Mittwoch, 11. September 2013

Venedig 2013: Ein Festival der streunenden Hunde



Ausgelaugt laufen ein paar Kritiker in der Dunkelheit durchs Movie Village. Einige liegen auf den nach Gummi riechenden Sitzkissen, die im Gras wie letzte Inseln warten. Die Akkreditierungen baumeln nur noch wie die Überreste einer verlorenen Zugehörigkeit an den durstigen Hälsen der Filmbranche. Man stellt sich an und wartet. „Ciao“, heißt es da und dann sagt man irgendwas wie Pizza oder Pasta und zahlt über 10 Euro. Gottseidank hat man am Tag praktisch nur für eine richtige Mahlzeit Zeit, weil sonst würden bald nur noch reiche Menschen Filme (auf Festivals) sehen können. Der Lido bietet keine Möglichkeiten sich kostengünstig zu verpflegen oder fortzubewegen. Irgendwelche betuchten Anzugsmenschen, die ihr Kapital in Filmen suchen, leben in schicken Hotels, kleiden sich schrecklich und dinieren in teuren Lokalen, während Kritiker, also jene Branche, die das ganze System mit antreibt in eingepferchten Apartments von Mücken gejagt werden und um jeden Cent Bezahlung kämpfen müssen. Es ist ein Überlebenskampf gar nicht so unähnlich jenem von „Stray Dogs“, dem vieldiskutierten Wettbewerbsbeitrag von Tsai Ming-Liang. 


Nur herrscht im Film Melancholie und Gefühl, bewegt sich der Festivalbesucher oft notgedrungen nur noch auf Oberflächen, um am schnellsten dieses oder jenes Review auszukotzen, um am effektivsten möglichst viele Filme in möglichst kurzer Zeit zu sehen; der Markt ist unerbittlich und auch zuhause warten auf viele jene durstigen Hälse. Wenn man sieht wie 50 Prozent des Publikums vor den Augen des anwesenden Regisseurs den Saal verlassen während „Stray Dogs“, weil inmitten dieser Hektik keiner Zeit hat für einen Film, der sich Zeit nimmt, weiß man, dass Tsai Ming-Liang nicht nur einen Film über das Leben, sondern über das Kino an sich gedreht hat. Das versinnbildlicht er mit einer bemalten/beklebten Wand in einem heruntergekommenen Gebäude, auf der ein wunderschönes Flussbett zu sehen ist. Die Protagonisten erstarren in Ehrfurcht vor dem Bild und betrachten es. In der Aussicht bekommt ihre Aussichtslosigkeit wenigstens für Sekunden einen Sinn, ein Gefühl. Also ähnlich wie die Filme selbst in Venedig, die einen daran erinnern, warum man eigentlich das Wasser überquert hat. Doch nicht alle streunenden Hunde haben die Geduld für den vielleicht letzten Film von Tsai Ming-Liang. Es geht ja schließlich ums Überleben und deshalb kann man durchaus schnell aus dem Kino twittern und sich über eventuelle Langeweile echauffieren. Handys erleuchten den Kinosaal wie früher Feuerzeuge bei großen Balladen auf Konzerten. 


In „Medeas“ von Andrea Pallaoro setzt der Vater den Hund, nachdem er seinen Sohn gebissen hat, in der Wüste aus. Es bleibt das verlorene Bild des Hundes, der im Staub des wegfahrenden Jeeps verschwindet; eine Staubwolke, die auch die Filme zu überwältigen droht, wenn man einen nach dem anderen ansieht und darüber schreiben und diskutieren muss. Am Ende bleibt dann nicht mehr der Film, sondern nur die Ansammlung eigentlich unwichtiger Meinungen, die sich alle gegenseitig übertreffen wollen und darüber vergessen wie individuell ihr Erlebnis doch war. So auch in „Stray Dogs“, der den Zuseher einlädt über die Bilder hinweg zu sehen, der Schönheit auskostet bis man völlig abdriftet oder völlig darin versinkt. Er erzählt die Geschichte einer Familie am Rande der Gesellschaft auf der Suche nach einer verlorenen Mutter. Ernährung, Hygiene und Schlaf sind essentielle Themen im Film. Dinge, die einen bei einem Festival durchaus abgehen. Am Abend sitzen die Akkreditierten und Filmbegeisterten dann zusammen. Sie werden nicht müde. Das ist ihre größte Tugend und ihr größter Fehler, denn da sie nicht müde werden, merkt niemand wie es ihnen tatsächlich geht. 


Das Wassertaxi Richtung Flughafen kostet dann einen Haufen Geld und irgendwann kommt man nach Hause und schläft. Und als keiner mehr daran glaubt, lässt Pallaoro den Hund zurückkehren. Er hat Hunger. Aber die Familie ist nicht mehr da. Zumindest davor muss der streunende Festivalbesucher noch keine Angst haben, obwohl man nicht selten das Gefühl hat, dass auch Film nicht mehr wirklich da ist im Irrsinn des Festivalbetriebs. Es wird Zeit ins Kino zu gehen.


1 Kommentar:

  1. Es war eine wunderbare Veranstaltung, wie immer. Congrats und Dank an die Organisatoren!

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