Mittwoch, 5. Juni 2013

Kurzfilme in Cannes: Der Alltag lässt das Kino leben



Etwas abseits vom großen Rummel des roten Teppichs kann man in Cannes auch herausragende Kurzfilme finden und bewundern. Neben den Screenings steht einem dafür auch, ganz modern und etwas fragwürdig eine Reihe von Computern im Untergeschoss des Palais zur Verfügung. Der Vorteil an diesem System ist, dass man erstens jederzeit ein eigenes einstündiges Programm mit Kurzfilmen zusammenstellen kann und dass dort auch jene Filme gesehen werden können, die nicht angenommen wurden; der Nachtteil ist aber, dass erstens eine Art Prostitution unter den Filmemachern beginnt, deren Filme nicht eingeladen wurden und zweitens, dass man als logische Folge nicht mehr zu den Screenings der Kurzfilme geht, obwohl diese zum größten Teil genauso für das Kino hergestellt wurden, wie jeder beliebige Langfilm. Mit Prostitution meine ich, dass die Horde junger Filmschaffende, die davon träumt den roten Teppich zu Gesicht bekommen sich dort mit Flyern, Händen und Füßen verkauft und jeden davon überzeugen will, dass man sich doch bitte den jeweiligen Film ansehen soll, der auch ganz bestimmt ganz anders ist, als alle anderen. Kurze Zeit hat mich das stutzig gemacht. Ist das der Weg, den man als junger Filmemacher gehen muss? Die ständige Selbstpräsentation, der Zwang eine Marke aus sich zu machen, scheint dem Wesen des Filmschaffenden meiner geringen Erfahrung zur Folge tatsächlich anzuhaften. Die große Schwierigkeit liegt darin sich einen eigenen Blick auf das Leben zu bewahren, wenn man ständig Netzwerke spinnen soll und wie in Cannes, um Screenings betteln muss. Allerdings geht das auch anders, wie nicht zuletzt viele der Filmemacher bestätigen, die in den Wettbewerb eingeladen worden sind. So äußert der rumänische Jungregisseur Tudor Cristian Jurgiu, mit dem ich ein längeres Gespräch führen dürfte, dass ich demnächst veröffentlichen werde, dass er kein Interesse am sogenannten Networking habe. Er versuche sich einen Produzenten zu suchen, der das für ihn übernimmt. Ein beruhigender Gedanke, denn wenn man Film als Kunst wirklich ernst nimmt, muss man als Filmemacher die Chance bekommen können einen freien Kopf zu behalten, seinen eigenen Rhythmus zu wählen und sich auf seine eigene Wahrnehmung konzentrieren können, wann immer man es für richtig hält.

 
Über den Sinn und Unsinn von Kurzfilmen allgemein wurde auf „Jugend ohne Film“ schon häufiger diskutiert. Das Neue Rumänische Kino ist ein Musterbeispiel für den Sinn dieser „Lehre“, durch die die jungen Filmschaffenden des Landes gehen. Fast alle wichtigen Vertreter der Kinowelle, die nun schon über 8 Jahre anhält und mit dem Sieg von „Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer auf der Berlinale einen weiteren Höhepunkt erlebt hat, haben ihr Handwerk mit zum Teil aufregenden Kurzfilmen erlernt. Die Alltäglichkeit und Plötzlichkeit ihrer Langfilme überträgt sich wunderbar vom Kurzfilm- in das Langfilmmedium. Ein Kino, das Situationen beschreibt, das den Alltag beschreibt mit einer Tendenz zur Echtzeit fühlt sich wohl in den kurzen Zeitspannen von Kurzfilmen. Häufig scheinen sich die Outlines der Lang- und Kurzfilme gar nicht zu unterscheiden. Die Regisseure fügen ihren Filmen nicht unbedingt Dramatik hinzu mit steigender Länge, sondern Tiefe. Betrachtet man zum Beispiel Poziția copilului“ begegnet man der Geschichte einer Mutter, die trotz einer völligen zerstörten Beziehung zu ihrem Sohn diesem hilft, als er ein Kind überfährt. Der Standard-Ratschlag von sogenannten erfahrenden Filmschaffenden ist: „Jeder Geschichte hat eine bestimmte Länge, in der sich erzählt werden kann.“ Das kann man auf keinen Fall so stehen lassen, insbesondere mit Blick auf Netzers Mutter-Sohn Tragödie. Diese Geschichte hätte auch in einen Kurzfilm gepasst. Er beleuchtet Alltägliches, er beleuchtet Dinge, die zwischen der Handlung passieren. Seine Schwenks zwischen den Gesichtern in Dialogen, die er exzessiv statt Schnitten verwendet, versinnbildlichen dieses Herausarbeiten von Zwischenräumen. Durch die zunehmende Länge gewinnt nicht die Dramaturgie an Vielschichtigkeit, sondern der Charakter. Der Film hätte, wenn auch nicht ganz so zufriedenstellend, auch als Kurzfilm erzählt werden können; es wäre ein kompletter Film gewesen. Lange Stoffe bieten, wie Cannes ja auch mit dem Siegerfilm gezeigt hat häufig mehr Raum und mehrere Schichten, manche Filmemacher benötigen einfach Zeit, um ihre Charaktere zu entwickeln. Aber im rumänischen Alltagskino, das zum Teil ohne große psychologische Beschreibungen, ohne Vergangenheit (außer einer politischen Vergangenheit, die schweigend mit erzählt wird) und ohne Zukunft daherkommt, ist der Kurzfilm unheimlich effektiv. Die Grenze zwischen langen und kurzen Formaten verschwimmt im Rumänischen Kino auch, weil die Nähe zu den Protagonisten meist das Zeitgefühl im Zuschauer verschwinden lässt. Viele Filme des Neuen Rumänischen Kinos wirken wie Filme der Dardenne-Brüder, ständig auf den Fersen der Charaktere. Der Film dauert so lange, wie es interessant ist dem Charakter zu folgen.

Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer

Poziția copilului“ von Călin Peter Netzer

In Cannes war Rumänien neben Cristian Mungiu, der sich vielerorts als Mitglied der Jury zeigte, konsequenterweise in den Kurzfilmwettbewerben zu sehen.   Dabei zeigte sich „O umbră de nor“ von Radu Jude als einer der herausragenden Beiträge. Die Stärke liegt wieder in der Direktheit und der stillen, auf einen Charakter bezogenen Beobachtung. Ein wenig wirkt der Film wie ein vom Vater gefangener Hase, den er nach Tage des Hungerns auf den Tisch knallt. Zuerst erschrickt man über den Knall und den toten Hasen, dann erkennt man die Wichtigkeit und Schönheit des ganzen. (Ich rede von verhungernden Menschen, liebe Vegetarier) Der Film zeigt den Alltag eines normalen Mannes. Erst nach einiger Zeit erschließt sich, dass dieser Mann ein Pfarrer ist. Er zeigt in direkten und präzisen Bildern, wie dieser Mann an den Hindernissen seines eigenen Berufes zweifelt. Bürokratie, Menschen, die Wunder von ihm verlangen; er muss einer Familie helfen, die ihm sehr nahe steht. Radu Jude gibt keine großen Erklärungen, er folgt einfach. Der Film konzentriert sich auf die kleinen Schwierigkeiten, in langen Einstellungen lässt er eine kleine Welt zum Leben erwecken statt zu versuchen eine große Welt in einen Kurzfilm zu quetschen. Diese kleine Welt wird von einem Tondesign erweitert, das die Umgebung des Pfarrers herum mit Leben füllt. Der Pfarrer humpelt, man erfährt nicht weshalb. Man denkt darüber nach. Dieser Mann liest die Gebete nüchtern ab. Es werden keine Urteile gefällt. Ist der Film religionskritisch, ist er religionsverherrlichend? Wie man das letztlich liest, kommt wohl auf die eigene Meinung an. Manche Situationen sind absurd, manche sind zutiefst tragisch. Die Nähe zum Existentialismus ist kaum zu leugnen. Ein großer Kurzfilm, der gleichzeitig wunderbar beschreibt, wie man ein Leben leben kann und gleichzeitig nicht leben kann.
 
„O umbră de nor“ von Radu Jude

Außerdem war eben noch Tudor Cristian Jurgiu in der Cinéfondation-Selektion vertreten mit seinem „În Acvariu“, Dort beschreibt er die Beziehung eines jungen Pärchens, das sich immer wieder trennt und wieder zusammenkommt, trennt und wieder zusammenkommt.  In langen Einstellungen lässt er seine Charaktere Höhen und Tiefen ihrer Beziehung durchschreiten. Im Gegensatz zu Jude fällt auf, dass sich Jurgiu nicht unbedingt einen Gefallen mit dem Kurzfilmformat getan hat. Zu viele Emotionsschwankungen in einer kurzen Laufzeit lassen die Charaktere zu Marionetten eines Konzepts werden. Kein Wunder also, dass Jurgiu inzwischen seinen ersten Langfilm gedreht hat. Dennoch besitzt der Film eine starke Eigendynamik, weil er es ermöglicht Charakteren beim Denken zuzusehen, weil er suizidale, pubertäre Tendenzen bei eigentlich Erwachsenen herausarbeitet und der Filmemacher sich mit filmischen Mitteln dem Thema annähert, ähnlich einem Forscher, der nur durch Schauen Begreifen will.
 
„În Acvariu“ von Tudor Cristian Jurgiu

Ansonsten waren die Kurzfilme in Cannes ein bunter, internationaler Mix. Das Problem bleibt nach wie vor, dass die Filme immer gleich in Blöcken konsumiert werden. Man bekommt keine Zeit zu reflektieren. Je tiefer ein Kurzfilm geht, desto ungeeigneter scheint er für Kurzfilmfestivals zu sein. Das Nebeneinanderstellen bewirkt einen völlig unnötigen Vergleichsdrang im Zuschauer. Und auch das Filmfestival in Cannes versteht nicht Animationen und Realfilme zu trennen. Wenn in einem 5er Block der dritte Film ein Animationsfilm ist, dann wirkt das wie eine Werbeunterbrechung. Dieses Durcheinander ist respektlos gegenüber den Animations- und den Realfilmen. Warum kann es keine eigene Sparte für Animationen geben? Auch schrecklich wie viele Zuschauer nach bestimmten Filmen das Kino verlassen. Ein ständiges Kommen und Gehen, das die Konzentration auf die Filme noch schwerer macht. Der Kurzfilmalltag regiert also auch in Cannes. Schön, dass die Filme dennoch ein Niveau erreichen, das dem Festival würdig erscheint. 

„Needle“ von Anahita Ghazvinizadeh

In „Needle“ von Anahita Ghazvinizadeh bleibt die letzte Einstellung, eines jungen Mädchens gefangen in ihrer eigenen Familie stehen. Sie sitzt auf einem Stuhl, nachdem sie sich zwei Ohrringe hat stechen lassen und schaut direkt in die Kamera. Es gibt keine Flucht vor dem Alltag. Diese Momente, diese Betonung der Augenblicke, die auf das Größere schließen lassen statt per se etwas Großes zu erzählen, funktioniert für das Medium des Kurzfilms.

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