Momentan sind zwei Darstellungen von Teenagerinnen und ihren
Befindlichkeiten im Kino zu sehen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Einmal ist Ulrich Seidls letzter Teil seiner Paradies-Trilogie im Kino zu
sehen, „Paradies: Hoffnung“. Darin geht es um die 13jährige Melanie, die in ein
Diät-Camp geschickt wird und dort alles daran setzt ihre Unschuld mit dem
örtlichen Doktor zu verlieren. Dagegen präsentiert Harmony Korine in „Spring
Breakers“ vier amerikanische Freundinnen, die in den Ferien nach Spring Break
fahren, um dort in einem Exzess aus Party und Gewalt zu landen. Der Blick auf
Teenager ist kein ungewöhnlicher, allerdings wird es ein sehr individueller,
wenn er von Filmemachern wie Ulrich Seidl und Harmony Korine vollzogen wird.
Eigentlich ist es nicht möglich beide Filme in eine Besprechung zu packen, aber
da beide gewissermaßen ein jugendliches Doppelleben zeigen auf einer vergebenen
Suche nach sich selbst, kann man zumindest den Versuch wagen.
Das Doppelleben der Jugendlichen in „Paradies: Hoffnung“
findet sich in der Diskrepanz zwischen dem Leben, das sie laut Autoritäten wie
Eltern und Übungsleitern zu führen haben, und jenem, das sie hinter
verschlossenen Türen oder beim Ausbüchsen aus dem Diät-Camp tatsächlich leben
wollen. Dabei fällt ein hoher Grad an Menschlichkeit auf, der für
Seidl-Verhältnisse schon fast erschreckend anmutet. Melanie fehlen die
perversen, (unabsichtlich) menschenverachtenden Neigungen, die Seidl ansonsten
fast jedem seiner Protagonisten mitgibt und die es auch in den anderen beiden
Paradies-Teilen zu sehen gab. Ganz im Gegenteil verzweifelt man an ihrer
Ungeschicklichkeit in ihren Annäherungsversuchen an den viel älteren Arzt, der
allerdings sehr wohl jene seidlschen Neigungen aufweist, zum Beispiel als die
bewusstlose Melanie auf den Waldboden legt und sie von oben bis unten
beschnuppert. Die Jugendlichen bei Seidl sind normal. Sie reden über Sex und
ihre Eltern, sie trinken und haben keine Lust auf Sport. Fast schon rund wirkt
das Geschehen. „Hoffnung“ scheint am meisten darunter zu leiden, dass die drei
Filme eigentlich als einer geplant waren. Die Geschichte eines Mädchen, dass in
ihrem Diät-Camp ihre Jungfräulichkeit verlieren will, übersteigt in keiner
Minute das, was man erwartet, wenn man die Tagline in Verbindung mit dem Namen
Ulrich Seidl hört. In typisch frontalen Totalen zeigt er die täglichen
Schindereien für die übergewichtigen Kinder. Der Stoff mutet lange nicht so
brisant an wie Sextourismus oder Glaubenskrieg in den eigenen vier Wänden.
Schließlich verzichtet Seidl auch zu großen Teilen auf die Ausstellung der
Körperlichkeit seiner Protagonisten, ja fast ist da ein Respekt zu spüren, wenn
er aus sicherer Entfernung Jugendliche zeigt, die versuchen ihre Körper zu
ignorieren. Natürlich ist dieser Respekt auch angemessen, aber es ist nicht der
Respekt, den man von Ulrich Seidl kennt.
Das krankhaft-realistische Element
seines Films dringt dann durch seine Nebenfiguren. In einer unfassbar gut
beobachteten Szene sitzen zwei junge Männer hinter einer Scheibe eines
heruntergekommenen Tanzlokals und beobachten Melanie und eine Freundin beim
tanzen. Die beiden unterhalten sich über die Frauen, kündigen an, was sie mit
ihnen machen wollen, trinken, spielen ihre Nervosität mit Coolness herunter und
man fragt sich tatsächlich, ob in dieser Szene weit mehr steckt als nur die
bloße Handlung. Die Präzision, die Seidl ausgerechnet mit Charakteren erreicht,
die hinter einer Scheibe auf die Protagonistin blicken, steht sinnbildlich für
seinen Stil. Es ist der kalte-satirische Blick eines Mannes, der eine Trilogie
dreht, in der er die Schwächen und Krankheiten einer Gesellschaft thematisiert
und damit immer auch ein Gefühl von Perversion vermittelt. Unweigerlich muss
man lachen in dieser doch so alltäglichen und gleichzeitig widerwärtigen Szene.
Man lacht, man ekelt sich, man kennt die Situationen. Diese drei Stimmungen
zugleich auszulösen, ist die große Kunst von Seidl. Michael Thomas als
Sporttrainer und Joseph Lorenz als Diätarzt sind die klassischen Charakter des
Kinos von Ulrich Seidl, sie spielen mit Erwartungen und ähnlich dem hinlänglich
thematisierten Warten auf die Gewalt bei Quentin Tarantino oder Takeshi Kitano,
wartet man bei ihnen auf eine krankhafte Handlung. Ab und an fragt man sich, ob
jeder Mensch unter dem Auge von Seidl solche Neigungen erfährt, ob es immer so
merkwürdig anmutet, wenn ein Mann einen Schluck Wein trinkt, wie bei Joseph
Lorenz. Aber Ulrich Seidl blickt auf diese Welt von außen. Er thematisiert
nicht die moderne Jugend, sondern ihre Rolle in der Gesellschaft; bei ihm
laufen die Teenager durch einen Tunnel, sollen nicht nach links und rechts
blicken, sie sind zum echten Leben verdammt, aus dem sie nicht fliehen können.
