dann bekommt der Film eine ganz bestimmte Materialität und der Sozialrealismus wandelt sich für einige Sekunden in Poetik. Materialistische Poetik, so könnte man Vardas Stil hier beschreiben, und ich denke die Bezeichnung würde ihr gefallen.


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