Dienstag, 17. September 2013

Carlos Reygadas-Regisseur



„Als ich ein kleiner Junge war, fragte ich meine Mutter, warum wir uns nicht umbringen würden und so direkt in den Himmel kommen könnten.“ 


Es ist unheimlich schwer von Carlos Reygadas zu schreiben, ohne ins Schwärmen zu geraten.  Mit seinen vier Spielfilmen und drei Kurzfilmen gehört der Mexikaner derzeit zu den Taktgebern des modernen Kinos. In seinen Filmen und auch in Interviews setzt er sich für ein Kino ohne Literatur ein. Damit meint er, dass eben nicht Wörter in Bilder übersetzt werden, wie dass bei einem Großteil der Filme so üblich ist, sondern dass die Sensation des Kinos alleine von Bild und Ton ausgehen muss. Seine Drehbücher sind 20seitige Fließtexte, die mit Sekundenangaben genau beschreiben, was man sieht und hört. Das eigentliche Drehbuch sind dann detaillierte Storyboards, die Reygadas erstellt. In Frankreich spricht man deshalb schon von einer „L’école Reygadas“, die natürlich Ähnlichkeiten zu Andrei Tarkowski oder Robert Bresson aufweist.  Wie die beiden Größen der Filmgeschichte lässt auch Reygadas Räume aufklaffen, die der Zuseher selbst füllen muss. Er ist ein respektvoller Filmemacher, der scheinbar metaphorisch arbeitet, aber immer verschiedene Auswege lässt. Etwas pulsiert immer unter den Filmen, eine unsichtbare Kraft, die mal Bedrohung, mal Leid, mal Harmonie bringt. Reygadas nimmt das Kino ernst, er sieht es als ein Medium, das die Realität einfangen kann. Er setzt sich selbst keine Grenzen und öffnet damit Türen, die dem Kino nie verschlossen waren, die aber den Menschen, die Kino machen, oft verschlossen sind. Furchtlos und scheinbar ohne Regeln erkennt der Spätberufene das Potenzial des Mediums und ruft es in einer Vollkommenheit ab, die nur Wenige vor ihm erreicht haben. Bild und Ton haben bei ihm tausende Facetten, sie können in tausenden Varianten miteinander oder gegeneinander spielen, alles ist Wahrnehmung. Subjektivität und Objektivität, Traum, Erinnerung, Gegenwart, alles wird in einen gigantischen Topf geworfen und produziert ein Licht nach der Dunkelheit des Kinos. Dabei sind die Bilder komponiert, den Zufall und die Unberechenbarkeit wirft er erst am Set mit in das Geschehen. Er filmt an echten und seinen Vorhaben entsprechenden Orten, die er möglichst wenig verändert. Lieber sucht er 30 verschiedene Locations bis er einen hat, der seinen Bedürfnissen entspricht, als eine Location seinen Bedürfnissen anzupassen. Es ist eine manische Suche nach Wahrheit, die ihm immer dann gelingt, wenn er nicht zu wütend ist. Wütend auf das Kino bricht er manchmal vorsätzlich Tabus und verliert sich darin. Diese Schwäche ist aber gleichzeitig eine Stärke, denn sie wirft ein menschliches, ja eckiges Element in seine Filme und lässt sie leben. Er verweigert die Abrundung am Ende, jene große Schwäche so vieler Filme, wenn in der letzten Szene noch irgendeine Form von Hoffnung, ein versöhnliches Bild oder einfach das Wiederaufgreifen eines ersten Bildes gezeigt werden muss. Bei Reygadas geht das Leben über den Film hinaus und seine Filme lassen das erahnen. Er steht damit auch in der existentialistischen Tradition eines Michelangelo Antonioni. Im Zentrum des Kinos schlägt das Herz von Carlos Reygadas so laut, dass Bäume auf der Leinwand beginnen umzufallen.


Ein Mann wandert durstig in ein Tal. Die Sonne brennt vom Himmel. Eine ältere Frau bietet ihm etwas zu trinken an. Erst weiß er nicht so recht. Dann bringt sie kalten Tee. Ich habe selten eine solche Körperlichkeit, ein solches Verlangen nach Flüssigkeit gesehen wie auf der Haut dieses Mannes. Selten habe ich Durst so gut visualisiert gesehen, die Differenz zwischen Kälte und Hitze…dann bekommt der Mann Hunger und bekommt ein Stück trockenen Kuchen gereicht. Die Kamera bewegt sich dabei kaum. Man spürt alles. In seinem ersten Spielfilm „Japón“ erforscht Reygadas Körper, Einsamkeit, Abhängigkeit und Triebe. 


Es sind vier Elemente, die sich wie lebendige Schlangen durch die Filme von Reygadas winden.

