Es gibt mehrere Gründe, warum das Kino der Deformation das
aufregendste ist, was man mit dem Medium Film machen kann, vielleicht sogar das
einzige sein muss, was man mit dem Medium Film, wenn man es nicht als
industrielle Massenware betrachtet, tun sollte. Bruno Dumont verwendet diesen Begriff
in mehreren Interviews, um zu beschreiben wie er Regie führt. Für ihn besteht
die Aufgabe einer Kunst darin zu deformieren. Man nimmt einen naturalistischen
Gegenstand/Schauspieler, setzt ihn in ein naturalistisches Setting und sorgt dann
für kleinere oder größere Deformierungen. Somit wird die menschliche Existenz
hinterfragt oder die Natur als ganze und der Zuseher kommt in einen
Denkprozess. Ob dieser verstörend, belastend oder voller Erkenntnisse ist, darf
meiner Meinung nach keine Rolle spielen. Es geht nur darum einen Konflikt im
Rezipienten zu verursachen, ihn auszuliefern, ihm entgegenzuwirken, ihn zu
bearbeiten, ihn arbeiten zu lassen. Auf keinen Fall geht es darum glücklich das
Kino zu verlassen. (Obwohl es das auch geben soll.)
L'humanité von Bruno Dumont |
Dumont sagt, dass er dafür an die Grenzen gehen muss als
Filmemacher. Und um an die Grenzen zu gehen, müsse man immer etwas darüber
hinausgehen. In der Dokumentation „Das Schöne ist mein Dämon“ beschreibt Dumont
exemplarisch eine Szene und wie er dort eine subtile Deformation herstellen
konnte. Es geht um die Szene in seinem „L’humanité“, in der der Protagonist ein
Paar beim Sex auf dem Boden beobachtet. Um einen deformierten oder nennen wir
es entfremdeten Ausdruck zu bekommen, hat Dumont den Schauspieler nicht ein
Pärchen auf dem Boden beobachten lassen, er hat dem Schauspieler auch nicht
gesagt, dass er sich ein Pärchen auf dem Boden vorstellen soll, sondern er hat
seine eigene Hand auf den Boden gelegt und gesagt: „Schau meine Hand an.“; die
Reaktion ist selbstverständlich unerwartet und deformiert. Ein Prozess beginnt,
wenn man nun die Reaktion des Mannes auf das Pärchen im Film sieht. Etwas
stimmt nicht, aber man kann es nicht greifen. Damit verkehrt Dumont die
russischen Montagetheoretiker in ihr Gegenteil. Wo Lew Kuleschow gezeigt hat,
dass die immer gleiche Reaktion eines Mannes assoziiert mit unterschiedlichen
Bildern im Zuseher immer eine dem Gegenstand entsprechende Reaktion hervorruft,
da zeigt Dumont, dass da etwas Unsichtbares mitschwingt, etwas
Unkontrollierbares, etwas Unerwartetes und das darin die Qualität von Filmen,
ja von Kunst allgemein liegt. Nicht umsonst zitiert Dumont immer wieder Maler. Denkt
man etwa an Francis Bacon wird der Begriff von der Deformation plötzlich
plastischer. In den deformierten Gesichtern des Malers liegt eben jene Grenze
zwischen naturalistischer Darstellung und einer Veränderung, die das Menschsein
in Frage stellt und eine tiefergehende Reflektion erst auslöst.
Twentynine Palms von Bruno Dumont |
Die Überlegenheit eines solchen Kinos, zu dem natürlich
viele Filme zu zählen sind, gegenüber eines Kinos der Schönheit oder eines
Kinos der Spannung oder einer Neuauflage eines Kinos der Attraktionen, wie es
derzeit in vielen Hollywood-Blockbustern zu finden ist, liegt auf der Hand. Das
Kino der Deformation greift über seine bloße Existenz im Kinorahmen hinaus.
Das, was man als die Zeit mit dem Film betrachtet, wird aufgelöst, weil der
Film ins reale Leben einzudringen vermag. Statt das Fehlen einer
Fluchtmöglichkeit als unbequem zu betrachten, sollte man diese Form auf den
höchsten aller Podeste stellen, weil hier kommt Film dazu sein Potenzial
jenseits eines lauten Unterhaltungsmediums auszuschöpfen. Es geht auch gar
nicht darum, dass dieses Kino zwangsläufig ein intellektuelles Kino sein muss.
