„Als ich ein kleiner Junge war, fragte ich meine Mutter,
warum wir uns nicht umbringen würden und so direkt in den Himmel kommen
könnten.“
Es ist unheimlich schwer von Carlos Reygadas zu schreiben,
ohne ins Schwärmen zu geraten. Mit
seinen vier Spielfilmen und drei Kurzfilmen gehört der Mexikaner derzeit zu den
Taktgebern des modernen Kinos. In seinen Filmen und auch in Interviews setzt er
sich für ein Kino ohne Literatur ein. Damit meint er, dass eben nicht Wörter in
Bilder übersetzt werden, wie dass bei einem Großteil der Filme so üblich ist,
sondern dass die Sensation des Kinos alleine von Bild und Ton ausgehen muss.
Seine Drehbücher sind 20seitige Fließtexte, die mit Sekundenangaben genau
beschreiben, was man sieht und hört. Das eigentliche Drehbuch sind dann
detaillierte Storyboards, die Reygadas erstellt. In Frankreich spricht man
deshalb schon von einer „L’école Reygadas“, die natürlich Ähnlichkeiten zu
Andrei Tarkowski oder Robert Bresson aufweist.
Wie die beiden Größen der Filmgeschichte lässt auch Reygadas Räume
aufklaffen, die der Zuseher selbst füllen muss. Er ist ein respektvoller
Filmemacher, der scheinbar metaphorisch arbeitet, aber immer verschiedene
Auswege lässt. Etwas pulsiert immer unter den Filmen, eine unsichtbare Kraft,
die mal Bedrohung, mal Leid, mal Harmonie bringt. Reygadas nimmt das Kino
ernst, er sieht es als ein Medium, das die Realität einfangen kann. Er setzt
sich selbst keine Grenzen und öffnet damit Türen, die dem Kino nie verschlossen
waren, die aber den Menschen, die Kino machen, oft verschlossen sind. Furchtlos
und scheinbar ohne Regeln erkennt der Spätberufene das Potenzial des Mediums
und ruft es in einer Vollkommenheit ab, die nur Wenige vor ihm erreicht haben.
Bild und Ton haben bei ihm tausende Facetten, sie können in tausenden Varianten
miteinander oder gegeneinander spielen, alles ist Wahrnehmung. Subjektivität
und Objektivität, Traum, Erinnerung, Gegenwart, alles wird in einen
gigantischen Topf geworfen und produziert ein Licht nach der Dunkelheit des Kinos.
Dabei sind die Bilder komponiert, den Zufall und die Unberechenbarkeit wirft er
erst am Set mit in das Geschehen. Er filmt an echten und seinen Vorhaben
entsprechenden Orten, die er möglichst wenig verändert. Lieber sucht er 30
verschiedene Locations bis er einen hat, der seinen Bedürfnissen entspricht,
als eine Location seinen Bedürfnissen anzupassen. Es ist eine manische Suche
nach Wahrheit, die ihm immer dann gelingt, wenn er nicht zu wütend ist. Wütend
auf das Kino bricht er manchmal vorsätzlich Tabus und verliert sich darin.
Diese Schwäche ist aber gleichzeitig eine Stärke, denn sie wirft ein
menschliches, ja eckiges Element in seine Filme und lässt sie leben. Er
verweigert die Abrundung am Ende, jene große Schwäche so vieler Filme, wenn in
der letzten Szene noch irgendeine Form von Hoffnung, ein versöhnliches Bild
oder einfach das Wiederaufgreifen eines ersten Bildes gezeigt werden muss. Bei
Reygadas geht das Leben über den Film hinaus und seine Filme lassen das
erahnen. Er steht damit auch in der existentialistischen Tradition eines
Michelangelo Antonioni. Im Zentrum des Kinos schlägt das Herz von Carlos
Reygadas so laut, dass Bäume auf der Leinwand beginnen umzufallen.