Jeder ihrer Fluchtversuche wird unterbrochen. Sei es durch Autoritäten oder die
eigenen Körperlichkeit. Ihre Welt fühlt sich seltsam normal an.
Dagegen versucht Harmony Korine die Welt seiner Teenagerinnen
zu durchdringen, ja förmlich einen Film zu schaffen, der in Stil und Handlung
völlig subjektiv in den Köpfen einer Generation stattzufinden scheint, die sich
in Videospielen und Aufgeklärtheit ertränkt. Wenn seine Protagonistinnen nach
und nach Spring Break verlassen, legen sie ihre Hand auf das Fenster, als ob
sie die Außenwelt gar nicht mehr spüren könnten. Wie ein dauerhaftes Spiel,
eine dauerhafte Nicht-Präsenz in den Avataren von Facebook und dem Internet.
Alles ist möglich, weil es keine Relationen mehr gibt. Die Dialoge überlappen
sich, kehren in sich immer wiederholenden Strukturen zurück, es ist ein „Skirting
on the surface“, in welchem die Jugend bei Korine ihr Glück sucht und zum Teil
auch findet. Die wunderschöne HipHop-Video-Ästhetik von Noé-Kameramann Benoît
Debie (Autos und nackte Bitches im Sonnenuntergang am Meer) wirkt in ihrer
puren Schönheit genauso surreal, wie die Narration, die sich unterstützt von
einem melancholisch-bereuenden Score ähnlich einem fiebrigen Traum stufenweise
vorwärts bewegt. Immer ein Schritt zurück und zwei nach vorne, so dass alles
wie ein einziger Flashback wirkt. Niemals kann man die viele Nacktheit und
Gewalt wirklich greifen, alles wirkt wie hinter einer Glaswand. Abgestorben und
doch so schön. In ermüdenden, immer wieder auftauchenden Sequenzen heißt es
„Spring Breaks, Spring Breaks, Spring Breaks Forever.“, und man kann sich nur
anwidern oder identifizieren.
Korine wagt hier einen äußerst subjektiven Blick,
der, wenn man der Karriere seines Kameramanns folgen möchte, am ehesten noch
mit Gaspar Noés „Enter the Void“ zu vergleichen ist, auch wenn Korine mit
gänzlich anderen Mitteln arbeitet. Für ihn ist der Stil die Narration, denn die
Handlung selbst ist nur ein Spiel; wie bei Seidl findet sich der Gipfel der
normalen Krankheit, dann in einem Nebencharakter: „Alien“, gespielt von einem
entstellten und völlig irren James Franco, der Britney Spears am Klavier
zelebriert und mit Waffen auf seinem mit Geldscheinen überfluteten Bett tanzt
und immerzu sagt: „Look at all the shit I have.“. „Spring Breakers“ ist
zugleich eine Karikatur und ernstgemeintes Portrait einer Generation, die den
Bezug zur Realität verloren hat. Das Doppelleben wird hier nicht geführt, es
besteht einfach. Wenn die Folgen der Gewalt sichtbar gemacht werden, dann ist
man schon darauf vorbereitet durch kurze Bilder, die einige Minuten vorher
auftauchen, wie zum Beispiel der blutige Finger von „Alien“ am Klavier. Dadurch
wirkt nichts real in dieser Welt. Wenn die Mädchen ein Restaurant ausrauben,
dann blickt man auf sie durch ein Fenster des Fluchtwagens. Die Gewalt wirkt
seltsam taub, genauso wie in den sexuellen Traumfantasien des Films kaum Erotik
steckt. Man hat das Gefühl, dass Harmony Korine diesen Film mit einem
Videospielcontroller gedreht hat. Er bringt damit aber Film zurück zu einer
„Alles ist möglich“-Philosophie und dreht vielleicht den besten Film aus Sicht der
Party-Generation-Playstation aller Zeiten. Wie in einem Videospiel gibt es
keine Konsequenzen. Wie ein Videospiel erschließt sich der Sinn nur für
Eingeweihte.
Auffällig ist, dass beide Regisseure auf den so unfilmischen,
toten Blick von Teenagern auf ihre Smartphones verzichten. Damit sind beide
Filme wohl kein Portrait der zeitgenössischen Jugend, sondern kommen mit 5
Jahren Verspätung. Zeigt sich bei Ulrich Seidl das klassische Handwerk eines
Autorenfilmers, der jedem Stoff seinen Blick auf die Welt unterordnet, so wagt
Korine sich in seiner Welt zu verlieren. Dennoch spürt man beiden Filmen in
ähnlicher Weise Sarkasmus an. Bei Seidl äußert dieser sich paradoxerweise in
Hoffnungslosigkeit, bei Korine in Glorifizierung. Steht am Ende von Seidls Film
ein großes „Ende“, so ist es bei Korine „Game Over“.
Paradies: Hoffnung
Spring Breakers
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