Wie immer möchte ich zur Hälfte des Kinojahres einen kleinen
subjektiven Überblick über gesehene Filme geben und dabei nach Gemeinsamkeiten,
Auffälligkeiten und besonders eindrücklichen Momenten suchen. Dabei werde ich
nicht sämtliche oder gar die „besten“ Filme resümieren, die ich gesehen habe,
sondern einen thematisch/formellen Schwerpunkt suchen. 2013 scheint mir bislang
ein Jahr der Mutterfiguren im Kino zu sein. Allerdings weniger im Sinn von
guten Müttern als Zuflucht und Ort der Geborgenheit/Heimat, sondern harte,
brutale Mütter, die ihre Familien wie ein Business führen, die ungewöhnliche
Wege gehen, die unter ihren Kindern leiden, die sich erst selbstverwirklichen
bevor sie erziehen können oder die schlicht und ergreifend nicht da sind. Jene
Vertrauensbasis, jene schützende Hülle unter die sich die Kinder gerne begeben
würden, findet sich nicht mehr in der Figur der Mutter im Jahr 2013.
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Le passé von Asghar Farhadi |
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The Place Beyond the Pines von Derek Cianfrance |
Man hat viele leidende Mütter gesehen wie die verunsicherte
Mutter von Adéle in La vie d’Adèle von
Abdellatif Kechiche. Sie führt den inneren Kampf einer Mutter, die das Beste
für ihre Tochter will und sich dennoch von den Beziehungs- und
Selbstverwirklichungsvorstellungen ihrer Generationen verabschieden muss. Sie
ist keine schlechte oder gar böse Mutterfigur, weil sie sich nicht in einer
melodramatischen Konstellation gegen das Glück ihrer Tochter stellt. Ihr
Widerstand erzählt sich in ihren Blicken, in ihrem Zweifel. Kechiche setzt die
Eltern von Adèle in einen etwas zu platten Gegensatz zur Mutter von ihrer
Partnerin Emma, die völlig aufgeklärt mit der Homosexualität ihrer Tochter
umzugehen weiß. Doch entlang dieser Diskrepanz arbeitet sich der Film an die
Wahrheit in Adèle selbst. Es geht eben nicht um familiäre Widerstände, sondern
um einen inneren Widerstand, der ihr zu Beginn im Weg steht. In Xavier Dolans Laurence Anyways gibt es diesen inneren
Widerstand nicht. In einer fast erschreckend nüchternen Analyse erkennt
Laurence, dass sie als Frau leben muss, um glücklich zu sein. Dolan geht es
mehr um die Reaktionen von Laurences Umwelt: Ihre Partnerin, ihre Kollegen in
der Schule und eben auch ihre Mutter. Diese kommt zunächst gar nicht mit der
Geschlechtsverwandlung ihres Sohnes klar. Unmissverständlich macht sie Laurence
klar, dass sie bei Problemen nicht anzurufen braucht, sie sperrt sie aus der
Familie aus. Doch nach und nach wird klar, dass sie weniger ihrer eigenen
Überzeugung folgt, denn der Angst vor ihrem Mann. In einer für Dolan typisch
überstilisierten Szene befreit sie sich dann aus dem Diktat ihres ständig
fernsehschauenden Gattens und wird zur Verbündeten von Laurence. Manchmal. Also
gibt es sie doch, die gute Mutter? Viele Mütter im Kinohalbjahr zerbrechen
unter der Last ihrer Verantwortung wie Marie in Asghar Farhadis Le passé. Eine Frau, die zwischen zwei
Männern und zwischen zwei Welten agieren muss und unter ihrem Familienalltag zu
leiden beginnt; eine liebende Mutter vielleicht, aber die eigenen Sorgen sind
zu groß. Ähnliches kann man wohl für Romina in The Place Beyond the Pines von Derek Cianfrance festhalten. Hier
haben wir eine Mutter, die bereit scheint ihr eigenes Leben für ihr Kind
aufzugeben, die versucht ihrem Sohn ein normales Leben zu ermöglichen. Doch sie
kann nicht dagegen ankämpfen, dass der Vater fehlt. Und sie kann nicht dagegen
ankämpfen, dass der Vater im Sohn weiterlebt. Sie versagt in ihrer Erziehung,
weil sie das Kind nie hätte bekommen dürfen. Im Schicksalsspiel das Cianfrance
vor dem Zuseher entfaltet, wird die Mutter ganz der griechischen Tradition in
ein besonderes Licht gestellt. Sie wirkt wie ein reines Licht, das langsam
zerbricht. In einer sich wiederholenden Szene wird sie zuerst vom Vater und
später von dessen Mörder konfrontiert. Beide Male möchte sie einfach nur
fahren; sie ist in einer konstanten Fluchtbewegung, in die sie sich selbst
gebracht hat. Mit einem eigenen Charakter wird sie darüber hinaus aber nicht
ausgestattet. Das Leid hat sich in die Mütter eingeschrieben, dass kein Raum
mehr scheint für andere Emotionen. In Before
Midnight von Richard Linklater kämpft Celine gegen diese Reduzierung auf
die Mutterrolle. Sie leidet ebenfalls, aber sie leidet reflektiert. Etwas zu reflektiert,
nicht nur für den Geschmack ihres Ehemanns. Die feministische Mutter, die mit
zwei Kindern und ihrem Mann lebt, die ihm folgt, wenn er nach Griechenland
reist und an sich selbst genauso zweifelt wie an ihrer Rolle. In ihrem Gesicht
spiegelt sich Verachtung, als sie darum gebeten wird im Buch ihres Mannes zu
unterschreiben, weil sie doch so eine tragende Rolle darin spiele. Sie kritzelt
ihren Namen ins Buch, als wäre er eine saure Zitrone. Und so fühlt sie sich
auch als Mutter. Selbstverwirklichung und Mutterpflichten bekämpfen sich und
das Kinohalbjahr beginnt laut zu schreien: Bekommt keine Kinder!