Das einfache Sein

Sex

Tod

Gefühl

1.Das einfache Sein


Bei Reygadas ist das Schauspiel immer passiv. Er besetzt Laien, deren Gesichter und Körper er erforscht, die aber nicht spielen, sondern einfach nur sind. Es ist die Fähigkeit des Kinos zur nackten Abbildung, die ihn interessiert. Ein Kuss in „Stellet Licht“ ist ein körperliches Feuerwerk, das Fell eines Hundes ist hörbar und bis zu den Stoppeln sichtbar und deshalb auch riechbar, beim Oralverkehr in „Batalla en el cielo“ fokussiert Reygadas Augen und Haare seiner Protagonistin, lässt sie aber immer wieder in die Unschärfe gleiten und macht so sichtbar, was eigentlich nur fühlbar ist. Das einfache Sein fängt er auch mit Kindern ein. Wenn er seine eigene Tochter in „Post Tenebras Lux“ durch ein überflutetes Feld voller Kühe, Pferde und Hunde rennen lässt, fängt er nur die Momente ein, die sie ihm schenkt. Es ist als würde die Kamera in die Gegenwart geschmissen werden und ums Überleben schwimmen. Die Tiere sind ein zweiter lebendiger Faktor in seinen Szenen. Er filmt die Tiere beim Sex, beim Essen, beim Trinken, beim Existieren. Oft wenden die Menschen Gewalt gegen die Vierbeiner und andere Tiere an, als ob sie das einfache Sein unterbinden wollten. Das einfache Sein wird immer auch hinterfragt bei Reygadas, weil er dazu neigt es zu zerstören. Von Menschen, die sich umbringen, bis hin zu apokalyptischen Szenen in „Japón“, von Glocken, die mit aller Kraft zum läuten gebracht werden müssen, bis hin zu einem ausgezerrten nackten Körper. Dann dreht ein Junge einem Vogel den Hals um. Die Konturen auf der Leinwand sind die eines cineastischen Malers, der den Raum mit Bildern und Tönen füllt. Denn auch der Ton existiert einfach bei Reygadas. Die Tränen des Vaters in „Stellet Licht“ kommen aus dem Magen, sie werden von Grillen und einem merkwürdigen hellen Geräusch begleitet. Alleine die erste Einstellung spielt die Musik jener Natur, die Reygadas so gerne in seinen Filmen hat, weil sie sich auch durch ihre bloße Existenz zum Objekt des Interesses macht; er führt mit seinen Filmen zurück zur kindlichen Neugier des Schauens und Hörens, als alles noch spektakulär und neu war. Für Reygadas ist Film in erster Linie Abbildung, aber er verschärft sie, erhöht sie und gibt ihr jene Magie zurück, die sie durch die visuelle und akustische Flut des Alltags längst verloren hat. Das Licht spielt nicht nur in den Filmtiteln des Regisseurs eine große Rolle. Wenn es regnet, dann schüttet es. Und dann sind eben die Pfützen oder Wasser, das sich auf Sand bewegt genauso interessant wie die verwaschenen Tränen auf dem Gesicht seiner Protagonisten oder ein schutzloses Tier, das dem Regen ausgeliefert ist. Er treibt durch seine Visionen und lässt sich auf Nebenfiguren, Nebenschauplätze, Nebengeräusche ein. Ständige Realität, ein einfaches Sein. Es scheint logisch, dass die Kamera mit Wasser bespritzt wird im Regen oder dass die Ränder des Bildes einen matten Effekt aufweisen, der Objekte, die seitlich ins Bild kommen, doppelt und so jeden Auftritt zu einem Ereignis machen, das Vergangenheit und Gegenwart zu einem Kuss inspiriert wie in „Post Tenebras Lux“. Es ist nur logisch, dass er in seinem Segment „Este es mi reino“ im Omnibus-Film „Revolución“ die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung auslotet.

2.Sex


Immer wieder betont Reygadas in seinen Interviews, dass für ihn die Darstellung von Sexualität völlig normal sei. Gekonnt weißt er Fragen danach zurück, indem er  sagt, dass man alle anderen Regisseure befragen müsse, die Sexualität nicht offen zeigen würden. Er hat Recht und ein kritisches Hinterfragen von Sexualdarstellung in dem Realismus verschriebenen Filmen, zeigt nichts anderes an, als die Verblödung des jeweiligen Kritikers. Wenn es Teil des Lebens ist und dieser Regisseur für jeden absolut spürbar versucht das Leben einzufangen, gehört expliziter Sex, der körperlich ist und vielleicht nicht immer schön, der Schwächen offenbart, der brutal ist, der nicht funktioniert, der einsam ist, der harmonisch ist, der glücklich macht, einfach dazu. Für Reygadas spielt beim Sex die Beziehung zur Mutter eine große Rolle. Schon in „Maxhumain“ geht der Blick des Jungen am Strand auf die Brüste seiner Mutter, in der Swingersauna in „Post Tenebras Lux“ kümmert sich eine ältere Frau fürsorglich um die Protagonistin, die von mehreren Männern penetriert wird. Für Reygadas ist Sex keine Ausstellung von Schönheit oder Erotik, sondern ein existentieller Trieb, eine Notwendigkeit. Nicht umsonst zeigt er in „Japón“ zwei Pferde beim Geschlechtsverkehr, er betont auch beim Sex selbst das animalisch-körperliche Element. Daher kann und muss er auch Geschlechtsteile zeigen. Die Art und Weise wie er die Welt wahrnimmt und das auf Film bannt, würde kranken, wenn er auch nur ein wenig an der Echtheit des Gezeigten zweifeln würde. Er sagt selbst, dass er Tabus nur dann brechen würde, wenn es etwas über den Charakter aussagen könnte. Er lässt dicke und alte, dünne und zerstörte Menschen miteinander schlafen genauso wie er sie mit schönen, fast perfekten, traurigen und fröhlichen schlafen lässt. Sex heißt aber nicht nur Sex im Kino von Carlos Reygadas. Er öffnet Abgründe, zeigt Abhängigkeiten an. Er erforscht eine innere Abgestumpftheit wie in „Batalla en el cielo“ oder eine tiefe Traurigkeit wie in „Japón“. Seiner Kamera kann man dabei genauso wenig trauen, wie den emotionalen Regungen seiner Figuren. Mal hält sie brave Distanz, mal bewegt sie sich um die Körper, mal zeigt sie alles; auch hier ist Hören eine Sensation. Atmen, Stöhnen, das Rascheln und Knarzen des Bettes; Reygadas filmt Sex als gesteigerte Wahrnehmung. 


