"Realität, Entsorgung, das Nichts"
Die zu besprechende
Sequenz besteht aus 3 (sichtbaren) Einstellungen und dauert 4 Minuten und 4
Sekunden (1h39min03s bis 1h43min07s). Sie zeigt die junge rumänische Studentin
Otilia, die nach einer illegalen Abtreibung ihrer besten Freundin durch eine
heruntergekommene rumänische Stadt der späten 80er Jahre geht, um einen Ort zu
finden, an dem sie den toten Embryo in ihrer Handtasche entsorgen kann. Otilia steht aufgrund der Illegalität ihres
Unterfangens unter enormer Anspannung, sie zuckt bei jedem kleinsten Geräusch.
Gleichzeitig ist sie von einer unheimlichen Leere gekennzeichnet, da ihre
Freundschaft und auch ihre Beziehung zu ihrem Freund aufgrund der Ereignisse in
den letzten Stunden enorm gelitten haben. Zunächst geht sie etwas ziellos durch
die Straßen. Nach dem sie einen Passanten nach einem Taxi oder Bus gefragt hat,
beginnt die wortlose Sequenz. Sie irrt durch diffuse Lichter und eine
ergreifende Dunkelheit bis sie schließlich neben einem großen Müllcontainer
stehenbleibt. Doch just in dem Moment, in dem sie es wagen will, kommt ein Hund
um die Ecke und stimmt mit in das kollektive Gebelle der Straßen ein. Otilia
erschrickt und geht schnellen Schrittes weiter. Sie blickt sich suchend um,
immer Ausschau haltend nach Möglichkeiten das Baby wegzuwerfen und dabei nicht gesehen zu werden. Ein Auto fährt
an ihr vorbei. Otilia blickt zur Seite, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen
ist vom Fahrer. Dann betritt sie einen Wohnblock und geht die Treppen nach
oben. Dort befindet sich ein Müllschlucker. Sie wirft das Baby hinein und
nachdem der Aufprall zu hören ist, steht sie noch für einige Sekunden, wild
atmend und sich langsam beruhigend. Sie kehrt zurück zum Hotel. Vor dem Zimmer,
indem sie ihre beste Freundin vermutet und in dem auch die Operation
stattgefunden hatte, bleibt sie noch einen Moment. Ein Licht im Flur flackert,
kaum eines der Deckenlichter ist funktionsfähig. Otilia setzt sich auf einen
der vier rotgepolsterten Sessel zwischen den beiden rotgepolsterten Sofas. Sie
droht zusammenzubrechen. Dann richtet sie sich auf, geht zur Tür und klopft.
Die komplette Sequenz
ist mit Handkamera gedreht. Cristian Mungiu und sein Kameramann Oleg Mutu haben
sich für ein reduziertes Lichtkonzept entschieden. Statt eine Ausleuchtung der
Protagonistin zu gewährleisten, lässt man sie immer wieder in der Dunkelheit
verschwinden. Ein auf einer Angel getragenes Balloonlight sichert zumindest die
Orientierung des Rezipienten. In den richtigen Momenten sieht man so auch
entscheidende Gesichtsausdrücke, bevor Otilia wieder in der Dunkelheit
verschwindet. Dennoch liegt hier eine ganz außerordentlich anspruchsvolle
Bildgestaltung vor. Das Stichwort lautet Akzentbeleuchtung. Einzelne Objekte
und Momente werden mit Licht versorgt und somit in den Fokus gerückt. Die
Kamera sucht sich immer wieder ansprechende Position, verlässt aber nie die
Protagonistin. Ein bisschen wie in einem Dardenne-Film, nur dass die Kamera
eben auch mal ein paar Meter Abstand gewinnt. Wenn Otilia vor dem Müllcontainer
steht, wird dieser bei weitem mehr beleuchtet als sie selbst. Er ist das Ziel
und man fokussiert sich als Rezipient sofort darauf. Dieses Stilmittel wird
über den ganzen Film hinweg eingesetzt und nicht immer müssen die beleuchteten
Objekte derart narrativ motiviert werden. Es entsteht ein Gefühl von
realistischer Beleuchtung fernab jeglicher Hollywood „blaue Nacht“ Ästhetik.
Ganz nebenbei können so natürlich auch ein paar unsichtbare Schnitte angebracht
werden, denn von Zeit zu Zeit taucht Mungiu das Bild in reines Schwarz. Hier
findet man auch eine Betonung des Nichts. Das Nichts, in das die Leiche
geworfen werden soll, diese Schwärze der Müllschlucker, die so anziehend sind.