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Before Midnight von Richard Linklater |
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Only God Forgives von Nicolas Winding Refn |
Aber die leidenden Mütter sind noch harmlos. 2013 scheint
bislang auch das Jahr der brutalen, völlig skrupellosen Mütter zu sein. Frauen,
die ihr Leben bereits aufgegeben haben und sich entweder völlig den eigenen
Lüsten hingeben oder das Wohlergehen ihrer Kinder zu ihrem eigenen Fetisch
gemacht haben und mit allen Mitteln dafür sorgen wollen, dass sie ihre Kinder
nicht verlieren und dass es ihnen nach ihren verdrehten moralischen
Vorstellungen gut geht. In Poziția
Copilului von Călin Peter Netzer ist Cornelia eine solche Mutter. Als ihr
Sohn ein Kind überfährt, beginnt sie damit alle notwendigen, nicht immer
legalen Schritte zu unternehmen, um ihrem Sohn zu helfen. Die Nüchternheit ihres
Vorgehens steht in krassem Gegensatz zur fehlenden Liebe zwischen Mutter und
Sohn. Immer wieder teilt ihr der merkwürdig passive Sohn mit, dass er nicht
fremdbestimmt werden will. Aber die Mutter holt sich alle Informationen die sie
braucht bis hin zu den Sexualproblemen ihres Sohnes. Fast logisch, dass sie
dessen Freundin nicht leiden kann. Sie ist zugleich ein starker Charakter, der
sich den Angehörigen des Unfallopfers stellt, aber sie ist ein schwacher
Charakter, weil sie das nur für ihren Sohn tut. Oder ist sie deswegen auch ein
starker Charakter? Sie weint und wirkt dabei seltsam hart. Ähnlich opferbereit
scheint lange Zeit die Mutterfigur in Kim Ki-Duks Pietà. Hier oszilliert die Mutterfigur zwischen völliger Hingabe und kalter Racheengel. Die
Unsicherheit darüber, ob es sich um die tatsächliche Mutter handelt, spiegelt
das merkwürdige Gefühl der Mutterlosigkeit im ersten Kinohalbjahr wieder. Das inzestuöse
Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist der Gipfel dieser verschwommenen
Wahrnehmung. Auch in Stoker von Park
Chan-wook gibt es diesen Hauch von völliger Anarchie und Inzest in der
Mutter-Tochter Beziehung. Beide lassen
sich vom Bruder des verstorbenen Vaters verführen, werden fast zu
Konkurrentinnen. Die Mutter verzichtet auf Trauer und gibt sich lieber dem
eigenen Glück hin, weil sie es nicht anders gewohnt ist. Allerdings handelt es
sich bei ihr um eine passive Mutterfigur. Auffallend ist trotzdem, dass sich
die Verdorbenheit der Mütter auf ihre Kinder überträgt. Das psychisch gestörte
Verhältnis hält dabei immer als altbewährte Möglichkeit zur Interpretation des
Geschehens her, ist aber auch absolut handelsantreibend, weil die Mütter eben
nicht verborgen im Hintergrund agieren, sondern ins Zentrum der Handlungen
gerückt werden. So auch in Nicolas Winding Refns Only God Forgives, in dem die Mutter als eiskalte Furie mit dem
Namen Crystal auftritt, um Rache für ihren geliebten Sohn einzufordern. Und
zwar von ihrem ungeliebten Sohn. Sie ist die brutale Macht und der Film könnte
die Geschichte einer pervertierten Befreiung aus dem Leib der Mutter erzählen.
