Das erste
Bild in „Idi i smotri“, der in seiner ganzen forschen Nacktheit den Zuseher auf
ein Kommen und Sehen einlädt, ist eines der Orientierungslosigkeit. Ein Mann
steht mit weggedrehtem Gesicht in einer Nahaufnahme vor uns. Hinter ihm
verschwimmen die Bilder einer sandigen Landschaft. Wie so vieles im Film ist
die Umgebung hier Teil der Situation, in der sich die Figuren befinden. Das Licht, der Ton, die Natur. Alles zeigt das
Innenleben der Charaktere und insbesondere des jungen Florya an, der in einer
zum Teil unschuldigen Verspieltheit vom Krieg (dem 2.Weltkrieg in Weißrussland)
überrollt wird, wie sein Land, und der dann das humanistische wie brutale Bild
des Films trägt.
Ich habe in
diesem Film Krieg als Spiel, Krieg als Freude, Krieg als Leid, Krieg als
Irrsinn, Krieg als Einsamkeit, Krieg als Poesie, Krieg als Natur, Krieg als
Traum, Krieg als Absurdität, Krieg als Hoffnung und Krieg als das Ende und den
Anfang aller Menschlichkeit wahrgenommen. Klimow hat
diesen Film Mitte der 1980er Jahre gedreht, aber er wirkt wie völlig am Puls
der Zeit.
Die Detailtreue und die Massen an Statisten lösen eine Intensität aus
wie man sie nur aus den ganz großen Kriegsfilmen kennt. Aber „Idi i smotri“ ist
nicht wirklich ein Kriegsfilm, sondern vielmehr ein Blick in die Gewalt der
menschlichen Seele und die Suche nach ihrem Kern.
Am
Augenscheinlichsten ist die Bildsprache, die den Zuseher mit elegischen
POV-Fahrten durch die eben am Anfang etablierte Orientierungslosigkeit dieser
Welt führt, die einen kaum atmen lässt. Die Farben und das Licht wirken wie ein
Katalysator für die Gefühle, man verliert sich förmlich in der unschuldigen,
malerischen Schönheit des Films. Gerade zu Beginn, als er die Bestrebungen von
Florya zeigt, am Krieg teilzuhaben, wirkt der dennoch von Tränen und Angst
beseelte Friede wie ein wohliger Abend vor dem häuslichen Kamin. Fast wie aus
einem Märchen wirkt es, als Florya und die sexuell-romantisch aufgeladene
Glasha sich in einer Waldlichtung treffen oder wenn sie sich im Regen des von
den Bäumen tropfenden Wassers duschen, indem sie an den dünnen Stämmen rütteln.
Andrei Tarkowski stand mit großer Sicherheit Pate für die Bildsprache des Films, der sich oft mit geringer Tiefenschärfe zwischen Mensch und Natur pendelnd auf die Schönheiten des Augenblicks stürzt, die im weiteren Verlauf zu Grausamkeiten werden. Das Tondesign ist dabei mit der ständigen Bedrohung fliegender Späher unterlegt. Der Film ist von einer Wucht, die einen vergessen lässt, dass man im falschen Glauben lebt, schon alles über Schuld und Unschuld im 2.Weltkrieg gehört zu haben, denn kein anderer Ansatz, den ich kenne (nicht mal Terrence Malick mit „The Thin Red Line“, obwohl er sicher ähnliches probiert) bewegen sich so sehr im Menschen selbst. „Idi i smotri“ versteht es im Unterschied zu Malicks großartiger Kriegspoesie den Krieg nicht als Spielfeld zu sehen, auf dem sich der Regisseur frei bewegen kann, um das Humane an sich zu suchen, sondern er macht den Krieg zum Erlebnis aus der Sicht einer Person und schafft es dadurch eine Art poetischen Naturalismus entgegen Malicks abstrakter Poetik zu stellen.
Allerdings
nutzt Klimow seine Wucht auch, um den Zuseher, insbesondere in der zweiten
Hälfte des Films zu manipulieren. Die unschuldige Kraft der Anfangssequenzen,
in denen der Krieg noch ignoriert wird von Figuren und Film und der ein
Bestreben anzeigt Krieg eben nicht als eine Serie von Eindrücken, sondern einen
Eindruck von Eindrücken zu erzählen, gewissermaßen ein Treiben im Krieg, so
bekommt der Film trotz aller formalen Brillanz einen faden Beigeschmack.
