Zum Abschluss der Viennale eroberten nochmal drei große
Regisseure die Leinwand, füllten sie mit Bildern, die anderen verborgen
blieben. Zunächst war da Alain Guiraudie, der mit seinem „L’Inconnu du lac“,
der von vielen als bester Film des Jahres bezeichnet wird, die Architektur
eines Raumes in einer Klarheit entwirft, die ich so noch nie gesehen habe.
Seine hitchcockartige Suspense-Geschichte an einem homosexuellen Cruisingsee
hat genau 4 Schauplätze: Den See, den Strand, den Wald und den Parkplatz.
Trotzdem hebt das den Film keineswegs auf eine abstrakte Ebene, es ist ein
bewusstes Auslassen, durch das neue Räume entstehen. Ein flüchtender Ort wird
konstruiert, der seinen ganz eigenen Gesetzen gehorcht. Außerdem gewinnt der
Film natürlich eine gewisse Aufmerksamkeit mit dem extrem offenen Umgang mit
männlicher Sexualität. Guiraudie entwirft ein Bild der Schönheit, der Gefahr,
des Begehrens. Sein eigener Blick verschmilzt mit dem seines Protagonisten und
eines der bessern Stücke Kino des Jahres entsteht. Für einen Film des Jahres
(welch eine bescheuerte Kategorie) fehlt mir allerdings das Blut des
Regisseurs, das durch den Projektor auf die Leinwand gespritzt wird, wie das
Kunstblut im Film. Guiraudie hat den Film eben doch sehr mit dem Kopf gemacht
und das hat er auch sehr gut gemacht, aber die persönlichen Elemente, die man
hinter den Figuren und ihren Beziehungen vermuten kann, verlieren sich trotz
der extremen Körperlichkeit in einer Art künstlichen Eloquenz, einer Kontrolle
von Film und Zuschauer, die ich subjektiv als unehrlich empfunden habe.
Das kann man nicht von einem Meister des Kinobildes sagen:
Bruno Dumont. Mit seinem „Camille Claudel 1915“, der bereits auf der Berlinale
zu sehen war, steigert sich der Verstörungsphilosoph in ein Gesicht, jenes von
Juliette Binoche. Ähnlich wie Carl Theodor Dreyer in „La Passion de Jeanne
d’Arc“ studiert er das Gesicht seiner Hauptdarstellerin. Ein Lächeln wird zu
einer Sensation, jede Träne kommt aus dem Magen. Innere Landschaften entstehen
durch die erdrückende Umgebung, die Camille im Irrenhaus ertragen muss. Die
Zeit vergeht nicht und die Flucht in sich selbst, ist eine Flucht in den
Wahnsinn. Von außen dringen die nerventötenden Schreie der Patienten;
Nahaufnahme um Nahaufnahme dringt Dumont in diese Frau ein ohne sie jemals zu
berühren. Immer wieder zeigt er POVs von Camille. Ein winterlicher Baum im
Sonnenlicht, der Horizont. Mehr als gewöhnlich fährt seine Kamera mit der Figur
und vor allem auf die Figur zu. Die verzerrten Gesichtszüge lassen die Nähe von
Film und Filmemacher zu Auguste Rodin ersichtlich werden. In einem womöglich zu
aufgezwungenen Kunstgriff wechselt Dumont die Erzählperspektive und lässt den
Bruder von Camille seine Ansichten zur Religion reflektieren. Seine Stimme
vermag mehr zu berühren, als anderswo ganze Filme, aber dennoch verliert er
sich in einer Intellektualität, die bei Dumont normal hinter die Essenz rückt.
Dennoch steht der Film ohne Zweifel als das nächste große Werk im Oeuvre einer
der definitiven Regisseure unserer Zeit. Der Doktor selbst könnte ein Patient
sein, Don Juan wird von den kranken Insassen geprobt, bei starkem Wind kämpfen
sich Patienten und Schwestern auf einen steinigen Berg."Es gibt nichts schlimmeres als Kunst." Denken und fühlen wird
vereint.