Ein Mann wandert durstig in ein Tal. Die Sonne brennt vom
Himmel. Eine ältere Frau bietet ihm etwas zu trinken an. Erst weiß er nicht so
recht. Dann bringt sie kalten Tee. Ich habe selten eine solche Körperlichkeit,
ein solches Verlangen nach Flüssigkeit gesehen wie auf der Haut dieses Mannes.
Selten habe ich Durst so gut visualisiert gesehen, die Differenz zwischen Kälte
und Hitze…dann bekommt der Mann Hunger und bekommt ein Stück trockenen Kuchen
gereicht. Die Kamera bewegt sich dabei kaum. Man spürt alles. In seinem ersten
Spielfilm „Japón“ erforscht Reygadas Körper, Einsamkeit, Abhängigkeit und
Triebe.
Es sind vier Elemente, die sich wie lebendige Schlangen
durch die Filme von Reygadas winden.
Das einfache Sein
Sex
Tod
Gefühl
1.Das einfache Sein
Bei Reygadas ist das Schauspiel immer passiv. Er besetzt
Laien, deren Gesichter und Körper er erforscht, die aber nicht spielen, sondern
einfach nur sind. Es ist die Fähigkeit des Kinos zur nackten Abbildung, die ihn
interessiert. Ein Kuss in „Stellet Licht“ ist ein körperliches Feuerwerk, das
Fell eines Hundes ist hörbar und bis zu den Stoppeln sichtbar und deshalb auch
riechbar, beim Oralverkehr in „Batalla en el cielo“ fokussiert Reygadas Augen
und Haare seiner Protagonistin, lässt sie aber immer wieder in die Unschärfe
gleiten und macht so sichtbar, was eigentlich nur fühlbar ist. Das einfache
Sein fängt er auch mit Kindern ein. Wenn er seine eigene Tochter in „Post
Tenebras Lux“ durch ein überflutetes Feld voller Kühe, Pferde und Hunde rennen
lässt, fängt er nur die Momente ein, die sie ihm schenkt. Es ist als würde die
Kamera in die Gegenwart geschmissen werden und ums Überleben schwimmen. Die
Tiere sind ein zweiter lebendiger Faktor in seinen Szenen. Er filmt die Tiere
beim Sex, beim Essen, beim Trinken, beim Existieren. Oft wenden die Menschen
Gewalt gegen die Vierbeiner und andere Tiere an, als ob sie das einfache Sein
unterbinden wollten. Das einfache Sein wird immer auch hinterfragt bei
Reygadas, weil er dazu neigt es zu zerstören. Von Menschen, die sich umbringen,
bis hin zu apokalyptischen Szenen in „Japón“, von Glocken, die mit aller Kraft
zum läuten gebracht werden müssen, bis hin zu einem ausgezerrten nackten
Körper. Dann dreht ein Junge einem Vogel den Hals um. Die Konturen auf der
Leinwand sind die eines cineastischen Malers, der den Raum mit Bildern und Tönen
füllt. Denn auch der Ton existiert einfach bei Reygadas. Die Tränen des Vaters
in „Stellet Licht“ kommen aus dem Magen, sie werden von Grillen und einem
merkwürdigen hellen Geräusch begleitet. Alleine die erste Einstellung spielt
die Musik jener Natur, die Reygadas so gerne in seinen Filmen hat, weil sie
sich auch durch ihre bloße Existenz zum Objekt des Interesses macht; er führt
mit seinen Filmen zurück zur kindlichen Neugier des Schauens und Hörens, als
alles noch spektakulär und neu war. Für Reygadas ist Film in erster Linie
Abbildung, aber er verschärft sie, erhöht sie und gibt ihr jene Magie zurück,
die sie durch die visuelle und akustische Flut des Alltags längst verloren hat.
