Ausgelaugt laufen ein paar Kritiker in der Dunkelheit durchs
Movie Village. Einige liegen auf den nach Gummi riechenden Sitzkissen, die im
Gras wie letzte Inseln warten. Die Akkreditierungen baumeln nur noch wie die
Überreste einer verlorenen Zugehörigkeit an den durstigen Hälsen der
Filmbranche. Man stellt sich an und wartet. „Ciao“, heißt es da und dann sagt
man irgendwas wie Pizza oder Pasta und zahlt über 10 Euro. Gottseidank hat man
am Tag praktisch nur für eine richtige Mahlzeit Zeit, weil sonst würden bald
nur noch reiche Menschen Filme (auf Festivals) sehen können. Der Lido bietet
keine Möglichkeiten sich kostengünstig zu verpflegen oder fortzubewegen. Irgendwelche
betuchten Anzugsmenschen, die ihr Kapital in Filmen suchen, leben in schicken
Hotels, kleiden sich schrecklich und dinieren in teuren Lokalen, während
Kritiker, also jene Branche, die das ganze System mit antreibt in
eingepferchten Apartments von Mücken gejagt werden und um jeden Cent Bezahlung
kämpfen müssen. Es ist ein Überlebenskampf gar nicht so unähnlich jenem von
„Stray Dogs“, dem vieldiskutierten Wettbewerbsbeitrag von Tsai Ming-Liang.
Nur herrscht im Film Melancholie und Gefühl, bewegt sich der
Festivalbesucher oft notgedrungen nur noch auf Oberflächen, um am schnellsten
dieses oder jenes Review auszukotzen, um am effektivsten möglichst viele Filme
in möglichst kurzer Zeit zu sehen; der Markt ist unerbittlich und auch zuhause
warten auf viele jene durstigen Hälse. Wenn man sieht wie 50 Prozent des
Publikums vor den Augen des anwesenden Regisseurs den Saal verlassen während
„Stray Dogs“, weil inmitten dieser Hektik keiner Zeit hat für einen Film, der
sich Zeit nimmt, weiß man, dass Tsai Ming-Liang nicht nur einen Film über das
Leben, sondern über das Kino an sich gedreht hat. Das versinnbildlicht er mit
einer bemalten/beklebten Wand in einem heruntergekommenen Gebäude, auf der ein
wunderschönes Flussbett zu sehen ist. Die Protagonisten erstarren in Ehrfurcht
vor dem Bild und betrachten es. In der Aussicht bekommt ihre Aussichtslosigkeit
wenigstens für Sekunden einen Sinn, ein Gefühl. Also ähnlich wie die Filme
selbst in Venedig, die einen daran erinnern, warum man eigentlich das Wasser
überquert hat. Doch nicht alle streunenden Hunde haben die Geduld für den vielleicht
letzten Film von Tsai Ming-Liang. Es geht ja schließlich ums Überleben und
deshalb kann man durchaus schnell aus dem Kino twittern und sich über eventuelle
Langeweile echauffieren. Handys erleuchten den Kinosaal wie früher Feuerzeuge
bei großen Balladen auf Konzerten.
In „Medeas“ von Andrea Pallaoro setzt der Vater den Hund, nachdem
er seinen Sohn gebissen hat, in der Wüste aus. Es bleibt das verlorene Bild des
Hundes, der im Staub des wegfahrenden Jeeps verschwindet; eine Staubwolke, die
auch die Filme zu überwältigen droht, wenn man einen nach dem anderen ansieht
und darüber schreiben und diskutieren muss. Am Ende bleibt dann nicht mehr der
Film, sondern nur die Ansammlung eigentlich unwichtiger Meinungen, die sich
alle gegenseitig übertreffen wollen und darüber vergessen wie individuell ihr
Erlebnis doch war. So auch in „Stray Dogs“, der den Zuseher einlädt über die
Bilder hinweg zu sehen, der Schönheit auskostet bis man völlig abdriftet oder
völlig darin versinkt. Er erzählt die Geschichte einer Familie am Rande der
Gesellschaft auf der Suche nach einer verlorenen Mutter. Ernährung, Hygiene und
Schlaf sind essentielle Themen im Film. Dinge, die einen bei einem Festival
durchaus abgehen. Am Abend sitzen die Akkreditierten und Filmbegeisterten dann
zusammen. Sie werden nicht müde. Das ist ihre größte Tugend und ihr größter
Fehler, denn da sie nicht müde werden, merkt niemand wie es ihnen tatsächlich
geht.
Das Wassertaxi Richtung Flughafen kostet dann einen Haufen
Geld und irgendwann kommt man nach Hause und schläft. Und als keiner mehr daran
glaubt, lässt Pallaoro den Hund zurückkehren. Er hat Hunger. Aber die Familie
ist nicht mehr da. Zumindest davor muss der streunende Festivalbesucher noch
keine Angst haben, obwohl man nicht selten das Gefühl hat, dass auch Film nicht
mehr wirklich da ist im Irrsinn des Festivalbetriebs. Es wird Zeit ins Kino zu
gehen.
Es war eine wunderbare Veranstaltung, wie immer. Congrats und Dank an die Organisatoren!
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