Gerade bei Dumont spielt Körperlichkeit und die Rauheit des Daseins eine
wichtige Rolle. Alles ist verständlich und nie verkompliziert. Gerade in der
Direktheit liegt ja das bedrohliche Element in seinem Kino. Oft muss Dumont gar
nicht mehr deformieren, weil er Menschen in einer derartigen Direktheit zeigt,
dass dies schon fast unsere Schamgrenzen übersteigt und dadurch als deformiert
wahrgenommen wird.
Valhalla Rising von Nicolas Winding Refn |
Das Schauspiel scheint mir dabei mit am leichtesten
deformierbar zu sein. Die Verweigerung des Ausdrucks und die subtile
Psychologie, die nicht nur laut Dumont in der Nahaufnahme zum Vorschein kommt,
sind fester Bestandteile aller schauspieltheoretischen Diskurse. Der Wille des
Zusehers zu lesen, was da in den Figuren vorgeht, die Möglichkeit in Filmen
Dinge/Menschen länger und intensiver zu betrachten als im normalen Leben, geben
dem Kino kein Recht als Abbild der Realität sondern sogar mehr, als intensivere
Wahrnehmung der Realität. Und nur darin kann und soll eine Deformation sichtbar
werden. Derzeit steht Nicolas Winding Refn hoch im Kurs, insbesondere beim
jüngeren Kinopublikum. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass er Wahrnehmungen
deformiert. Zunächst deformiert er das Aussehen und das Spiel seiner
Charaktere. Sie erwidern nicht jene Emotionen, die man normal aus Filmen
gewohnt ist. Und in diesem „normal“ steckt auch schon seine zweite Deformation,
denn Refn deformiert, was man normalerweise von einem Genre erwarten wurde,
durch seine Montage, die zum Teil surreal-assoziativ durch die weiten
nordischen Welten eines „Valhalla Rising“ oder durch thailändische (rote)
Interiors von „Only God Forgives“ schneidet, durch seine Verzögerung der Zeit
in der Mise-en-scène, die etwas zu suchen scheint in den Szenen, was dort gar
nicht ist. Die Kamera scheint immer wieder von neuem auf die Charaktere
zuzufahren, die Räume zu betrachten, Blicke zu erhaschen. Das für die diversen Genres,
die Refn (nicht) bedient klassische Spannungsmoment fällt. Fast gegenteilig,
aber mit einem ähnlichen Hang zur Deformation arbeitet(e) der amerikanische
Regisseur Steven Soderbergh. Bei ihm wird Genre gebrochen, indem er das Tempo
beschleunigt. Auch er scheint die Erwartungen des Publikums zu kennen und im Gegensatz zu Refn bedient er diese sogar häufig,
aber er arbeitet fast ausschließlich mit Andeutungen und geht dann in der
Montage schon eine Szene weiter. Wenn in „Haywire“ jemand verraten wird, dann
vermag er in dem Moment in die Action zu schneiden, indem dem Zuseher
klarwerden konnte, dass es sich um Verrat handelt, ohne dass Soderbergh es
aussprechen musste. Fast wie ein Jazz-Musiker kann er sich so in unheimlicher
Geschwindigkeit verschiedenen Motiven immer ein bisschen, nie aber ganz
hingeben. Die schnell geschnittenen Actionfilme der vergangenen Jahre versuchen
diese Genrebrüche seltsam unreflektiert auf einer formellen Ebene zu bedienen.
Unreflektiert, weil durch die Handkamera und schnellen Schnitte ein
gesteigertes Maß an Realität hergestellt werden soll, statt damit die Realität
zu deformieren.
