Samstag, 22. Juni 2013

The Loneliest Planet von Julia Loktev



Ich erlaube mir einige einleitende Gedanken. Häufig beklage ich etwas mystifiziert das fehlende „filmische“ Element in sogenannten Filmen. Damit meine ich immer einen zu großen Fokus auf Themen, Narration und Schauspiel, der das eigentliche Potenzial des Mediums (Bild und Ton) nie ganz ausschöpft, sondern eher in die Nähe des Theaters oder der Literatur bringt. Das mag wie ein völlig veralteter Diskurs klingen, es mag auch ein völlig veralteter Diskurs sein. Aber er ist nicht veraltet, weil Filmemacher und Filmzuseher das immer völlig verstanden hätten, sondern weil man einfach nicht mehr gerne darüber redet. Nicht das Thema ist gestorben, sondern der Diskurs darüber. Es mag ja unterhaltsam und manchmal auf „thought-provoking“ sein, wenn Filme tolle Drehbücher haben oder eine gewisse inhaltliche Tiefe aufweisen, toll gespielt sind und coole Kamerafahrten haben. Das ist die gewinnende Form im Kino; es ist die Form, die die meisten Leute anspricht. Die ins Internet gewanderte cinephile Community (so sollte das nicht heißen) nimmt dann gerne Filme und führt sie wie ein kleines Wägelchen neben sich her und fährt damit in alle gesellschaftstheoretischen Kontexte, Filmtheorien und sehr modern (und ich mache das auch) in eigene Fetische, die gerade so im Trend sind. Das Gespräch über Film ist häufig ein Schwanzvergleich. Wer hat mehr gesehen, wer weiß mehr, wer hat mehr gelesen. Das ist alles irrelevant und hat nichts mit Film zu tun. Es hat etwas mit Film in einem größeren medialen Kontext zu tun, in Film als Unterhaltungsmedium, mit Film als historisches Medium. Das alles kann Film auch sein, aber das alles verdeckt die wahre Kraft des „Filmischen“, von Film als eigenständige Kunst. Man sollte nicht mit dem Film wohin gehen, sondern durch den Film gehen. 


Der von vielen dabei locker dahingesagte Unterschied zwischen Kunst- und Unterhaltungsfilm existiert nicht. Viel eher ist es ein Unterschied in der filmischen Sprache und da könnte man ganz einfach sagen, dass es entweder ein Film ist oder eben ein konsumierbares Laufbild. Es geht mir nicht um die materielle Ebene, also analog vs. digital, obwohl es mir darum auch gehen könnte. Ich denke man kann auch im digitalen Bereich „Filme“ produzieren, die den Eigenheiten dieser Kunstgattung entsprechen. In diesen Filmen erzählen sich die Emotionen nicht durch Dialoge, sondern durch Bilder und Töne; die Form des Films bietet eine Spielfläche für den Inhalt; Mise en scène, Montage, alles ist Teil einer Sprache, die sich autonom vom Inhalt und im Zusammenspiel mit dem Inhalt entwickeln kann. Film bedeutet auch Umgang mit der Zeit, ein Verständnis für Zeit; Zeit muss eine eigene Kategorie in einem Film werden. Diese Gedanken stammen nicht von mir, natürlich nicht. Julia Loktev hat mit „The Loneliest Planet“ einen Film gemacht, der filmischer nicht sein könnte. Es ist ein absolut wichtiger Film, ein wahrhaftiger Film, der es wagt zwischen den Zeilen zu lesen. In diesem Film erzählen sich Emotionen durch den Blickwinkel der Kamera, kleine Geräusche, das Spiel von Licht und Schatten, die Montage, die Plansequenzen, die Freiräume und poetischen Leerstellen.  


