Dieses Zitat des fiktiven Künstlers Tristan Rêveur aus dem
Film „Stay“ von Marc Forster soll Gegenstand und Ausgangspunkt dieses Textes
sein, für den ich noch viel zu jung bin und den ich nur aufgrund meiner Jugend
verfassen kann. Der Selbstmord ist wie der Film. Ein filmischer Selbstmord, ein
Selbstmord im Film, ein Film als Selbstmord. Jemand hat mir gesagt, dass ich
mich nicht umbringen darf, weil ich sonst in die Hölle komme. Niemand hat mir
gesagt, dass die Hölle schon hier ist.
Der Blick
Im Film wie beim Selbstmord ist der Blick entscheidend. Ein
kurzer Augenblick, oft ein apathischer Blick ins Nichts. Das Nichts auf der
anderen Seite der Leinwand. Meist ein Schuss, manchmal ein Sprung. Benicio del
Toro ist irgendwo in „The Pledge“, wenn er mit der Waffe in seinen Rachen
feuert, sein Blick geht direkt durch die Kamera hindurch. Genauso jener von
William H. Macy in „Boogie Nights“ oder der von Yoo Ji-tae in „Oldboy“. Ein
Blick, der schon nicht mehr da ist und für den Zuseher ein Blick auf eine
entfernte Welt. Dieser Blick kann voller Angst sein oder auch ein Blick des
Wahnsinns, Blicke die man auch im Kino wirft. Auch gibt es den Blick des
Entdeckens. Die blutige Leiche im Bad, die sich die Adern aufgeschlitzt hat
oder die baumelnde Füße im Dachboden. Wir sehen alles und nichts. Der letzte
Blick ist ein Schock. Das kann zum Beispiel Charles in Robert Bressons „Le
diable probablement“ nicht ertragen. Die Vorstellung, dass von einer Sekunde
auf die andere nichts mehr sein wird. Deshalb braucht er Hilfe, um sich
umzubringen. Suizid als Verweigerung. Der Blick stirbt ab. In „Two Drifters:
Odete“ von João Pedro Rodrigues geht der
melodramatische Blick des Selbstmordanwärters nach oben. Der Tod scheint oben
zu sein. Oder ist es die letzte Frage an eine mögliche göttliche Existenz? Was
man sieht ist aber nur den Teufel, möglicherweise. Ein weiterer Blick ist der pragmatische Blick.
In „Der Geschmack der Kirsche“ von Abbas Kiarostami gibt es ihn. Eine
Nicht-Regung und im Angesicht des Todes wird der Blick verweigert. Wie auch bei
Bresson, der seinem Charles in den Rücken schießt. Manchmal demonstriert der
letzte Blick auch allen Hass auf das Leben wie in Michael Hanekes „La pianiste“,
ein abscheulicher Blick, der sich in einen grausamen Anblick verkehrt. In „La
feu follett“ von Louis Malle hat Maurice Ronet diesen Blick den ganzen Film auf
seinem Gesicht. Ein existenzieller Weltekel in einer von Verlust und
Unwahrheiten geprägten Welt, der jedes Lachen wie eine schmerzvolle Anstrengung
erscheinen lässt. Film ist wie Selbstmord eine Frage dieses Blicks, der über
sich selbst hinausgeht, weil er eine Nähe zum Sterben hat. Der filmische Blick
ist zum Sterben verdammt, weil er sich jeden Frame auflöst. Im Moment des
Erscheinens wird er Sterben. Seine anstrengende Herstellung ist bereits sein
Ende, es ist ein Festhalten an der Poesie des Gedanken, die mit einem einfachen
Bild in ihrer ganzen Zeitlichkeit Stück für Stück vernichtet wird.
Das Sehen ohne zu Verstehen
Der Selbstmord führt das Kino in seine Naivität zurück, in
seine Rebellion. Der filmische Selbstmörder hat eine andere, gesteigerte
Wahrnehmung. In „A Single Man“ riecht Colin Firth lange an einem Hund, saugt
das Leben und den Geruch förmlich aus dem Tier, immer wieder lässt Tom Ford die
Farben aufblitzen. Es ist ein beständiger Kampf der Schönheit der Welt gegen
das innere Grauen. Es sei denn das innere Grauen liegt in der äußeren Fassade,
wie bei Agnès Varda in ihrem „Le bonheur“. Der naive Blick verschwimmt hier und
man lässt sich täuschen bis einen Schönheit erdrückt. Man sieht und sieht und
versteht nicht. Das Kino lebt im Selbstmord. Die Frage nach dem „Wie“ taucht
auf und plötzlich wird jeder gefährliche Gegenstand zum potenziellen
Selbstmörder. Messer, Pillen, Wasser, Feuer, hohe Häuser, Pistolen, Gleise. Die
Figuren haben aufgehört zu verstehen und der Zuschauer gleich mit ihnen.