Jerichwo von Christian Petzold |
Erstaunlich dann, wenn im deutschen Kino nach Genres geschrien
wird. Betrachtet man Christian Petzold als den vielleicht interessantesten Genre-Regisseur
in Deutschland dann deshalb, weil er seine Genres deformiert. In einem klassischen
Melodram wie „Jerichow“ schwingt immer eine
andere Bewegung mit, fast als wären Genres Drifterfilme bei Petzold. Er wirft
einen individuellen Blick auf das Genre, legt seinen Fokus oft auf unerwartete,
widersprüchliche Emotionen. Aber Petzold geht es dabei wie Dumont. Wenn jemand
eine Hand betrachtet, obwohl er gerade eine Sexszene sieht, dann spricht man
schnell von toten Handlungen, toten Charakteren und Film sei doch Handlung und
blabla. Für mich ist Film in erster Linie Bild und Ton. Diese formen eine
Geschichte, Charaktere, ein Gefühl. Ob dabei gehandelt wird oder geschaut wird,
erscheint mir zweitrangig. Nicht umsonst hat Deleuze ja schon vor langer Zeit
den beobachtenden Protagonisten im Neorealismus ausgemacht. Egal ob ein
objektiver Blick auf das Geschehen geworfen wird oder ein nach Anteilnahme
schreiender, scheint mir der Blick auf die blickende Figur mindestens von
gleichem Interesse zu sein wie der Blick auf die handelnde Figur. Zweites nimmt
mich vielleicht mehr gefangen, aber ersteres bringt mich zum Nachdenken und hat
das weitaus größere Potenzial zur Deformation. Natürlich kann eine Handlung
auch ein Automatismus sein. Dann sind wir beispielweise bei den Dardenne-Brüdern
oder bei einem Olivier Assayas oder Cristi Puiu. Hierbei tritt die Fähigkeit
zum Vorschein in alltäglichen Bewegungen in einen Denkprozess zu gelangen, weil
man sich nicht mehr aus den Bewegungen befreien kann und weil man sich nicht
darauf konzentrieren muss. In „Rosetta“ bewegt sich die Protagonistin praktisch
den ganzen Film. Dennoch sind es fast ausschließlich innere Bilder, die das
Regie-Duo inszeniert. Das innere Bild ist jenes zu
dem die Regisseure gelangen,
wenn sie ihre Bilder deformieren.
Rosetta von Jean-Pierre und Luc Dardenne |
Offret von Andrei Tarkowski |
Andrei Tarkowski hat in seinen Filmen nicht nur die Menschen
oder das Menschliche an seinen Schauspielern deformiert, sondern die gesamte
Natur. Er hat das zum Teil mit einer
ähnlichen Direktheit gemacht, wie Dumont seine Figuren in Widersprüche setzt. Bei
Tarkowski gehorcht die Natur oft nicht ihren eigenen Gesetzen. Es gibt
Erdbeben, plötzliches Feuer, Menschen, die keine Schwerkraft mehr besitzen. Das
setzt den Zuseher in einen ständigen Zustand des Zweifels, ja der Angst.
Tarkwoski dringt in die Wahrnehmung ein, weil auch er innere Bilder produziert,
die nicht unbedingt denen eines Protagonisten zu entsprechen haben, sondern
durchaus auf eine Weltanschauung des Filmemachers hinweisen. Damit wären wir
wieder bei der Malerei. Damit wären wir wieder bei der Lächerlichkeit des
Hinterfragens von Autorenschaft im Film. Das innere Bild scheint mir immer ein
deformiertes Bild zu sein, weil es wie durch ein Filter durch die Wahrnehmung
der Figuren, des Filmemachers und schließlich die des Rezipienten läuft. Dumont
sagt, dass wenn er eine Wüste filmt, dann filmt er nicht die Topographie einer
Wüste, sondern das innere Bild dessen, der sie betrachtet. Und damit kommt man
dann dem Wesen von Film näher, denn im Inneren ist alles Bild und Ton und der
Versuch zur Reflektion muss schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt sein. Deformation wird oft mit Surrealismus in
Verbindung gebracht. Luis Buñuel und David Lynch sind schließlich auch in einem
scheinbar durchgehenden Prozess der Deformation involviert. Aber bei ihnen
setzt oft die Verortung des deformierten Geschehens in eine naturalistische
Umgebung aus (bei Lynch deutlich mehr als bei Buñuel ) Der spanische Regisseure
scheint mir immer dann am besten zu seiner Sprache zu finden, wenn er in völlig
naturalistischen Situationen ein deformiertes Element, wie beispielweise den
mysteriösen Kasten in „Belle de jour“ bringt. Wenn die ganze Umgebung von einer
Deformation durchdrungen ist, wie in „Inland Empire“ von Lynch, dann nimmt man
den Film selbst nicht mehr als Steigerung der Realität war, sondern eigentlich
wieder als ein Kino der Attraktionen, indem der Film nicht in den Zuseher
einzudringen vermag, wie er nicht in seine Figuren eindringt.. Und genau dort
liegt die große Versuchung des David Lynch.
Inland Empire von David Lynch |
Eigentlich muss ich meine Anfangsaussage bezüglich eines
Kinos der Deformation als überlegene Form revidieren. Das Kino der Deformation
ist das genuine Mittel, um mit dem Kino innere Bilder zu produzieren und es
damit auf die höchste Stufe, dessen was heute mit kinematographischer Sprache
möglich ist, zu heben. Denn nur wenn die äußeren Bilder auch innere Bilder
sind, wenn man unter der Oberfläche etwas erkennen kann, kann sich Kino völlig
entfalten.
Belle de jour von Luis Buñuel |
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