Ähnliches mag man auch über Lav Diaz und sein „Norte, the
End of History“ sagen. Mit gut vier Stunden ist das Werk des philippinischen
Independent-Regisseurs eines der kürzeren in seiner Filmografie. Er entwirft
eine moralische Geschichte über Schuld, Loyalität, Gewalt und Liebe. Aber er
filmt sie in einer Art, die den drohenden Kitsch ertränkt. Die Kamera
beherrscht in ruhigen Bewegungen Raum und Figuren, in den satten Farben
verwirklicht sich eine brutale Poesie, die jederzeit in Gewalt und Einsamkeit
ausbrechen kann, in der immer nur das Angebot einer Hoffnung besteht. Epik und
Alltäglichkeit machen sich auf eine Reise, die man vielleicht mit „Once Upon a
Time in Anatolia“ von Nuri Bilge Ceylan oder bestimmten Strömen in der Nouvelle
Vague vergleichen kann. Diaz lässt die Zeit tatsächlich verstreichen, macht sie
spürbar. Drama vollzieht sich im selben Moment, in dem es sich beruhigt. In
Flügen über die Landschaft, die Distanz betonen und das Land spürbar machen,
setzt Diaz ähnlich einem Musiker Brücken zwischen seinen Themen. Diese sind oft
philosophischer Natur und beinhalten jene existentialistische Note, der man
sich im Kino, dem Ort einer kollektiven Einsamkeit so schwer entziehen kann. Tiere
bevölkern die Bilder: Ein Affe, Ziegen, Hennen und streunende Hunde. Die Natur
und der Mensch, der Mensch und seine Natur, die Natur für sich alleine. Bei
Diaz bekommt alles einen einzigen einen Platz und nichts davon ist zu viel,
keine Sekunde.
Insgesamt hat die Viennale für mich völlig gehalten, was sie
versprochen hat. Das ewige Rascheln vom Öffnen der Gratis-Kekse wird mir noch
Wochen in den Ohren hängenbleiben, das Ellbogen-Wettrennen ins Gartenbaukino
auch. Die Ruhe und Offenheit des Festivals und die Begeisterung für ein Kino,
das leider keine besondere Massenwirksamkeit jenseits des Festivals hat, sind
wie jedes Jahr absolut beeindruckend. Man hat das Gefühl die ganze Stadt ist
cinephil. Die Frage ist natürlich, ob es nur zum Wiener Kulturdenken gehört
sich wenigstens einmal auf der Viennale sehen zu lassen oder ob bei der
Mehrheit eine tatsächliche Begeisterung besteht. Die zahlreichen Gäste und die
langen und geduldigen Publikumsgespräche offenbarten einen Blick auf Film als
Kunst. Der Respekt, den das Festival gegenüber dem tatsächlichen Medium Film
hat, spiegelte sich auch in der Auswahl der Filme wieder. Die Freundlichkeit
aller Mitarbeiter ist wahrhaft beeindruckend. Als ich zu Beginn des Festivals
von einem Leben im Freizeitpark geschrieben habe, wusste ich noch nicht, dass
der Freizeitpark mich aus dem Leben kegeln würde. Dennoch scheint mir, dass
auch meine Beziehung zur Viennale davon profitieren würde, wenn ich als
Besucher in der Stadt wäre. Ich werde jedenfalls nicht vergessen, wie Albert
Serra mich über das Kino belehrte, ich für mehr als zwei Stunden gegen meinen
Harndrang ankämpfte in „La vie d’Adèle“, zum ersten Mal schwebende, neugierige
Hunde ins Bild laufen bei Lav Diaz, ein Regisseur bei seiner Produzentin
anruft, um sich krank zu melden, obwohl er es nicht ist bei Porumboiu, wie Matt
Johnson das Publikum während und nach seinem Film spielerisch für sich gewann,
wie Miguel Gomes eine unfassbar gute Sammlung an Found Footage Material in
seinem „Redemption“ zu einem irrsinnigen Ansatz verband, wie Casanova lacht
während er mit einer Frau schläft, wie Juliette Binoche lächelt während sie
weint, wie die frische Herbstluft in Wien nach den Filmen durch meine Lungen
strömte.
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