Erstaunlich, dass man dennoch das Gefühl hat, dass der Blick des filmischen
Selbstmörders ein klarer ist. Im Kino bringt man sich auch um. Man sieht und
sieht und versteht nicht. Aber man glaubt verstehen zu können, weil der Blick
so klar zu sein scheint. Im Moment des Verstehens ist das Kino aber gestorben
und hat seine Kindlichkeit verloren; ein suizidales Treiben durch die fremden
Welten vor meinen Augen. Kein Wunder, dass immer wieder der Verlust weiblicher
Unschuld mit Selbstmord gleichgesetzt wird. Film ist wie ich mir die Hölle
vorstellen würde, wenn ich ein Kind wäre. Die Rebellion der Selbstaufgabe, die
Lust einfach alles auszulöschen. Der Gang ins Kino und der Freitod sind beides
individuelle Antworten auf die Gesellschaft. Bewusst sage ich nicht, dass sie
eine Flucht sind, sie sind eine Form des Umgangs mit der eigenen Hölle.
Die Erinnerung
Denn Film besteht aus einer verblassenden, sich immer wieder
regenerierenden, aber dennoch final sterbenden Erinnerung. Film hält alles
fest, das stimmt, aber Film ist an eine Zeit gebunden, die ich nicht festhalten
kann. Ich kann stoppen und etwas immer und immer wieder betrachten, aber es
wird mit mir sterben. Konsequenterweise hat Selbstmord im Film immer mit der
Erinnerung an andere Menschen zu tun. Fotos spielen eine wichtige Rolle, sie
werden nochmal gewürdigt, betrachtet, zerrissen, vergessen. Diese Zeit wird verschärft und betont, aber
sie wird ultimativ sterben. Deshalb wirken so viele Filme, die Selbstmord
thematisieren auch wie ganzheitliche Flashbacks. Eine einzige Drifterbewegung
durch die Erinnerung, durch das Leben. Die Figuren sind bereits Tod oder liegen
im Sterben. Es gibt ein Ende für diesen Film, man weiß es, man spürt es
intuitiv von „Stay“ (ich weiß, dass es dort strenggenommen etwas anders läuft)
bis zu „La feu follett“. In Lilja 4-ever“
von Lukas Moodysson ist man sich den ganzen Film bewusst, dass am Ende die
absolute Verzweiflung stehen wird und in „The Virgin Suicides“ macht schon der
Titel kein Geheimnis aus dem Verlauf. Die Gegenwart, also Freunde und Verwandte,
die sich rührend um die potenziellen Selbstmörder kümmern, sind zum Scheitern
verurteilt. Ich interessiere mich nicht für meinen Nachbarn im Kino., ich interessiere
mich nicht mehr für mein Leben im Kino. Kino ist der Tod. Es löscht alles aus
und verschleiert es in einem schwarzen Raum mit leuchtenden Träumen. Erst wenn
ich das Kino verlasse, werde ich wieder ins Leben geworfen. Es ist eine
Wiedergeburt. Und genau darum geht es. Kino ist ein spielerischer Selbstmord.
Man bringt sich um, damit man neugeboren wird. Irgendwann werde ich aufgeben
neu geboren zu werden. Erinnerung ist melodramatischer als das Leben, obwohl
das Leben melodramatischer sein darf als das Kino. Es ist auch nicht die
Leinwand, die melodramatisch zu mir spricht, sondern mein innerer Dialog mit
ihr. Erinnerung ist immer einsam, so wie das Kino einsam ist, so wie der
Selbstmörder einsam ist. Erinnerung, Kino, Selbstmord. Alle drei sind einsam
und zugleich auch nicht. Die Erinnerung besteht meist aus vielen Personen. Man
denkt aber über die Erinnerung als etwas Individuelles nach. Das Kino ist ein
sozialer Ort, aber nur so lange bis der Film beginnt. Und auch der Selbstmörder
im Film ist fast immer von Menschen umgeben und beginnt sie im Moment seines
Entschlusses nicht mehr wahrzunehmen. Wie in „Der freie Wille“ oder „The Hours“
muss der Weg des Sterbenden zum Wasser führen. Dort wo die Erinnerung ihren
Platz hat, in einem unendlichen Blick, der dem des Kinos entspricht. Er wird
solange leben bis man nicht mehr schauen kann.
Das Gefühl
Josh Brolin verteilt sein Gehirn in einem Sonnenschirm in „American
Gangster“ von Ridley Scott. Oft ist Blut zu sehen, dass von Wänden kullert, wie
die letzten Tränen der Toten über deren Wangen, ohne dass sie es bemerkten. Der
Selbstmörder schwebt, er ist der verneinende Träumer. Das Kino träumt bekanntlich
auch. Selbstmord spielt sich auf den Gesichtern ab. Ein menschliches Drama. In „Mar
Adentro“ von Alejandro Aménabar wird das Plädoyer für Sterbehilfe in eine
Analogie zum Fliegen gesetzt. Javier Bardem springt plötzlich aus dem Fenster
und fliegt zum Meer. Ein Traum, der die Realität verlässt, eine ästhetische
Explosion, die das Leben erhöht. So denkt auch oft der filmische Selbstmörder.