3.Tod


Immer gibt es auch ein sakrales, ein übersinnliches Element in den Filmen von Reygadas. So kommt der Teufel mit einem Werkzeugkasten ins Haus der Familie in „Post Tenebras Lux“, wird die Frau in „Stellet Licht“ wieder zum Leben erweckt und vollzieht sich in „Japón“ ein apokalyptischer Unfall, der wie ein Sturm des Todes über den Film zieht. Man hat das Gefühl die Kamera würde den Blick des Teufels zeigen. Auch deshalb, weil Reygadas mit der Zeit macht, was er will. So trifft in „Maxhumain“ ein am Ufer des Meeres gefesselter Mann sich selbst in einer jüngeren Version. Immer wieder gibt es unerklärte Zeitsprünge in den Filmen, vermischt sich das Vergängliche mit dem Vergangenen. Irritierend sind seine suizidalen Szenen. Von einer Masturbationsszene, in der der Protagonist eine Waffe an seine Brust hält in „Japón“ bis zum schlichten Herunterreißen des eigenen Kopfes in „Post Tenebras Lux“. Überbelichtungen, Unschärfen, Fahrten ins Nichts. Fast einem meditativen Rhythmus folgen seine Filme; sie erscheinen ruhig doch entsprechen in ihrem Inneren den Schwingungen eines Erdbebens. So filmt er in einer Mennoniten-Gemeinde, einer religiösen Gruppierung, die dem Ende nahe ist; das Ende schwingt immer und jederzeit mit. Im Unterschied zu beispielsweise Abbas Kiarostami begreift Reygadas das Sterben nicht als philosophischen, zeitlosen Akt, sondern als ultimative Präsenz. Für ihn ist das Sterben tatsächlich ein Ausweg, vielleicht sogar eine Flucht. Ein religiöses Surren ist zu hören. Themen wie Wiedergeburt, Auferstehung, Vergebung und Paradies spielen eine entscheidende Rolle. Reygadas lässt seine Figuren manchmal im Himmel kämpfen, öfter aber gegen den Himmel. Der Tod ist allgegenwärtig, aber in ihm liegt auch eine Hoffnung. Aus der Nacht kommt bei Reygadas eine Morgendämmerung. Sie rettet nicht, aber sie ist. Daher sind der Tod und natürlich auch der Sex im Kino von Reygadas nur eine Art des einfachen Seins.

4. Gefühl


Die Filme, die es dann auf die Leinwand schaffen, sind schwer zu greifen. Sie sind ein brachiales Gefühl, das einen zum Teil überwältig, zum Teil schockiert, manchmal in Angst versetzt, häufig mitfühlen lässt, immer Freiheit lässt. Reygadas ist ein Regisseur, der Räume und Natur greifbar macht und damit etwas zwischen zwei Figuren sichtbar werden lässt. Wenn der Mann und seine Frau in „Post Tenebras Lux“ im Auto sitzen, spürt man eine Gewalt, die nicht von außen kommt. Die Bedrohung ist in den Personen selbst. Seine Kamera wagt Blicke hinter die Fassaden, er macht einen Close-Up, nur dann wenn er etwas erzählt. Bei ihm verschwimmen die Blickpunkte, alles ist der subjektive Blickpunkt des Zuschauers. Reygadas inszeniert eben auch den Off-Screen, seine Auflösung besteht oft aus dem, was nicht zu sehen ist und er wählt mit unheimlicher Umsicht was zu sehen ist. Das Unsichtbare und das Sichtbare wagen einen Tanz. Reygadas bringt Licht ins Kino.

„Sie sagte, dass nur Gott zurücknehmen könne, was er gegeben habe. Ich sagte, dass wenn Gott wirklich perfekt wäre, er uns nicht testen würde. Sie sagte es sei kein Test, sondern ein Geschenk.“


Trailer

Japón



Batalla en el cielo



Stellet Licht



Post Tenebras Lux


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