Nach „Ossessione“ will ich mich nun mit einem weiteren
Klassiker unter den Filmen von Luchino Visconti beschäftigen: „La terra trema“ (1948).
Wieder soll es darum gehen nicht festgelegten Mustern in der Rezeption von
Visconti zu folgen und ihn zwingend in neorealistische Strömungen zu stecken,
sondern einen eigenen Zugang zu wählen. Dass man sich dabei nie ganz von der
Filmgeschichte befreien kann, sollte klar sein.
In seinem zweiten narrativen Spielfilm legt Luchino Visconti
schon mit den Titeln am Anfang fest, dass es ihm hier um Realismus geht. An
echten Orten, mit echten Menschen, entsteht eine echte Geschichte. Doch
Echtheit bei Visconti hat auch immer mit klassischer Schönheit zu tun. Er
erzählt die Geschichte einer kleinen Fischerfamilie, den Valastros. Sie kämpfen
in Aci Trezza auf Sizilien wie alle Fischer dort ums Überleben. Als der älteste
Sohn Ntoni zur Rebellion aufruft und sich gegen die ausbeutenden Großhändler
stellt, beginnt das Unglück für die Familie. Sie werden von allem Verstoßen: Ihrem
Glück, ihren Mitmenschen und auch der Natur. Nach einem Sturm verlieren sie ihr
Boot und ihre Arbeit, nach und nach verlieren sie ihre Vorräte und schließlich
kommt die Bank und übernimmt das Eigentum des Hauses aufgrund einer Hypothek.
Die Familie zerfällt vor dem Meer. Visconti dreht nicht nur einen Film über
Menschen. Er dreht einen Film über die Welt, in der sie leben. Nachdem er mit „Ossessione“
eine globale Geschichte in ein realistisches Setting geworfen hat, entwickelt
sich nun seine Geschichte scheinbar aus dem Setting selbst. Es ist ein großer
Sprung für den Regisseur. Dabei vereint er in der Folge eine empathische
Geschichte mit einer moralisch-humanistisch und politisch linken Botschaft und
seinem eigenen Realitätsanspruch, der den Alltag der Bewohner zwar immer als
Last, aber eben auch als gewöhnlich und undramatisch schildert. Es sind
existenzielle Nöte, die der Film ganz einfach beobachtet. Lange, totale
Einstellungen, einfache Arbeitsprozesse. Manchmal scheint er wirklich inne zu
halten. Beispielweise, wenn er die Frauen bei ihrer Arbeit beobachtet und die
Kamera immer in einer Ecke des Raumes aufsichtig platziert. Die sizilianische
Sprache wird gewissermaßen als logische Authentifizierungsstrategie verwendet.
Ein Erzähler führt durch das Geschehen, ähnlich der Voice Over Narration einer
Dokumentation. Doch Visconti bricht dessen Überlegenheit und befreit sich damit
selbst. Plötzlich kann man den Worten nicht mehr trauen. Als der Erzähler
versucht Trost für Ntoni zu finden und ihm mehr oder weniger verspricht, dass
seine große Liebe, eine Frau aus dem Dorf zu ihm halten wird, verstummt
plötzlich die Sprache und die unerbittliche Kraft der Kamera zeigt
verschlossene Türen und einen einsamen Ntoni. Das Voice Over darf hier
hinterfragt werden, es scheint lediglich den Blick von außen zu imitieren bis
die Betroffenheit überhand gewinnt. Nein, auch die große Liebe wendet sich ab.
Trotzdem scheint die Vermischung von Fiktion und Dokumentation
insbesondere in der ersten Hälfte von „La terra trema“ betrachtungswürdig. Fast
wirkt es wie eine Rechtfertigung oder wie ein politischer Wink mit dem
Zaunpfahl. Es ist das Kino eines reichen Aristokratensohns, der versucht direkt
mit den Augen des armen Fischers zu sehen. Hier sieht man das echte Leben,
kommt alle ins Kino! Eine große Ansage, der der Film in der Folge zu großen
Teilen völlig gerecht wird. Selten hat man einen ganzen Ort so involviert in
einen Film gesehen. In der Tiefe des Bildes spielen sich oft erstaunlich
detaillierte Handlungen ab. Hier wurde ein Raum völlig durchdrungen. Ähnlich
wie bei frühen Filmen von Theo Angelopoulos (z.B. „Reconstitution“) ist „La terra
trema“ ein wahrer Massenfilm. Bedeutet Realismus im heutigen Kino oft Reduktion
so bedeutet es bei Visconti Überfüllung. Ton und Bild platzen aus allen Nähten.
