Wie schon im vergangenen Jahr möchte ich auch 2013 alle drei
Monate auf das bisherige Kinojahr blicken und dabei nach Ähnlichkeiten und
Tendenzen suchen, und (nicht immer) wertungsfrei einen Überblick über jene
Filme geben, die es 2013 in die deutschsprachigen Kinos geschafft haben.
Freddie Quell, gespielt von einem losgelösten Joaquin
Phoenix, sitzt müde auf einer dieser typischen Abendversammlungen von Lancaster
Dodd, dem Sektenführer in Paul Thomas Andersons „The Master“. Alle sind
ausgelassen, aber auch angespannt, weil sie die ganze Konzentration im Raum auf
Dodd bezieht. In den purpurroten Gesichtern der 50er Jahre spiegelt sich nicht
nur beschwipste Freude, sondern auch Angst. Einzig an Quell scheint das Leben
im Bewusstsein vorbeizugehen. Er beobachtet Dodd und man fragt sich die ganze
Zeit, ob er zu einem Urteil fähig ist. Dodd, dessen Netz aus rhetorischen
Rechtfertigungen Philip Seymour Hoffman überzeugend ambivalent wiedergibt,
macht sich auf zu einer Orson Welles-„Citizen Kane“-Showeinlage und beginnt vor
der versammelten Gesellschaft zu singen und zu tanzen. Durch den beobachtenden Blick
von Quell wirkt die Ausgelassenheit angestrengt, die Persönlichkeit
oberflächlich. Plötzlich tragen alle Frauen im Raum keine Kleidung mehr. Die
Kamera schweift über die nackten Körper. Selbst die schwangere Frau von Dodd
sitzt nackt auf ihrem Stuhl und sie blickt Quell direkt an: Erwischt. Wo ist
dieser Mann? Als wollte uns Anderson den ganzen Film dieses Abdriften
demonstrieren, scheint er selbst keinen klaren Weg in seiner Narration zu
gehen, auch er verliert sich in einer Fantasie von sinnlicher Schönheit. Wozu
braucht man Realität, wenn man ohne sie viel besser leben kann?
Es vollzieht
sich ein Kampf zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, das Tierische und das
perfektionierte Bild des Menschen. Margot sinkt in „Take this Waltz“ von Sarah
Polley gegen einen Backofen. Sie denkt nach und wirkt eingesperrt, möchte
immerzu fliehen. In völliger Unschärfe erscheint ein Mann an ihrer Seite. Eine
Unschärfe, die die subjektive Vermeidung der Realität verdeutlicht und die sich
immer wieder im Kino 2013 findet. Sie ist gleichzusetzen mit der Dunkelheit von
Kathrin Bigelow’s „Zero Dark Thirty“, in der man sich im Haus von Osama Bin
Laden Meter für Meter sich einer Realität nähern muss, die einmal beseitigt
seltsam irreal wirkt. Für Maya, gespielt
von einer überzeugend abgestorbenen Jessica Chastain, ist die Arbeit Flucht vor
der Realität und wenn sie getan ist, dann gibt es auch keine Realität mehr. Unschärfe,
die gleichzusetzen ist mit der verschachtelten Erzählweise von Harmony Korine
in seinem „Spring Breakers“; ein Film über die Flucht vor der Realität, der
sich genauso taub anfühlt, wie ein Chat im Vergleich zu einem Gespräch. Unschärfe,
die gleichzusetzen ist mit dem verhinderten Blick auf den Schützen am Ende von
Thomas Vinterbergs „Jagten“, als die Sonne den Blick von Lucas versperrt. Glücklich
ist Michelle Williams als Margot nicht an der Seite eines Mannes in ihrer
Küche, auch wenn sie vieles daran setzt glücklich zu sein. Glücklich ist sie in
der anonymen Farbenpracht eines Karussells. Einer konstanten Bewegung jenseits
jeder Verantwortung. Wie Freddie Quell ist sie nicht gemacht für diese
Realität.
Doch auch die Filme selbst fliehen vor der Realität, denn so
wie die Erwachsenen in „Jagten“ der Fantasiewelt eines Kindes folgen und dabei
vergessen selbst zu denken, weil man einem Kind offensichtlich immer genauso
lange glaubt, wie man möchte, so verliert „Spring Breakers“ jegliche Beziehung
zur Realität und verliert sich völlig in der Videospielwelt seiner
Protagonistinnen. Und wenn sie die Kamera lange im Kreis dreht, zu den Klängen
von Leonard Cohens „Take this Waltz“, dann wirkt das bizarr und unglaubwürdig,
weil man Margot so etwas nicht zugetraut hatte oder weil alles einer Fantasie entspringt
und sei es die Fantasie der Regie. Eine Fantasie, die Geschichte umschreibt,
wie Quentin Tarantino das in seinen letzten beiden Filmen getan hat, die auch
Filmgeschichte umschreibt und wie in „Django Unchained“ einen schwarzen Westernhelden
bastelt, einen Sklaven, der zum Racheengel wird, sodass man nur noch schreien
will: Mach sie fertig! Und schon ist man in einem filmischen Paralleluniversum,
das kaum einer so überzeugend aufbauen kann wie Tarantino. Selbst wenn er droht
von der Realität eingeholt zu werden in einigen Sequenzen, in seinen Dialogen,
in seiner gewollten Überzeichnung und seiner Inszenierung verlässt er sie
wieder. Seinem Credo, dass man Film und Realität klar trennen kann und muss,
ist hier leicht zu folgen.