(Er könnte aber auch gar nichts erzählen.) Refn zeigt die Mutter am Ende eines
Tisches, sie ist das Oberhaupt; die Familie ist ein Business, alle sind
verdorben. Ein Spiel, auf dem Schachfiguren geschoben werden, aus dem auch die
Mutter in Borgman von Alex van
Warmedam ausbrechen will, bis sie erkennen muss, dass auch sie nur Teil des
Spiels ist. Aber trotzdem scheint sie fast dankbar zu sein ihre Familie und ihr
Leben zu verraten. Die Mütter leiden unter, regieren oder widersetzen sich
ihrer Familien. In The Master von
Paul Thomas Anderson tritt Peggy Dodd als eine Art Lady Macbeth, als
skrupellose Frau hinter dem Sektenführer auf, um zu einer unsichtbaren Mutter
des Clans zu werden, die die Geschehnisse lenkt und bestimmt, und den Vorgaben
einer Religion weitaus bedrohlicher folgt, als ihr Mann. Sie holt sich, was sie
für richtig hält. Die Mütter sind kalt. Als die Mutter in Tore tanzt von Katrin Gebbe plötzlich mit einsteigt in die
grausamen Folterspiele, die mit dem jungen Jesus-Freak in der
Schrebergartenanlage durchexerziert werden, wird sämtlicher Glaube an das Gute
erschüttert. Wenn Mutterfiguren im Kino jemals etwas Gutes repräsentiert haben
sollten, dann hat das erste Kinohalbjahr damit gebrochen. Auf dem Gesicht von
Astrid findet sich Gleichgültigkeit, Perversion und nur äußerst selten ein
Gefühl von Angst. Dagegen hat Tore selbst keine Mutter.
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Pietà von Kim ki-duk |
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Poziția Copilului von Călin Peter Netzer |
Denn manchmal sind die Mütter einfach nicht anwesend. Sie
haben ihre Kinder mehr oder weniger aufgegeben beziehungsweise müssen sie
aufgeben, denn nicht alle Mädchen in Spring
Breakers von Harmony Korine werden zurückkehren. Es gibt Anrufe nach Hause,
aber diese sind gekennzeichnet von derselben Entfremdung, die die
Protagonistinnen auch vom Leben selbst zu haben scheinen. In merkwürdigen,
traumartigen Sequenzen mit einer Mischung aus Voice-Over, Flashbacks und sich
ständig wiederholendem Tondesign verfremdet Korine den Kontakt zwischen Kind
und Mutter. Keine Realität bedeutet hier auch keine Eltern. In La jaula de oro von Diego Quemada-Díez
verhandelt der Regisseur das Fehlen der Eltern fast spiegelverkehrt zu Korine
als Zeichen für die Realität. Auf den Weg in die USA machen sich die Kinder
hier ohne ihre Eltern, sie werden praktisch dazu gezwungen. Welch ein
Unterschied. Während in Spring Break, die Kinder eine Eltern- und
autoritätslose Welt feiern, entscheiden sich die Kinder bei Díez dazu ihre
Eltern zu verlassen, um Schnee zu sehen. Nicht mehr zwischen Traum und Realität
unterscheiden zu können und an den eigenen Träumen zu scheitern. Beides
geschieht ohne Mütter. Auch ohne die Heilige Mutter Gottes wie Ulrich Seidl in Paradies: Glaube bemerken könnte. Sie
hat keinen Platz in der Wohnung, alles ist vollgestellt. Wohin mit einer
Mutterfigur in dieser Welt? Man stellt sie aufs Bett und erledigt seine
Pflicht. So wie ein kurzer Anruf zu Hause, so wie eine Flucht. Wenn die Mütter
nicht brutal zurückschlagen, verschwinden sie aus dem Kino.
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Tore tanzt von Katrin Gebbe |
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La jaula de oro von Diego Quemada-Díez |
Der Ausblick auf die Zukunft der noch kinderlosen Frauen ist
eine schwarze Leinwand. Zu hören ist das Zusammenpacken von Zelten wie in The Loneliest Planet von Julia Loktev.
Kein Wort kann mehr gesprochen werden; eine Fahrt im Karussell wie in Take This Waltz von Sarah Polley. Kein
Wort kann mehr gesprochen werden. Fast sarkastisch wirkt da das verfehlte Ende
von Jacques Audiard in De rouille et d’os.
In seinem Schlussbild zelebriert er das Zusammenkommen einer Familie. In
Anbetracht des bisherigen Kinojahres ist dieses ein verklärtes Happy-End.
Vielleicht sollte das Ende dieses kurzen Überblicks daher ein betagterer Film
bilden, den ich im Filmmuseum Wien sehen durfte und der vielleicht besser
beschreibt, wie Mütter sich im Film derzeit fühlen. In Michael Hanekes Lemminge: Arkadien will die schwangere
Frau ihr Kind nicht bekommen. Sie sitzt in ihrer Badewanne. Es ist heiß und
alles ist angelaufen, es dampft. Sie tritt aus dem Bad und stellt sich vor den
Spiegel. Einen langen Moment blickt sie in ihr eigenes Gesicht, das Gesicht
einer werdenden Mutter, einer leidenden Mutter, einer kaltblütigen Furie, einer
Mutter in der Flucht? Sie versucht dem zu entfliehen. Erststeckt sie sich eine
große Ladung Tabletten in den Mund. Dann verlässt sie das Bad und geht in die
Küche. Sie beginnt zu springen, klettert auf den Stuhl und springt hinunter,
klettert auf den Tisch und springt hinunter. Schließlich klettert sie auf den
Schrank und springt von ganz oben auf den harten Boden, fest überzeigt das Kind
damit loszuwerden. Sie zögert nicht, sie ist erbarmungslos. Und sie tut es
immer wieder.
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