Was wir sehen sind Fenster und Spiegel, Türen und Rahmen; was
wir sehen ist ein Original, das von Anfang an eine Kopie war: „Copie conforme“
von Abbas Kiarostami ist ein Film über das Wesen der Kunst. Aber es ist auch
ein Film über das Wesen der Existenz. Was zählt ist nicht, ob das was wir
wahrnehmen einer Echtheit entspricht oder sich in logischen Abfolgen fortsetzt,
sondern lediglich ob wir es für wahr halten; alles andere kann man ignorieren.
Dies ist die Meinung des Autors James Miller und ganz ähnlich
wie Fellini in „8 ½“ oder Assayas in „Irma Vep“ vollzieht der Regisseur das
Werk seines Protagonisten sozusagen im Entstehen. Ein Kunstgriff, der leicht
misslingen kann, insbesondere da er sich im Gegensatz zu den anderen beiden
Filmemachern weder im Bereich der Filme selbst, noch im Bereich einer
satirischen Überzeichnung bewegt, die eventuelle Unstimmigkeiten locker zu
überblenden vermag. Denn ist „Irma Vep“ als klare Komödie im Stile eines
lustigen Films über einen Filmdreh aufgezogen, die erst gegen Ende an Tiefe
gewinnt und „8 ½“ eine Karikatur einer ganzen Ära, so scheint der einzige Humor
bei „Copie conforme“ den beiden Protagonisten exklusiv vorenthalten sein und
man erfährt nicht mal, ob sie es denn lustig finden oder gar ob es überhaupt
zum Lachen oder zum Weinen ist. Jedenfalls ist der Ansatz auch von einer
gewissen Arroganz geprägt, schließlich impliziert er, dass die
Inszenierung sich derart der Realität verschrieben hat, dass kein Unterschied
mehr besteht zwischen ihrer Fiktionalität und dem, was man Realität nennen
könnte. Besonders beeindruckend offenbart sich das sogleich in der
Eröffnungsszene, in der James Miller an einer Universität über sein Buch
sprechen soll. In völlig klaren, einfachen Bildern zeigt Kiarostami das
Geschehen; man sieht und hört alles, was passiert, es ist brillant beobachtet:
Das Verhalten wartender Leute, die Art und Weise ihres Lachens, ihrer
Verlegenheit. Dabei hat man als Zuseher fast dieselbe Antizipation wie die
Hörerschaft im Saal. An anderer Stelle befinden wir uns im Auto und Juliette
Binoche (deren Charakter namenlos bleibt) und scheinbar läuft eine Frau über
die Straße. Der Film lässt völlig unklar, ob dort tatsächlich eine Frau über
die Straße ging oder ob es nur gespielt war; sprich: spielt Binoche, dass sie
spielt oder nimmt sie die Realität in ihr Spiel auf? Doch wie weit vermag ein
Regisseur dieses Spiel zu treiben?
Um in die Falle einer gezwungenen Konsequenz zu tappen, ist
Kiarostami ein zu abgezockter Filmemacher. Stattdessen lässt er seine Protagonisten
in wundersam existentialistischer Manier durch malerische italienischen Gassen
schlendern, ganz so, als würden die beiden in einem Rollenspiel „La notte“ von
Antonioni ausprobieren, um festzustellen, dass sie sich selbst nicht
kennenzulernen brauchen, weil sie über die Stufe die Celine und Jesse in
Linklaters „Before Sunrise“ durchlaufen müssen schon lange hinweg sind. Dabei
ist es erstaunlich wie frei und konsequent der Film gleichzeitig wirkt. Frei in
der Hinsicht, dass er die Charaktere in einer gefühlten Echtzeit verfolgt, in
der Kiarostami seine unheimliche Beobachtungsgabe auslebt, von peinlichen
Momenten und ständig klingenden Handys bis zu nüchterner Leere, in der es
nichts zu sagen gibt. Konsequent ist „Copie conforme“ in seiner Zirkulation um
das Thema Original/Fälschung und der Art und Weise wie diese beiden Felder erst
theoretisch und dann ganz praktisch spürbar auch für den Zuschauer
verschwinden.