Das Nichts, in dem Otilia lebt, in diesem politisch abgebrannten Land. Das Nichts,
der Zukunft in der sie blickt, nach den Ereignissen des Tages und auch aufgrund
der Gesellschaft, in der sie versucht zu überleben. Die Schwärze betont ein
Gefühl für eine Stimmung, die sich über den ganzen Film breitmacht. Eine
Kargheit und Kühle, die keine starken Farben verdienen würde. Die Blässe von
Otilia wirkt noch kränklicher, wenn sie gegen das Schwarz ihrer Umgebung
gestellt wird. Die Kamera wackelt nicht
zu stark, sie atmet. Dennoch entsteht Hektik.
Diese ist in erster Linie
dem Ton zuzuschreiben. Hundegebell, Glasscherben splittern, jemand pfeift,
Stimmen sind zu hören; ständig und von überall gibt es undefinierbare
Geräusche. Wenn gerade nichts zu hören ist, dann hören wir das laute, ringende
Atmen von Otilia. Der aufgewühlte Ton dient als perfekte Beschreibung des
inneren Zustandes der Protagonistin. Der Ton funktioniert wie ein psychotisches
Ringen im Kopf von Otilia, vergleichbar mit dem schrillen Pfeifen nach einem
Granateneinschlag mit dem in Filmen so oft experimentiert wird. Jedes Geräusch
könnte das Ende bedeuten, es geht eine große Bedrohung davon aus. Zusätzlich
dienen die Töne auch zur weiteren Orientierung zwischen den dunklen Blockbauten
und Straßen. Als Otilia den Embryo dann in den Müllschacht wirft bekommt der
Ton nochmal eine besondere Bedeutung. Denn es dauert schier eine Ewigkeit bis
der Aufprall zu hören ist; durch die Länge des Falls wird einem auch sein
Gewicht gewahr. Was für eine brutale Tat, zu der die Frauen mehr oder weniger
gezwungen sind. Der hallende Ton des gegen die Rohre schlagenden Leichnams
trifft einem mehr ins Mark, als das blutige Bild des Körpers im Bad einige
Minuten vorher. Die Fantasie des Rezipienten wird so auf eine grausame,
Haneke-artige Art des Nicht-Sehens angeregt. Wir spüren gleichzeitig die Last,
die sich entlädt.
Was diese Sequenz so
hervorhebt, ist das ständige Oszillieren zwischen Spannung und Ekel. Am
liebsten würde man sich abwenden, aber dafür sympathisiert man zu viel mit
Otilia. Ihr selbst geht es genauso. Immer wieder stoppt sie. Sie scheint sich
am liebsten in Luft auflösen zu wollen. Sie schwankt, aber dann holt sie die
Realität wieder ein und sie muss weiterkämpfen. Der Widerspruch wird von
Cristian Mungiu in diesen Momenten des Zögerns eindrücklich inszeniert. Im
Treppenhaus bleibt Otilia stehen. Es ist ein Gefühl der Unerträglichkeit. Sie
macht mehr für ihre Freundin, als man einem Menschen zumuten kann. Es ist
überlebensnotwendig, deshalb geht sie weiter. Diese Grausamkeit hat etwas von
Kriegsfilmen, in denen Menschen mit ansehen müssen, wie ganze Familien
ausgelöscht werden und dennoch weiterkämpfen müssen, um zu überleben. Uns geht
es nicht anders. Eigentlich hat man das Bedürfnis wegzusehen. Aber die Kamera
ist gnadenlos, lässt keinen Raum durchzuatmen, bleibt durchgehend beim
Geschehen. Hier liegt ein Paradox, denn es scheint fast, als würde die Kamera
selbst damit kämpfen; die Schwenks mit der Protagonisten wirken angestrengt und
es ist selten besser gelungen eine Stimmung von Protagonist und Rezipient so
gleichzuschalten. Man wünscht sich gleichzeitig, dass es ihr gelingt das Baby
wegzuwerfen und hofft, dass es nicht passieren muss. Man will es nicht sehen,
will aber, dass es passiert. Das ist die Unerbittlichkeit von 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage. Die
Spannung scheint sich aufzulösen, als das Baby entsorgt ist. Zumindest bis
Otilia an der Tür klopft. Der Ekel aber trägt sich weiter fort.
In der Lobby im
Hotel in der letzten Einstellung der Szene herrscht eine zerstörte Symmetrie.
Alle Objekte, die man für Symmetrie bräuchte sind da. Aber sie tragen Spuren,
die es ihnen nicht ermöglichen wieder in eine ansprechende Form zu kommen. Der
Horror für Otilia ist nicht vorbei. In dieser Welt herrscht ein verzweifeltes
Nichts vor. Sie atmet nochmal durch. Es spielt eigentlich keine Rolle. Jedes Wort
in dieser Sequenz hätte die schiere Präsenz und Wucht aus ihr Genommen.
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