Das liegt
zum einen daran, dass er seine eigene Größe dazu missbraucht den Zuseher an der
Gurgel zu packen und ihn nicht selbst zu jenem Betrachter macht, zu der auch
sein Florya im Laufe des Films wird. Statt den Krieg zu sehen, sieht man plötzlich einen Film darüber. In einer gewaltigen Sequenz werden die
Einwohner eines Dorfes in eine Scheune gesperrt und nach langen Prozessen
verbrannt, erschossen oder vergewaltigt. Statt das Geschehen zu beobachten,
schneidet Klimow seine Bilder jetzt in einer Art, die Gut und Böse einfach
trennt, die uns genau mitteilt, wo wir uns als Zuseher befinden. Die
Orientierungslosigkeit wird zu einem manipulativen Blick von außen. Ein
Vertrauen in die Urteilsfähigkeit des Zusehers wird von einer emotionalen
Aufladung, die sicherlich verständlich ist und bei diesem Thema auch schwer
ignorierbar wirkt, geschluckt. Ein einziges Mal ist ein weinender deutscher
Soldat zu sehen. Alles andere ist die Inkarnation des Bösen. Man mag
argumentieren, dass aus dem Blickwinkel des Jungen alle Deutschen so sind (und
auch viele Deutsche tatsächlich so agierten), aber wenn es wirklich ein inneres
Bild wäre, dann würde ich den weinenden Soldaten nicht verstehen. Ob man solche
Szenen anders filmen kann, weiß ich nicht, aber Klimow hatte die Möglichkeiten
dazu bereits etabliert, sich dann aber doch auf die Konvention gestürzt.
Aber-und
hier sind wir beim zweiten Punkt-dieses Spiel bricht Klimow am Ende seines
Films nochmal, als er-wieder in formaler Perfektion-Geschichte rückwärts laufen
lässt und mit einem ultrahumanistischen Bild stehenbleibt. Florya feuert zum
ersten Mal mit seinem Gewehr und er schießt auf imaginierte Found Footage
Bilder von Adolf Hitler bis dieser plötzlich ein Kind ist. Der ganze Film
offenbart sich als eine Allegorie und aus dem ultimativ Bösen wird plötzlich
ein Spiegel, eine Spiegel, den man als Deutscher kaum braucht, aber der für
einen Russen sicherlich ein Schlag ins Gesicht ist. Das völlig zerstörte
Gesicht von Florya zwischen Leid, Hass und Wahnsinn kann nicht auf das Kind
schießen. Ein Kreis zur Unschuld des Beginns schließt sich wieder, eine Szene,
die es tatsächlich vermag Geschichte zu hinterfragen und sich selbst zu
hinterfragen. Eine ganze Philosophie scheint sich hinter diesen Momenten zu
verbergen. Dennoch ist es ein höchst bedenklicher Moment, der den ganzen Film
hinter dieser Szene versteckt.
War alles,
was bis dahin gezeigt wurde nur ein Vorwand, um dieses Bild am Ende zu
entwerfen? War der Krieg eine Allegorie? Bleibt der Naturalismus am Ende doch
zurück hinter einer intellektuellen Idee? Das würde mich enttäuschen, weil es
vorbei geht am beobachtenden, von seinem Kollegen Tarkowski als Skulptur in der
Zeit beschriebenen Wesen des Films an sich. Statt uns den Krieg, durch die Augen
des Protagonisten sehen zu lassen, sehen wir ihn am Ende doch historisch
verankert durch die Augen eines Denkers und dann sehen wir nicht mehr, sondern
denken. Das ist immer dann besonders schmerzhaft, wenn ein Film ansonsten alles
richtig macht. Natürlich ist der Denkprozess in diesem Film aber von besonderer
Güte und er wird sicherlich bei vielen Zusehern ein Gefühl auslösen, das einen
ähnlich berührt wie jenes vom Sehen evozierte.Vielleicht ist es der Blick in die Kamera, der sich mit dem Point-of-View der Kamera selbst überschneidet und vielleicht liegt genau darin die große Qualität des Films. Ein Spiegel in die Welt sozusagen.
