Etwas abseits vom
großen Rummel des roten Teppichs kann man in Cannes auch herausragende Kurzfilme
finden und bewundern. Neben den Screenings steht einem dafür auch, ganz modern
und etwas fragwürdig eine Reihe von Computern im Untergeschoss des Palais zur
Verfügung. Der Vorteil an diesem System ist, dass man erstens jederzeit ein
eigenes einstündiges Programm mit Kurzfilmen zusammenstellen kann und dass dort
auch jene Filme gesehen werden können, die nicht angenommen wurden; der
Nachtteil ist aber, dass erstens eine Art Prostitution unter den Filmemachern
beginnt, deren Filme nicht eingeladen wurden und zweitens, dass man als
logische Folge nicht mehr zu den Screenings der Kurzfilme geht, obwohl diese
zum größten Teil genauso für das Kino hergestellt wurden, wie jeder beliebige
Langfilm. Mit Prostitution meine ich, dass die Horde junger Filmschaffende, die
davon träumt den roten Teppich zu Gesicht bekommen sich dort mit Flyern, Händen
und Füßen verkauft und jeden davon überzeugen will, dass man sich doch bitte
den jeweiligen Film ansehen soll, der auch ganz bestimmt ganz anders ist, als
alle anderen. Kurze Zeit hat mich das stutzig gemacht. Ist das der Weg, den man
als junger Filmemacher gehen muss? Die ständige Selbstpräsentation, der Zwang
eine Marke aus sich zu machen, scheint dem Wesen des Filmschaffenden meiner
geringen Erfahrung zur Folge tatsächlich anzuhaften. Die große Schwierigkeit liegt
darin sich einen eigenen Blick auf das Leben zu bewahren, wenn man ständig
Netzwerke spinnen soll und wie in Cannes, um Screenings betteln muss.
Allerdings geht das auch anders, wie nicht zuletzt viele der Filmemacher
bestätigen, die in den Wettbewerb eingeladen worden sind. So äußert der
rumänische Jungregisseur Tudor Cristian Jurgiu, mit dem ich ein längeres
Gespräch führen dürfte, dass ich demnächst veröffentlichen werde, dass er kein
Interesse am sogenannten Networking habe. Er versuche sich einen Produzenten zu
suchen, der das für ihn übernimmt. Ein beruhigender Gedanke, denn wenn man Film
als Kunst wirklich ernst nimmt, muss man als Filmemacher die Chance bekommen
können einen freien Kopf zu behalten, seinen eigenen Rhythmus zu wählen und
sich auf seine eigene Wahrnehmung konzentrieren können, wann immer man es für
richtig hält.
Über den Sinn und
Unsinn von Kurzfilmen allgemein wurde auf „Jugend ohne Film“ schon häufiger
diskutiert. Das Neue Rumänische Kino ist ein Musterbeispiel für den Sinn dieser
„Lehre“, durch die die jungen Filmschaffenden des Landes gehen. Fast alle
wichtigen Vertreter der Kinowelle, die nun schon über 8 Jahre anhält und mit
dem Sieg von „Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer auf der Berlinale einen
weiteren Höhepunkt erlebt hat, haben ihr Handwerk mit zum Teil aufregenden
Kurzfilmen erlernt. Die Alltäglichkeit und Plötzlichkeit ihrer Langfilme
überträgt sich wunderbar vom Kurzfilm- in das Langfilmmedium. Ein Kino, das
Situationen beschreibt, das den Alltag beschreibt mit einer Tendenz zur
Echtzeit fühlt sich wohl in den kurzen Zeitspannen von Kurzfilmen. Häufig
scheinen sich die Outlines der Lang- und Kurzfilme gar nicht zu unterscheiden. Die
Regisseure fügen ihren Filmen nicht unbedingt Dramatik hinzu mit steigender
Länge, sondern Tiefe. Betrachtet man zum Beispiel „Poziția copilului“ begegnet man der Geschichte einer Mutter, die trotz
einer völligen zerstörten Beziehung zu ihrem Sohn diesem hilft, als er ein Kind
überfährt. Der Standard-Ratschlag von sogenannten erfahrenden Filmschaffenden
ist: „Jeder Geschichte hat eine bestimmte Länge, in der sich erzählt werden
kann.“ Das kann man auf keinen Fall so stehen lassen, insbesondere mit Blick
auf Netzers Mutter-Sohn Tragödie. Diese Geschichte hätte auch in einen Kurzfilm
gepasst. Er beleuchtet Alltägliches, er beleuchtet Dinge, die zwischen der
Handlung passieren. Seine Schwenks zwischen den Gesichtern in Dialogen, die er
exzessiv statt Schnitten verwendet, versinnbildlichen dieses Herausarbeiten von
Zwischenräumen. Durch die zunehmende Länge gewinnt nicht die Dramaturgie an
Vielschichtigkeit, sondern der Charakter. Der Film hätte, wenn auch nicht ganz
so zufriedenstellend, auch als Kurzfilm erzählt werden können; es wäre ein
kompletter Film gewesen. Lange Stoffe bieten, wie Cannes ja auch mit dem
Siegerfilm gezeigt hat häufig mehr Raum und mehrere Schichten, manche
Filmemacher benötigen einfach Zeit, um ihre Charaktere zu entwickeln. Aber im
rumänischen Alltagskino, das zum Teil ohne große psychologische Beschreibungen,
ohne Vergangenheit (außer einer politischen Vergangenheit, die schweigend mit
erzählt wird) und ohne Zukunft daherkommt, ist der Kurzfilm unheimlich
effektiv. Die Grenze zwischen langen und kurzen Formaten verschwimmt im
Rumänischen Kino auch, weil die Nähe zu den Protagonisten meist das Zeitgefühl
im Zuschauer verschwinden lässt. Viele Filme des Neuen Rumänischen Kinos wirken
wie Filme der Dardenne-Brüder, ständig auf den Fersen der Charaktere. Der Film
dauert so lange, wie es interessant ist dem Charakter zu folgen.
„Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer |
„Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer |
In Cannes war Rumänien neben Cristian Mungiu, der sich
vielerorts als Mitglied der Jury zeigte, konsequenterweise in den
Kurzfilmwettbewerben zu sehen. Dabei
zeigte sich „O umbră de nor“ von Radu Jude als einer der herausragenden
Beiträge. Die Stärke liegt wieder in der Direktheit und der stillen, auf einen
Charakter bezogenen Beobachtung. Ein wenig wirkt der Film wie ein vom Vater
gefangener Hase, den er nach Tage des Hungerns auf den Tisch knallt. Zuerst
erschrickt man über den Knall und den toten Hasen, dann erkennt man die
Wichtigkeit und Schönheit des ganzen. (Ich rede von verhungernden Menschen,
liebe Vegetarier) Der Film zeigt den Alltag eines normalen Mannes. Erst nach
einiger Zeit erschließt sich, dass dieser Mann ein Pfarrer ist. Er zeigt in
direkten und präzisen Bildern, wie dieser Mann an den Hindernissen seines
eigenen Berufes zweifelt. Bürokratie, Menschen, die Wunder von ihm verlangen;
er muss einer Familie helfen, die ihm sehr nahe steht. Radu Jude gibt keine
großen Erklärungen, er folgt einfach. Der Film konzentriert sich auf die
kleinen Schwierigkeiten, in langen Einstellungen lässt er eine kleine Welt zum
Leben erwecken statt zu versuchen eine große Welt in einen Kurzfilm zu
quetschen. Diese kleine Welt wird von einem Tondesign erweitert, das die Umgebung
des Pfarrers herum mit Leben füllt. Der Pfarrer humpelt, man erfährt nicht
weshalb. Man denkt darüber nach. Dieser Mann liest die Gebete nüchtern ab. Es
werden keine Urteile gefällt. Ist der Film religionskritisch, ist er religionsverherrlichend?
Wie man das letztlich liest, kommt wohl auf die eigene Meinung an. Manche
Situationen sind absurd, manche sind zutiefst tragisch. Die Nähe zum Existentialismus
ist kaum zu leugnen. Ein großer Kurzfilm, der gleichzeitig wunderbar
beschreibt, wie man ein Leben leben kann und gleichzeitig nicht leben kann.
Außerdem war eben noch
Tudor Cristian Jurgiu in der Cinéfondation-Selektion vertreten mit seinem „În
Acvariu“, Dort beschreibt er die Beziehung eines jungen Pärchens, das sich
immer wieder trennt und wieder zusammenkommt, trennt und wieder
zusammenkommt. In langen Einstellungen
lässt er seine Charaktere Höhen und Tiefen ihrer Beziehung durchschreiten. Im Gegensatz
zu Jude fällt auf, dass sich Jurgiu nicht unbedingt einen Gefallen mit dem
Kurzfilmformat getan hat. Zu viele Emotionsschwankungen in einer kurzen Laufzeit
lassen die Charaktere zu Marionetten eines Konzepts werden. Kein Wunder also,
dass Jurgiu inzwischen seinen ersten Langfilm gedreht hat. Dennoch besitzt der
Film eine starke Eigendynamik, weil er es ermöglicht Charakteren beim Denken
zuzusehen, weil er suizidale, pubertäre Tendenzen bei eigentlich Erwachsenen
herausarbeitet und der Filmemacher sich mit filmischen Mitteln dem Thema
annähert, ähnlich einem Forscher, der nur durch Schauen Begreifen will.
Ansonsten waren die
Kurzfilme in Cannes ein bunter, internationaler Mix. Das Problem bleibt nach
wie vor, dass die Filme immer gleich in Blöcken konsumiert werden. Man bekommt
keine Zeit zu reflektieren. Je tiefer ein Kurzfilm geht, desto ungeeigneter
scheint er für Kurzfilmfestivals zu sein. Das Nebeneinanderstellen bewirkt
einen völlig unnötigen Vergleichsdrang im Zuschauer. Und auch das Filmfestival
in Cannes versteht nicht Animationen und Realfilme zu trennen. Wenn in einem
5er Block der dritte Film ein Animationsfilm ist, dann wirkt das wie eine
Werbeunterbrechung. Dieses Durcheinander ist respektlos gegenüber den
Animations- und den Realfilmen. Warum kann es keine eigene Sparte für
Animationen geben? Auch schrecklich wie viele Zuschauer nach bestimmten Filmen
das Kino verlassen. Ein ständiges Kommen und Gehen, das die Konzentration auf
die Filme noch schwerer macht. Der Kurzfilmalltag regiert also auch in Cannes. Schön, dass die Filme dennoch ein Niveau erreichen, das dem Festival würdig
erscheint.
„Needle“ von Anahita Ghazvinizadeh |
In „Needle“ von Anahita Ghazvinizadeh bleibt
die letzte Einstellung, eines jungen Mädchens gefangen in ihrer eigenen Familie
stehen. Sie sitzt auf einem Stuhl, nachdem sie sich zwei Ohrringe hat stechen
lassen und schaut direkt in die Kamera. Es gibt keine Flucht vor dem Alltag.
Diese Momente, diese Betonung der Augenblicke, die auf das Größere schließen
lassen statt per se etwas Großes zu erzählen, funktioniert für das Medium des
Kurzfilms.
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