Und plötzlich gibt es wieder den leisen Moment dazwischen. Von den Kleidern bis zu den Wänden der Häusern ist "La terra trema" ein Film, den sich andere als Rechercheausgangsmaterial ansehen könnten. Basierend auf einer
wahren Geschichte erlaubt sich Visconti einen ethnographischen Blick. Fast
ängstlich berührt er die Gesichter und Schicksale seiner Protagonisten und gibt
ihnen damit die Würde zurück, die ihnen das Leben genommen hat. Der Zuseher
versteht den Ort schon mit der Eröffnungssequenz. Der lange Schwenk von den
dunklen Treppen am Ufer hinaus auf das Meer, die wartenden Frauen zuhause, die
unverständlichen Rufe durch die Nacht. Die Schwere des Lebens wird gezeigt und
die Schwere sich gegen das Schicksal zu stellen. Fast wie ein sowjetischer
Propagandafilm wirkt die revolutionäre Botschaft, allerdings erstickt bei
Visconti der Realismus die Hoffnungen des von der Montage getriebenen Kinos
eines Eisensteins. „La terra trema“ hat daher auch gar kein Ende, er wird
einfach weitergehen.
Doch es ist nicht alleine der Realismus, der den Film seine
Note verleiht. Schon André Bazin hatte einen elegischen Touch bei Visconti
bemerkt, hatte eine Sorge geäußert, dass dieser Mann vielleicht nicht immer
solche realistischen Filme drehen würde. Eine starke Neigung zum Melodram, zur
großen Sentimentalität wollte Bazin (zurecht) bemerkt haben. Ein bisschen fremd
wirkt er manchmal in dieser Welt und so ganz transformiert sich sein Blick
nicht in den Blick eines Fischers. Die Schönheit und Poesie, die diese Welt
durchdringt, ist jene eines Kinoträumers, nicht jene eines poltischen
Filmemachers. Visconti liebt die Glocken, die Aci Trezza durchdringen, er
verliert sich in den glühenden Laternen auf dem nächtlichen Wasser, er zeigt
Figuren in Mänteln nur von hinten, er ist verspielt und seine künstlerische
Natur macht den Film eben zu weit mehr als lediglich einem neorealistischen
oder gar agitatorischen Stück Kino. Selbst in seinen Alltagsbeobachtungen
steckt immer klassische Bilderschönheit mit einer tadellosen Mise-en-Scène und
wunderschönen Hintergründen. Wie schon
bei „Ossessione“ bewegt er die Kamera in Momenten der Dramatik in ausladenden
Parallelfahrten. Seine wahrlich tote Zeit findet er am Meer, dem romantischten
Bild dieser verlassenen Welt, das Arbeit, Zukunft, Tod und Flucht zugleich
bedeuten kann; die Blicke der Frauen auf das Meer als ihre Männer nicht
zurückkehren, wirken übersteigert, sie drängen sich in das Herz des Zuschauers,
sie gehören zum Schönsten des Kinos. Schon bei „Ossessione“ fand sich am Ufer
des Po eine merkwürdige Ellipse, ein Auslassen des Erzählens, das wie ein Atemzug
wirkt. Visconti ist ein Meister des Rhythmus und so sehr er von diesem Ort
durchdrungen wurde, er durchdringt den Ort auch immer selbst. Die Schwere des
Schicksals wird nicht gerade versteckt, das schwere Drama wird durch Bilder wie
jenes der Schwester, die mit sich kämpft und nicht weiß, ob sie die teuren
Geschenke und den Schmuck annehmen soll , untermalt. Sie kämpft sich in großen
Gesten von Wand zu Wand und bricht damit jeglichen Realismus. Ähnlich
funktioniert das Familienbild im Film, dessen große symbolische Bedeutung in
keiner Sekunde versteckt wird. Doch genau hierin liegt die Einmaligkeit von
Luchino Visconti. Es ist eine neorealistische Oper mit Versen des Unglücks.
Eine wichtige Rolle spielen auch Fenster und Türen. Sie sind versperrt, sie
werden geöffnet und geschlossen, selbst weit im Hintergrund blicken Menschen
noch durch sie hindurch. Sie sind eine Verbindung zur Welt und gleichzeitig ein
absolut filmisches Mittel. Hier grenzt sich das Melodram gegen den Realismus ab
und hier vermischen sich die beiden. Auf jedem Gesicht spielt sich eine Melodie
ab. Als würde Visconti mit Seidenhandschuhen nach Krebsen am Meer suchen.
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