Fast wissenschaftlich wird man eingeführt in das Thema, denn
es handelt sich auch um ein kunsthistorisches Buch, bevor man sich schließlich
mitten in einem Beziehungsfilm befindet, der exemplarisch das Thema vorführt.
„Vorführt“ ist hier wörtlich zu nehmen, denn wer führt hier etwas vor? Die
Faszination des Films liegt darin, dass die Charaktere sich vor den Augen des
Zuschauers auflösen und man gar nicht anders kann als zu akzeptieren, dass man
nicht mehr weiß wer sie sind, was sie sind und ob das was man sieht Original
oder Kopie ist. Juliette Binoche flirtet zudem mit der Kamera, streift den
direkten Blick, nimmt den direkten Blick, lächelt und weint und wechselt ihre
Stimmungen in sekundenbruchteilen mit einer derartigen Glaubhaftigkeit, dass
man erschauert; sie lädt den Zuschauer förmlich zur Interpretation ein; hier
spielen die Charaktere nicht nur mit der Liebe, sie spielen mit dem Zuschauer.
Dialoge werden in jeweils frontalen Schuss/Gegenschuss
Aufnahmen gefilmt; lange Einstellungen, die die Charaktere nicht in Relation zu
ihrem Gesprächspartner, sondern in Relation zu ihrer Umwelt und zur Kamera
einfangen. Unechtheit, die einen gefangen nimmt. Einmal steht Miller in einem
Türrahmen und im Hintergrund ist unscharf ein Hochzeitspaar zu erkennen. Die
Braut hat ein Problem mit ihren Augen, bekommt Tropfen, während die Welt an ihm
vorbeizuziehen scheint. Oder beobachtet er etwas Off-Screen? Am Ende steht mise
en scène vor dem Namen von Kiarostami. Selten schien dieser Begriff so
gerechtfertigt, denn die Tableaus, die Kiarostami um seine Figuren baut, die
Welt durch die frei zu gehen scheinen, ist durchzogen von einer Planbarkeit,
die einen schlicht an das wahre Leben erinnert. Fenster versperren die
Möglichkeit zur Kommunikation, ein großer Baumstamm verhindert die Sicht auf
den einzigen zärtlichen Moment im Film. In seiner architektonischen Präzision
erinnert Kiarostami an Michelangelo Antonioni; auch Miller scheint einem
Antonioni Film zu entspringen; seine Egozentrik, sein Intellekt, seine
Passivität. Am Ende beschäftigt sich der Film mit Erinnerungen, die es
vielleicht nie gegeben hat. Als wären sie in Marienbad spielen Frau und Mann
hier ein verwirrendes Versteckspiel. Die Bewunderin wird zur Muse und die Muse
übernimmt die Kontrolle über den machtlosen Autor. Miller blickt aus dem fenster, wie in einer Erzählung, die er vorher im Film rekonstruierte. Aber er kann sich nicht erinnern.
Oberflächlich betrachtet erzählt der Film viele dieser Dinge.
Aber in dieser Betrachtung liegen die Fenster und Spiegel in der Welt von
Kiarostami und auch die Frage, wann ein Leser dem Autor schon voraus ist. Immer
wieder sagt Miller, dass er das Buch irgendwann habe abschließen müssen. Doch
er erfährt-wie wir-dass die Welt durchdrungen ist von einer Offenheit, die mehr
Spielraum lässt, die Spielraum lässt, die Raum lässt, die spielt. Wenn sich am
Ende von „Irma Vep“ das Bild auflöst, wenn sich am Ende von „Our beloved month
of August“ die Grenzen zwischen Fiktion, Realität und Dokumentation auflösen,
dann lösen sich am Ende von „Copie conforme“ Denkmuster des Zuschauers auf. Ein
Film, der einen durch die Nacht jagen wird. Wer diesem Film Künstlichkeit
vorwirft, hat ihn nicht gesehen. Wie lange kann man etwas anschauen ohne es
richtig zu sehen? Welch ein kurzer Blick genügt, um alles zu sehen, was es zu
sehen gibt?
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