Komm schon liebes Kino, lass uns eine bunte Tablette
schlucken, miteinander schlafen und verschwinden. Lass mich die Welt neu sehen,
lass sie mich neu erleben. Zu elektronischen Beats treiben Geister und
Skateboarder ihr Unwesen im philippinischen Urwald; unscharfe Figuren torkeln
durch Zeitlupensequenzen und dauernder, umgestellter Regen lässt die
hypnotischen Bilder dampfen. Lass uns im Regen tanzen, durch die ganze Nacht.
In einer dolanesquen Geistergeschichte, die den Horror durch Film erzählt statt
mit Film Horror zu erschaffen, bedient „How to disappear completely“ auch das
Repertoire eines Apichatpong Weerasethakul samt Volkssagen und dem Bruch mit
der vierten Wand, die hier sowieso nur zum Dubstep von Eyedress vibrieren
würde. In nie gesehenen assoziativen Strömen fängt Raya Martin das Gefühl von
einer kindlichen Bedrohung, vom Albtraum der Kinder auf; es ist eine
Wahnvorstellung, die sich am Ende gegen sich selbst verkehrt. Ganz so wie, wenn
die Skateboardgang am Friedhof Kreuze zerschlägt und dann kleine Mädchen jagt
und damit die Stätte des letzten Friedens zu einem Ort jugendlicher Anarchie
verkommen lässt, werden auch die Kinder, die Opfer des Blicks und ihrer Eltern
sind zu grausamen Tätern; sie verbünden sich mit ihren Ängsten und erschießen
eine ganze Generation.
Warum? Wegen des Gefühls. Das ist zumindest, was im Film
zu hören ist.
Ein Hinterkopf und dröhnende Wellen. Langsam eröffnet sich in der
Tiefe des Bildes der Ozean. Und dann sind plötzlich alle Kinder weg. Es ist ein
verstörender Film über einen Generationswechsel, ein Schrei nach einer neuen
Form des Kinoerzählens. Inspiriert vom amerikanischen Indie-Horror zaubert
Martin Stimmungen auf sein Trance-Tablett, die einem die Haare zu Berge stehen
lassen. Improvisation und Bewegung, Horror und Drama, Mutter und Tochter, alles
vereinigt sich hier; ein inzestuöser Hauch fegt über die kargen Gesichter eines
brillanten Casts; überall sind Puppen, die in die Kamera blicken. Martin lässt
mich das Denken vergessen, ich nehme noch eine Tablette.
Film ist das Gefühl
von Horror. Film ist das Gefühl. Film ist. Film.
Natürlich geht Martin am Ende
über die Schmerzgrenze, er verliert fast seinen Geschmack. Man schmeckt nichts
mehr, wenn man so lange durch die Nacht getanzt hat. In Flammen erscheint der
Titel kurz vor Ende des Films auf der Leinwand; der Film brennt. Die zirpenden
Grillen des Urwaldes werden auf der Tonebene zu kreischenden Monstern,
isolierter Bass drückt das Herz in eine unbekannte Zone, ein Zeh kratz über
einen Unterschenkel. Dunkelheit und Licht werfen schon auf dem Zimmerboden der
Protagonistin gefährliche Schatten auf die Familie. In einer langen Szene sieht
man das Mädchen von hinten am Essenstisch während links und rechts von ihr in
der Unschärfe Mutter und Vater beginnen zu streiten. Martin arbeitet mit einer
Entfremdung und der surreale „Lost Highway“ transzendierende Horror ist sein
unsichtbarer Umhang, der alles Drama hinter einer Maske des Grauens versteckt.
Wie eine Welle, die ganze Landstriche unter Wasser setzt, blicken nur noch
kleine Hügel heraus. Woher hast du diese Tablette liebes Kino?
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