Erstaunlich
mit welcher Selbstverständlichkeit „Idi i smotri“ eine surreale Symbolik in
seine Bilder legt. Von einem schlammigen Sumpf, in dem Florya und Glasha
feststecken, über zertretenen Vögel und Vogeleier, bis hin zu eben Hitler
selbst, der als Symbol des Hasses fungiert und der aus einem Totenkopf
gebastelt wird. Der Film baut und hinterfragt Symbole gleichermaßen. Immer
wieder das Bild des Spähers in der Luft. Fast ruhig kreist er über dem
Geschehen. Die abgestürzte Pilotin liegt dort wie aus einem Pornomagazin. Die
Leichen wirken surreal. Das Sterben geschieht im Off. Traumartig verliert die
Natur ihre Sicherheit. Ein Rennen im Kugelhagel hin zum sicheren Waldesrand,
ein Sterben im Schusswechsel zwischen zwei Stützpunkten mitten auf einem
offenen Feld, das Eingesperrtsein in einer Scheune. Die Bilder von Klimow
folgen einer Traumlogik, die einen umso mehr in den Albtraum des Films reißt, weil
man weiß oder ahnt, dass diese Bilder Wirklichkeit sind. Die Vergangenheit wird
lange Zeit als Gegenwart inszeniert.
Inmitten der
Orientierungslosigkeit des Anfangs wird ein Gewehr ausgegraben. „Ihr hättet
nicht graben sollen“, wird der sterbende verkohlte Mann später sagen und damit
den metaphorischen Schlag ins Gesicht, den „Idi i smotri“ bereit hält, auf den
Punkt bringen.
Ich verstehe die (milde) Kritik, aber man muss die Produktionsumstände berücksichtigen: Dafür, dass der Film zum 40sten Jahrestag des Kriegsendes in der Sowjetunion veröffentlicht wurde, dafür, dass Koautor Adamovich im Drehbuch persönliche Erfahrungen verarbeitet, ist erstaunlich, wie sehr er sich mit propagandistischen Triumphgesten oder - berechtigten - Schuldzuweisungen zurückhält (vielleicht mit Ausnahme der "Volksgerichtsszene" am Ende, und selbst die hat ihre Ambivalenzen). Vor allem im Vergleich zu thematisch verwandten Produktionen aus der UdSSR (oder anderswoher) fällt das ins Auge. Wie du selbst feststellst: Die Anmaßung des "Ihr-hättet-nicht graben-sollen" in seiner Allgemeinheit! Zudem hatte ich auch beim Massaker nie das Gefühl, dass man als Zuschauer klar verorten kann, aus welcher Richtung das Böse denn nun eigentlich genau kommt, wo dessen Wurzel ist, die es nur zu jäten gälte, stattdessen wird alles mitgerissen von einem fast schon karnevalesken Strudel des Todes, der alle Bedeutung verschlingt. Klimov legt ja großen Wert darauf, uns in die besinnungslose Rauschhaftigkeit des Schreckens zu stürzen, saufende, torkelnde Nazis (und Kollaborateure), die selbst nicht zu wissen scheinen, was sie tun, fahrerlose Motorräder im Rückwärtsgang, die Horrorkakophonie, in der Gejohle und Schmerzensschreie, Oktoberfest und Massenmord verschmelzen, die taumelnde Kamera wie ein entsetzlich nüchterner Verirrter, der verzweifelt den Ausgang sucht. Ich dachte da immer eher an das Weltuntergangs-Triptychon von Bosch (wie es ja auch der Titel des Films impliziert) als an bekannte, dichtotome Kriegsfilmbilder. Das ist im Übrigen tatsächlich nicht unbedenklich, so eine Universalisierung bzw. Naturalisierung eines durchaus konkreten, historischen Verbrechens, aber ich konnte den Film nie anders lesen. Da geht es um jemanden, der vorwitzig in die Welt hinauszieht, dort etwas vorfindet, was er nicht begreifen kann, und trotzdem begreift. Die Schlusspointe besagt eben nicht einfach "Deutsche sind auch Menschen", sondern, viel radikaler, "Alle Menschen sind Menschen", oder im Sinne Dostojewskis: "Wir sind alle verantwortlich für alle und alles, und ich noch mehr als die anderen.“ Die Anrufung durch das schutzlose Antlitz des Anderen nötigt zu einer ethisch-moralischen Haltung, und kaum ein Film starrt einen so eindringlich an wie "Komm und Sieh".
AntwortenLöschenDanke für die tollen Hintergrundinfos und die vielen wahren Worte!
LöschenEinzig diese Allgemeingültigkeit hebt sich dann doch bei allem "karnevalesquen Strudel" auf, wenn es doch von Anfang an das Bild von Hitler ist, das sich durch den Film zieht. Vielleicht ist dieses Bild schon zu einer Art Ikon des Bösen an sich geworden, mag sein, aber für mich verortet und historiziert es noch immer ganz deutlich.
Ansonsten gebe ich dir Recht, vor allem mit dem alle Menschen sind Menschen Gedanken.