Das Licht spielt nicht nur in den Filmtiteln des Regisseurs eine große Rolle. Wenn
es regnet, dann schüttet es. Und dann sind eben die Pfützen oder Wasser, das sich
auf Sand bewegt genauso interessant wie die verwaschenen Tränen auf dem Gesicht
seiner Protagonisten oder ein schutzloses Tier, das dem Regen ausgeliefert ist.
Er treibt durch seine Visionen und lässt sich auf Nebenfiguren, Nebenschauplätze,
Nebengeräusche ein. Ständige Realität, ein einfaches Sein. Es scheint logisch,
dass die Kamera mit Wasser bespritzt wird im Regen oder dass die Ränder des
Bildes einen matten Effekt aufweisen, der Objekte, die seitlich ins Bild kommen,
doppelt und so jeden Auftritt zu einem Ereignis machen, das Vergangenheit und
Gegenwart zu einem Kuss inspiriert wie in „Post Tenebras Lux“. Es ist nur
logisch, dass er in seinem Segment „Este es mi reino“ im Omnibus-Film „Revolución“
die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung auslotet.
2.Sex
Immer wieder betont Reygadas in seinen Interviews, dass für
ihn die Darstellung von Sexualität völlig normal sei. Gekonnt weißt er Fragen danach
zurück, indem er sagt, dass man alle
anderen Regisseure befragen müsse, die Sexualität nicht offen zeigen würden. Er
hat Recht und ein kritisches Hinterfragen von Sexualdarstellung in dem
Realismus verschriebenen Filmen, zeigt nichts anderes an, als die Verblödung
des jeweiligen Kritikers. Wenn es Teil des Lebens ist und dieser Regisseur für
jeden absolut spürbar versucht das Leben einzufangen, gehört expliziter Sex,
der körperlich ist und vielleicht nicht immer schön, der Schwächen offenbart,
der brutal ist, der nicht funktioniert, der einsam ist, der harmonisch ist, der
glücklich macht, einfach dazu. Für Reygadas spielt beim Sex die Beziehung zur
Mutter eine große Rolle. Schon in „Maxhumain“ geht der Blick des Jungen am
Strand auf die Brüste seiner Mutter, in der Swingersauna in „Post Tenebras Lux“
kümmert sich eine ältere Frau fürsorglich um die Protagonistin, die von
mehreren Männern penetriert wird. Für Reygadas ist Sex keine Ausstellung von
Schönheit oder Erotik, sondern ein existentieller Trieb, eine Notwendigkeit.
Nicht umsonst zeigt er in „Japón“ zwei Pferde beim Geschlechtsverkehr, er
betont auch beim Sex selbst das animalisch-körperliche Element. Daher kann und
muss er auch Geschlechtsteile zeigen. Die Art und Weise wie er die Welt wahrnimmt
und das auf Film bannt, würde kranken, wenn er auch nur ein wenig an der
Echtheit des Gezeigten zweifeln würde. Er sagt selbst, dass er Tabus nur dann
brechen würde, wenn es etwas über den Charakter aussagen könnte. Er lässt dicke
und alte, dünne und zerstörte Menschen miteinander schlafen genauso wie er sie
mit schönen, fast perfekten, traurigen und fröhlichen schlafen lässt. Sex heißt
aber nicht nur Sex im Kino von Carlos Reygadas. Er öffnet Abgründe, zeigt
Abhängigkeiten an. Er erforscht eine innere Abgestumpftheit wie in „Batalla en
el cielo“ oder eine tiefe Traurigkeit wie in „Japón“. Seiner Kamera kann man
dabei genauso wenig trauen, wie den emotionalen Regungen seiner Figuren. Mal
hält sie brave Distanz, mal bewegt sie sich um die Körper, mal zeigt sie alles;
auch hier ist Hören eine Sensation. Atmen, Stöhnen, das Rascheln und Knarzen
des Bettes; Reygadas filmt Sex als gesteigerte Wahrnehmung.