Selbst wenn die Realität mit aller Grausamkeit
zuschlägt, wirkt das seltsam surreal, so wie in der famosen Sequenz in „De
rouille et d’os“ von Jacques Audiard, als Stéphanie während einer Dressur-Show
am Swimmingpool von einem ihrer Wale angegriffen wird. Audiard findet eine
poetische, allein durch Bilder erzählte Sprache, in dem Moment, in dem
Stéphanie ihre komplette Existenz verliert. Er lässt einen Moment aus und holt
Luft, bis er den Körper von Stéphanie blutend im Wasser schweben lässt. Und
gleichzeitig kommt Alain rennend, verschwitzt aus der Unschärfe, in Zeitlupe;
das Wasser fließt durch diesen Film, wie es will und erst am Schluss gelingt es
durch die Eisschicht darüber zu brechen und es zu spüren. Aber seltsam viel
Licht lässt auch dieses Ende trügerisch erscheinen, so wie in „Jagten“ als
Lucas die kleine Klara über den Boden trägt, weil sie ihn nicht berühren darf.
Der Film spielt damit, dass wir auch beginnen daran zu zweifeln, was wir
glauben sollen. Wir reden hier nicht von einem naiven Realismus im Sinne einer
Abbildung der Welt wie sie ist, sondern von unserem Glauben an die Bilder. Wie
real sind die Überfälle der Mädchen in „Spring Breakers“? Warum stellt Korine
seine Welt wortwörtlich auf den Kopf? Was lesen wir in den Gesichtern von Freddie
Quinn, Lucas oder Margot? Wer ist diese Maya, die den gesuchtesten Mann der
Welt gefunden hat?
Ein Shakespeare-Stück, das in einem Gefängnis von Mördern und
Dieben einstudiert wird, die sich darin verlieren können, scheint der Inbegriff
jenes Fluchtversuchs des Kinos zu sein.
Der Berlinale-Sieger von 2012, „Cesare deve morire“ von den Gebrüdern-Taviani,
zeigt genau diese Glorifizierung der Kunst als Möglichkeit zu fliehen. Jemand
anderes werden und die grausame Alltäglichkeit hinter Gittern vergessen. Ein
Plädoyer für die Menschlichkeit der Kunst, die sich hinter diesem Spiel mit
Identitäten verbirgt. Die Taviani-Brüder scheinen dabei in eine schwarz/weiß
Ästhetik zu fliehen, um sich der Künstlichkeit der Realität bewusst zu werden.
Ein Paradox, dass sich anders auch für Django, gespielt von Jamie Foxx, findet,
der Rollen spielen muss, um an sein Ziel zu gelangen. Damit ist er
gewissermaßen ein Gegenstück zu Mr. Orange aus Tarantinos früherem „Reservoir
Dogs“, ein Mann der so fest an seine Rolle glauben muss, dass ihm alle anderen
auch glauben. Das ist ja das Wesen der Filmschauspielerei in vielerlei
Hinsicht, aber den Bildern können wir heute nicht mehr glauben und die Regisseure
scheinen das zu wissen. Sie sagen uns so lange, dass wir nur einen Film
betrachten bis wir es vergessen und uns plötzlich im Chaos einer völlig echten
Wohnung in Ulrich Seidls „Paradies:Glaube“ finden, bis wir plötzlich
realisieren, dass wir Osama Bin Laden erschossen haben und bis wir eine
Freundschaft aufgeben müssen, weil wir an unseren eigenen Prinzipien scheitern,
wie Dodd und Quell am Ende von „The Master“. Und dann erkennen wir wie Patrick
in „Silver Linings“ von David O.Russell, wen wir die ganze Zeit über, in all
den Tänzen, dem Aberglauben, der Flucht vor uns selbst, dem Weglaufen vor der
Realität, den pathologischen Anwandlungen geliebt haben und wir stehen auf der
Straße und sagen „Ich liebe dich“ und die Kraft der Filme hat nichts verloren,
weil wir es glauben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen