Sonntag, 14. Juli 2013

Vendredi Soir von Claire Denis

Hände, unklare Lichter…etwas bewegt sich im Wind. Paris ist ein einziger Stau an diesem Freitagabend. Sie hat sich entschlossen aus ihrer Wohnung auszuziehen. Alles steht voller beschrifteter Kartons. Es gibt „Sommerkleidung“ und „Winterkleidung“. Sie probiert einen roten Rock an. Den Mann, zu dem sie ziehen wird, sehen wir nicht. Wir spüren ihn kurz am Telefon. So wie man alles spüren muss in „Vendredi Soir“ (2002) von Claire Denis. Sie verzichtet fast vollständig auf Halbtotalen oder Totalen, alles ist eine Aneinanderreihung von Details und Nahaufnahmen, von kurzen Blicken und Entscheidungen. Sie steht im Stau. Ein Unbekannter setzt sich zu ihr ins Auto. Im Radio werden die Fahrer dazu aufgefordert Unbekannten und Obdachlosen zu helfen. Eine bedrohlich-schöne Affäre beginnt.


Der Dampf der verdunsteten Luft, der feuchte Boden und die meist roten Neonschilder erinnern an Wong Kar-wai. Denis setzt Zeitlupen ein und sogar eine Begegnung der beiden Liebenden auf der Treppe. Vielleicht ein „In the mood for love“, der die Liebe auch zeigt? Der Stau bringt Fellinis „8 ½“ in Erinnerung, doch statt einem Nervenzusammenbruch, erleidet die Protagonistin bei Denis nur Müdigkeit. Den gleichen Ausbruchgedanken wie Guido scheint sie dennoch zu haben. Paris ist ein einziger Stau an diesem Abend. Immer wieder tauchen (über)sinnliche Elemente auf, wirkt das ganze wie ein Traum. Etwas Totes bewegt sich für eine Sekunde, Menschen verschwinden und sind einfach wieder da. Entspringt das einer Fantasie?  Rot ist die dominierende Farbe in „Vendredi Soir“. Mit fast beängstigender Konsequenz durchdringen rote Elemente die Leinwand. Denis erzählt von Schönheit, Leidenschaft, Erotik, Gefahr, einem bisher verdeckten pulsierenden Inneren. Wie so häufig in ihrem Oeuvre lässt Denis große Löcher in der Handlung entstehen. Sie schneidet vor Antworten in das nächste Bild, sie lässt ihre und die Wahrnehmung ihrer Protagonisten plötzlich abdriften, zeigt kleine Details in den Ecken der Zimmer. Für Denis bedeutet das Auflösen einer Szene (wie für viele große Regisseure) auch immer den Blick auf etwas zu richten, was im ersten Moment nicht relevant erscheint. Es ist eine Studie der Wahrnehmung und damit greift sie ein Gefühl auf statt ihres zugegebenermaßen etwas platten Inhalts. Immer wieder interessiert sie sich auch für die anderen Menschen, erlaubt dem Zuseher einen Eindruck der gesamten Umgebung zu erhalten. Mehr oder weniger genervte Autofahrer und Passanten, ein merkwürdiger Rezeptionist im Hotel. Sie zeigt diese Menschen nicht im Sinne einer deskriptiven Rechtfertigung der diegetischen Welt oder im Stil eines „Diese Geschichte hätte jedem passieren können“, sondern vielmehr als subjektiven Point-of-View der Figuren: Das ist, was die Hauptfigur sieht. Und es hat genauso viel Bedeutung wie das, was wir von ihr sehen. 



Gesprochen wird kaum ein Wort. Wozu auch?

Trotz der fließenden Strukturen, die von  melodramatischer Musik noch unterstützt werden, fühlt man sich jederzeit fest verankert in der Zeit. Zu klar ist die Freitagabend-Dramaturgie. Denis verleiht den kleinen Entscheidungen Wichtigkeit und den großen Beiläufigkeit. Es geht um eine Driftbewegung, sowohl der Protagonistin als auch der Filmemacherin. Die Form des Films entspricht der Gemütslage der Hauptfigur. Und deshalb gelingt es Denis auch so gut, Gefühle festzuhalten, sie einzufangen und so völlig unprätentiös das Unsichtbare sichtbar zu machen.  Es ist nämlich nicht nur eine Frage der Montage, einer beliebigen Aneinanderreihung kleiner Momente, wie dem nervösen Tippen von Fingerspitzen,  dem austretenden Rauch aus einer Lüftung oder Füße, die aneinander reiben, sondern eben auch eine bewusste Entscheidung: Wann sehen wir was. Rhythmus spielt eine gleichwertige Rolle wie Inhalt, die beiden bedingen sich sozusagen. Wie in „Les Salauds“ oder „Beau Travail“ entfaltet Denis eine Sogwirkung, die die Unterlegenheit des Verstandes gegenüber der menschlichen Natur und der Gesellschaft offenbart.


Paris ist ein einziger Stau an diesem Abend. Fast wie Dziga Vertov in „Der Mann mit der Kamera“ wird zunächst die Stadt am Freitagabend gezeigt. Es ist eine gewöhnliche Welt. Sie lädt ein. Nicht ganz ausgewogen wirkt „Vendredi Soir“ nur dann, wenn man merkt, dass er geschrieben wurde: Als sie plötzlich ihr eigenes Auto nicht mehr findet oder am Ende, als sie lächelt. Nur dann ist man auch schon lange von ganz anderen Gefühlen gefangen genommen und steht in einem ganz eigenen Stau aus Händen, unklaren Lichtern und Dingen, die sich im Wind bewegen.



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