3.Tod
Immer gibt es auch ein sakrales, ein übersinnliches Element
in den Filmen von Reygadas. So kommt der Teufel mit einem Werkzeugkasten ins
Haus der Familie in „Post Tenebras Lux“, wird die Frau in „Stellet Licht“
wieder zum Leben erweckt und vollzieht sich in „Japón“ ein apokalyptischer
Unfall, der wie ein Sturm des Todes über den Film zieht. Man hat das Gefühl die
Kamera würde den Blick des Teufels zeigen. Auch deshalb, weil Reygadas mit der
Zeit macht, was er will. So trifft in „Maxhumain“ ein am Ufer des Meeres
gefesselter Mann sich selbst in einer jüngeren Version. Immer wieder gibt es unerklärte
Zeitsprünge in den Filmen, vermischt sich das Vergängliche mit dem Vergangenen.
Irritierend sind seine suizidalen Szenen. Von einer Masturbationsszene, in der
der Protagonist eine Waffe an seine Brust hält in „Japón“ bis zum schlichten
Herunterreißen des eigenen Kopfes in „Post Tenebras Lux“. Überbelichtungen,
Unschärfen, Fahrten ins Nichts. Fast einem meditativen Rhythmus folgen seine
Filme; sie erscheinen ruhig doch entsprechen in ihrem Inneren den Schwingungen
eines Erdbebens. So filmt er in einer Mennoniten-Gemeinde, einer religiösen
Gruppierung, die dem Ende nahe ist; das Ende schwingt immer und jederzeit mit.
Im Unterschied zu beispielsweise Abbas Kiarostami begreift Reygadas das Sterben
nicht als philosophischen, zeitlosen Akt, sondern als ultimative Präsenz. Für
ihn ist das Sterben tatsächlich ein Ausweg, vielleicht sogar eine Flucht. Ein
religiöses Surren ist zu hören. Themen wie Wiedergeburt, Auferstehung, Vergebung
und Paradies spielen eine entscheidende Rolle. Reygadas lässt seine Figuren
manchmal im Himmel kämpfen, öfter aber gegen den Himmel. Der Tod ist
allgegenwärtig, aber in ihm liegt auch eine Hoffnung. Aus der Nacht kommt bei
Reygadas eine Morgendämmerung. Sie rettet nicht, aber sie ist. Daher sind der
Tod und natürlich auch der Sex im Kino von Reygadas nur eine Art des einfachen
Seins.
4. Gefühl
Die Filme, die es dann auf die Leinwand schaffen, sind
schwer zu greifen. Sie sind ein brachiales Gefühl, das einen zum Teil
überwältig, zum Teil schockiert, manchmal in Angst versetzt, häufig mitfühlen
lässt, immer Freiheit lässt. Reygadas ist ein Regisseur, der Räume und Natur
greifbar macht und damit etwas zwischen zwei Figuren sichtbar werden lässt.
Wenn der Mann und seine Frau in „Post Tenebras Lux“ im Auto sitzen, spürt man
eine Gewalt, die nicht von außen kommt. Die Bedrohung ist in den Personen
selbst. Seine Kamera wagt Blicke hinter die Fassaden, er macht einen Close-Up,
nur dann wenn er etwas erzählt. Bei ihm verschwimmen die Blickpunkte, alles ist
der subjektive Blickpunkt des Zuschauers. Reygadas inszeniert eben auch den
Off-Screen, seine Auflösung besteht oft aus dem, was nicht zu sehen ist und er
wählt mit unheimlicher Umsicht was zu sehen ist. Das Unsichtbare und das
Sichtbare wagen einen Tanz. Reygadas bringt Licht ins Kino.
„Sie sagte, dass nur Gott zurücknehmen könne, was er gegeben
habe. Ich sagte, dass wenn Gott wirklich perfekt wäre, er uns nicht testen würde.
Sie sagte es sei kein Test, sondern ein Geschenk.“
Trailer
Japón
Batalla en el cielo
Stellet Licht
Post Tenebras Lux
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