Immer wieder sieht man den Nacken von Hauptdarstellerin Hani Furstenberg. Loktev zeigt ihn von nah und fern, von der Seite und im Profil. Ihr zunächst glückliches Paar befindet sich auf einem Trip durch den Kaukasus. Die Natur dringt durch diesen Film zugleich als Schönheit wie als Bedrohung. In einer Szene stoppt der eigenwillige Führer des Paares und deutet den beiden an, dass es eine Gefahr geben könnte. Er blickt ernst und wirkt angespannt. Man hört jeden kleinen Ton. Sie gehen über einen grünes Feld mit großen grünen Blättern und die ganze Geräuschkulisse wirkt wie eine einzige Bedrohung; in jedem Moment der Freiheit und Liebe in diesem Film steckt schon ein bisschen Angst. Loktev inszeniert Liebe nicht als Gefühl, sondern als Gedanken, der in jedem Moment die Flucht ergreifen könnte. Sie erreicht das durch genuin filmische Mittel. So konzentriert sie sich auf Körperteile ihrer Protagonisten statt deren ganze Körper. Sex wird über die Füße erzählt, Nähe mit den Händen. Außerdem findet sich das Grauen immer in jenen Momenten, in denen die Kamera nicht zusieht oder sie geschehen so schnell, dass man nicht genug gesehen hat. Nicht immer sieht man alles. In langen Einstellungen am offenen Feuer bei Nacht verschwinden die Konturen der Charaktere immer wieder in Dunkelheit. Ein unberechenbares Gefühl von Machtlosigkeit entsteht.

Diese Machtlosigkeit wird auf Bild-und Tonebene in eine Bedrohung verstärkt. Zum einen durch totale Einstellungen, in denen die winzigen Charaktere meistens von einem mehr als beeindruckenden Naturhintergrund erschlagen werden; sie bewegen sich durch diese Landschaft wie ein winziger Teil von ihr, der keine Chance gegen die Gesetze der Natur hat. Zudem befindet sich der Ton immer auf Höhe der Kamera. Einmal sitzen Hani Furstenberg und Gael Garcia Bernal auf einem heruntergekommenen Gebäude.  Furstenberg wirft Steine in Richtung der Kamera und der Aufprall ist ganz nahe zu hören. Der Zuseher hat keine Chance zu entkommen, wir sind immer dort, wo das Bild ist, nie da wo unsere Gedanken und Interpretationen sind. Man achtet auf jeden Schritt, jeden Blick, jede Geste. Der Film zwingt einen dazu hinzusehen und hinzuhören. Dabei ist es nur konsequent, dass die georgischen und spanischen Passagen im Film nicht untertitel waren. Man braucht das Wort nicht zu verstehen, um den Film zu sehen. Im Kino von Loktev schwingt etwas Unsichtbares mit, das man erst sehen kann, wenn man sich völlig auf das Sichtbare einlässt.

Wenn die Frau droht ihrer Liebe vollständig zu entfliehen, verzichtet der Film auf jegliche Montage; in einer langen Einstellung sitzt die Kamera mit den Darstellern am Feuer und begleitet jede kleine Regung. Immer wieder queren die drei Figuren das Bild von links nach rechts oder andersherum.  Dadurch, dass der Film das Vergehen der Zeit offenbart, verliert er jegliche Zeitbezogenheit, er wird zeitlos. So wie manche Kritiker die Filme durch verschiedene kulturelle Wissensparten schieben, so fahren auch verschiedene Filmemacher mit ihren Filmen an verschiedene Orte statt durch sie zu fahren. Loktev lässt die Natur in ihren Film kommen; sie inszeniert Realismus, der ihre Sicht auf die Welt genauso inkludiert, wie eine völlige Zurückhaltung. Sie beobachtet. Aber sie beobachtet aus einem bestimmten Blickwinkel. Man muss nicht sprechen, wenn es regnen kann. Der Film trifft den Zuseher auf einer affektiven Ebene. Dies wurd durch eine Tonspur, die ins Schwarz vor und nach dem Film hereinreicht verstärkt, durch Bilder, die sich, wie beispielsweise die Eröffnungsszene nicht vollständig erklären, aber die einen genau deswegen beunruhigen. Könnte man alleine vom Ton in der Titelsequenz noch von allen möglichen Dingen ausgehen, offenbart die erste Einstellung eine etwas verlorene Hanni Fürstenberg, die nackt in einer Dusche steht und auf und ab sprintg. Sie wartet auf ein Handtuch, womöglich ist er kalt. Was beunruhigt ist, dass der Mann nicht da ist und dass er das Handtuch sehr spät bringt.

Damit hat Loktev einen Film gemacht, den man im modernen Kino sonst nur von großen Regisseuren wie Bruno Dumont, Nuri Bilge Ceylan oder Carlos Reygadas erwarten kann.  „The Loneliest Planet“ ist sich seiner Machtlosigkeit bewusst und versucht nichts zu kontrollieren. Es ist kein Film über etwas, sondern mit etwas. Nichts wird hergestellt, weil alles gesehen und gehört wird. Willkommen im Kino.



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