Flandres von Bruno Dumont |
"Le batteur du boléro" von Patrice Leconte ist ein Kurzfilm, der aus einer einzigen Einstellung besteht und damit derart viele Bedeutungen generiert, dass es ein einziges Fest ist, ein Fest
des Kinos, das sich zurückbesinnt auf seine ureigene Stärke, seine ureigene
Technik: Die Nahaufnahme. Die Frage lautet: Wie sehr verändert sich ein Mensch,
wenn wir ihn länger betrachten? Wenn die Kamera sich nicht von ihm abwendet. Was
passiert? Der erste Gedanke mag sein, dass es uns langweilt. Eine Aufnahme, die
länger dauert, als man es gewohnt ist, beginnt schnell zu langweilen; schließlich
haben wir ja keine Zeit und die Narration muss weitergehen. Was aber wenn es
keine Narration gibt? Wie oft sitzt man irgendwo und beobachtet eine Person?
Man traut sich nicht wirklich sie anzusehen, etwas fasziniert oder irritiert
den Beobachter, aber er traut sich nicht zu lange hinzusehen. Es ist
anstandslos, voyeuristisch und beklemmend. Aber es ist auch unheimlich
faszinierend. Film erlaubt uns Dinge näher zu betrachten sie länger anzusehen.
Man ist ungestört. Nur man selbst und dieses Gesicht. Bruno Dumont liest so in
den Gesichtern seiner Charaktere, zum Beispiel wenn in seinem „La Vie de Jésus“
Freddy auf seine Freundin wartet oder das Fernsehgerät anstarrt. Er liest im
Gesicht von Barbe in „Flandres“, wenn sie in einer Wiese Sex hat. In diesen
Szenen kann Film mehr vermitteln, mehr zeigen, als einem vielleicht angenehm
ist und sicher mehr zeigen, als man im wahren Leben sehen darf/kann. Ist das
moralisch vertretbar? Ja, denn die Offenlegung von Äußerlichkeiten ist dem Film
schon eingeschrieben; Film ist eine Kunst und damit nie mit der Realität zu
verwechseln. Natürlich sollte man vorsichtig sein mit historischen Stoffen und
respektvoll mit Charakteren umgehen, die reale Personen darstellen. Aber im
Kern kann die Wirkung des Kinos am besten in einer schonungslosen Offenheit
dargeboten werden:
Nacktheit, Leere, Wut, Langeweile.
La vie de Jésus von Bruno Dumont |
In „Le batteur du boléro“ aus dem Jahr 1993 zeigt Leconte ein Orchester, das Ravel’s Bolero
vor Publikum spielt. Er fährt mit der Kamera um das Orchester herum, bis er
schließlich in einer Nahaufnahme beim Trommler landet. Seine Aufgabe ist es den
Rhythmus zu halten. Dabei spielen sich in seinem Gesicht unheimliche Kämpfe ab.
Leid und Freude, Verunsicherung und Stolz. Eifersucht über die größere Trommel,
die unscharf im Hintergrund zu sehen ist. Die Kamera bleibt für das gesamte
Stück auf ihm verharrend. Wartend. Das Bild verändert sich dennoch durchgehend.
Selbst das statische Bild scheint niemals statisch. Jeder wird etwas anderes
sehen und spüren in seinem Gesicht. Für keine zwei Zuschauer zeigt sich dort
das gleiche Gesicht, der gleiche Film. Hypnotisch wird man in den Bann dieses
Mannes gezogen. Er scheint uns sogar zu bemerken, aber er kann uns nichts tun.
Vielleicht fühlt man sich sogar schlecht? Haben wir das Recht ihm so nahe zu
kommen? Vielleicht ist alles nur ein Spiel, so wie sein Rhythmus Teil eines
Spiels ist. Aber dieser Film von Leconte ist ein Film über die Essenz des
Filmemachens. Wir sehen mehr, als wir eigentlich sehen.
Hier der Film:
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