Text: Rainer Kienböck
Montag: Was
ich schreiben will diese Woche, fragt mich Patrick bei unserer allwöchentlichen
Redaktionssitzung (meist handelt es sich um einen schriftlichen Austausch auf
Facebook, diese Woche war es tatsächlich ein persönliches Gespräch). Morgen (also
dienstags) spielt es „Umberto D.“ von Vittorio De Sica im Filmmuseum, etwas
Spannenderes fällt mir fürs Erste nicht ein und ich habe ohnehin schon länger
keine ordinäre Rezension mehr abgetippt.
Wie man beim
Lesen dieser Zeilen feststellen kann, sollte es aber nicht so weit kommen. Zwar
habe ich dienstags Vittorio De Sicas wundervollen Film gesehen, und an dieser
Stelle könnte ich auch genauso gut über die Rolle des Hundes im Film referieren
– einen viel bleibenderen Eindruck hinterließ aber ein Film, der im Programm
davor lief.
Dziga
Vertovs „Odinnadcatyi“ („Das elfte Jahr“; der Film erschien 1928 – elf Jahre
nach der Revolution), ein knapp siebzigminütiger Dokumentarwahnsinn über
Bergwerke, Kraftwerke und Stahlbäder hat mich mehr inspiriert und beschäftigt.
Im Programm folgte ihm Charles Dekeukeleires „Impatience“, was dessen Film
nicht sehr förderlich war – zu sehr war ich noch mit Vertovs Bilderwelten
beschäftigt. Nach nur wenigen Minuten Pause folgte die Vorstellung von „Umberto
D.“, und auch dieser überstand die Konfrontation mit Vertov, trotz seiner
immersiven Qualitäten nicht unbeschadet (befürchte ich zumindest). Vertov ist
zu polemisch, agitatorisch und demagogisch. Seine manipulativen Methoden
verlangen nach einem Zuschauer verlangt, der mit geschultem Auge die
Selbstreflexivität dieses Extrems durchleuchtet und goutiert.
Ich vermute
außerhalb von Wien, und somit fern von der umfangreichen Vertov-Sammlung des
ÖFM, bekommt man nicht allzu viele Filme von Vertov zu sehen. Ich wage zu
behaupten, dass einem großen Teil der Kinobegeisterten lediglich sein „Čelovek
s kinoapparatom“ bekannt ist. Der Vertov von „Čelovek“ ist jedoch keineswegs
der „typische“ Vertov. Formal betrachtet fällt „Čelovek“ nicht ganz so stark
aus der Reihe: technisch beeindruckende Montagen, unmögliche Kamerapositionen,
Mehrfachbelichtungen, Überblendungen und kunstvolle Schnitte. Vertov ist in
erster Linie ein formidabler Cutter und Techniker – könnte man schließen wenn
man bei „Čelovek“ stehenbleibt.
Faktisch ist
„Čelovek“ ein fast avantgardistisch anmutendes Filmexperiment, das vergleichbar
undemagogisch daherkommt. Im Unterschied zu seinen Wochenschauen „Kino nedelja“
oder „Kino pravda“ oder seinen anderen Langfilmen wie „Entuziasm“, „Tri Pesni o
Lenine“ oder eben „Odinnadcatyi“ steht mehr der Entstehungsprozesses des
Filmens an sich und die verschiedenen technischen Tricks im Mittelpunkt, als
den Kommunismus zu preisen. In seinen anderen Filmen ordnet sich die technische
Brillanz im Umgang mit dem Medium der Propaganda unter. In „Odinnadcatyi“ ist
ihm das, ausgehend von dem was ich bisher gesehen habe, am besten gelungen. Das
objektive Kinoauge ist in erster Linie daran interessiert was es an
sowjetischen Errungenschaften abzufilmen gilt, als an kunstvollen Aufnahmen
nach dem Motto l’art pour l’art. Das unterscheidet Vertov dann wohl auch von
seinen Zeitgenossen wie Eisenstein und Pudowkin, die aus künstlich und
kunstvoll produzierten Einzelstücken eine Realität zusammenstückelten, während
Vertov die Realität einfing und sie mit technischen Mitteln zum Kunstwerk
machte. Kunst entstand bei Vertov nicht zum Selbstzweck, sondern als
(zwangsläufiges) Nebenprodukt eines Schaffensprozesses, der auf ein möglichst
leicht verdauliches Konsumationsprodukt abzielte. Auch in dieser Hinsicht
unterscheidet sich „Čelovek“ von „Odinnadcatyi“ et al. „Čelovek“ ist keineswegs
leicht verdauliche Agitprop, eher eine intellektuelle Bildersymphonie wie bei
Ruttmann.
„Čelovek“
ist vielleicht Vertovs imposantestes Werk, aber nicht zwangsläufig repräsentativ
für sein Schaffen. Vertov ist: Aufnahmen in einem Bergwerkstollen bei
spärlichem Licht. Vertov ist: Die Sprengung eines Felsens, der einem Kraftwerk
weichen muss. Vertov ist: Kommunistische Parolen in den Zwischentiteln. Vertov
ist: Überlebensgroße Arbeiter durch Schneide- und Kameratricks auf Augenhöhe
mit riesigen Maschinen. Vertov ist: Eisenbahn. Vertov ist: Kino.
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