Er positioniert sich, macht sauber, rasiert sich, zieht seinen schönsten Anzug
an bevor er sein Leben vernichtet. Die Bilder sind fast immer von tieferer
Schönheit. Als würden die Filme ihren Charakteren nochmal Schönheit zeigen wollen,
als wollten sie deren Tod erhöhen. Aber das Leiden und die Schönheit geben
einen romantischen Widerspruch. Eric Satie begleitet „La feu follett“ mit
melancholisch, traurigen Tönen, selbst Bresson verwendet überraschend viel
Musik in seine „Le diable probablement“, ganz zu schweigen von Tom Ford, der „A
Single Man“ zu einer musikalischen Ode an die Emotionen des Lebens werden
lässt. Selbstmord ist Musik. Er wird trotz aller Pragmatik, trotz aller erstarrten
Lebenslust immer überrannt von den begleiteten Emotionen. Wer Film sieht und
nichts fühlt, begeht keinen Selbstmord. Er begeht Mord. Nicht umsonst hängt die
Waffe am eigenen Kopf immer wieder mit der verlorenen Liebe einer zweiten
Person zusammen. Im Kino ist man immer auch diese zweite Person. Ein schuldiger
Zuseher, der nicht mehr helfen kann, nichts mehr tun kann und sich deshalb in
eine Identifikation wirft, um wenigstens noch am Gefühl teilzuhaben. Ich habe
genau zwei Emotionen, nachdem ich einen Film über Selbstmord gesehen habe.
Erstens will ich mich selbst umbringen und zweitens will ich mir liebe Personen
anrufen, um zu verhindern, dass sie sich umbringen. Der filmische Selbstmörder
ist sentimental. Oft ist er ein Gefühlsmensch und sein Schuss geht
dementsprechend zum Herzen. Wie auch unlängst in „La Jalousie“ von Philippe
Garrel.
Selbstmord ist Jetzt
Der Moment des Selbstmords ist ein einziger Moment. Ein
Event. Er tritt ein und wird nie in größerer Gegenwärtigkeit sein und es wird
nie größerer Gegenwärtigkeit geben. Wann eine Geburt wirklich eine Geburt ist,
weiß ich nicht, aber der Tod ist pure Gegenwart. Damit gleicht er dem Kuss, der
Penetration, dem Zusammenstoß oder eben dem Blick. Alles sind zutiefst
filmische Momente. Zugegeben gibt es da keinen großen Unterschied zwischen Mord
und Selbstmord, aber die Gegenwärtigkeit des Selbstmords findet gar in einer doppelten
Ausprägung statt, da ihre der Vergangenheit nahestehende Aussichtslosigkeit mit
der Gegenwärtigkeit des Moments und dem Nichts der Zukunft kollidiert. Ein Zusammenstoß
und ein Mord in derselben Sekunde, der Moment, der alles beendet. Paradox daran
erscheint, dass man als Zuschauer in diesem Moment nicht nur weiter atmet,
sondern meist auch weiter sieht. Bresson wartet noch einige Sekunden bis er
ausblendet, Kiarostami rettet sich auf eine Meta-Ebene, dagegen ist bei Louis
Malle das Ende auch das Ende. Kurz vor jenem Ende beschreibt der Selbstmörder
in „La feu follett“ auf einer Party, dass er seine Hände ausstreckt, aber
nichts erfühlen kann, dass er Dinge nicht wirklich berühren kann. Ich sitze im
Kino und stehe auf. Ich gehe zur Leinwand. Langsam, in schwarz-weißen Bildern,
ich habe mich schön angezogen. Vor den flimmernden Bildern beginne ich meine
Hand auszustrecken, ich sehe ein riesiges Gesicht vor mir. Ich will es
berühren, aber dort ist nur die Leinwand. „Hör zu Kino. Du bist das Leben. Ich
will dich berühren. Aber ich kann nicht. Es ist grauenhaft.“ Film und Selbstmord
haben beide mit Begehren zu tun. Das wird mir jetzt klar. Ich sterbe und bleibe
für immer. Alle anderen können weiterschauen.
Je me tue
parce que vous ne m’avez pas aimé, parce que je ne vous ai pas aimés. Je me tue
parce que nos rapport furent lâches, pour resserrer nos rapports. Je laisserai
sur vous une tache indélébile.
Und was ist mit der Frage der Schuld beim filmischen Selbstmörder?
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