Samstag, 11. August 2012

Wortlose Sequenzen Teil 2: 4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage von Cristian Mungiu


"Realität, Entsorgung, das Nichts"



Die zu besprechende Sequenz besteht aus 3 (sichtbaren) Einstellungen und dauert 4 Minuten und 4 Sekunden (1h39min03s bis 1h43min07s). Sie zeigt die junge rumänische Studentin Otilia, die nach einer illegalen Abtreibung ihrer besten Freundin durch eine heruntergekommene rumänische Stadt der späten 80er Jahre geht, um einen Ort zu finden, an dem sie den toten Embryo in ihrer Handtasche entsorgen kann.  Otilia steht aufgrund der Illegalität ihres Unterfangens unter enormer Anspannung, sie zuckt bei jedem kleinsten Geräusch. Gleichzeitig ist sie von einer unheimlichen Leere gekennzeichnet, da ihre Freundschaft und auch ihre Beziehung zu ihrem Freund aufgrund der Ereignisse in den letzten Stunden enorm gelitten haben. Zunächst geht sie etwas ziellos durch die Straßen. Nach dem sie einen Passanten nach einem Taxi oder Bus gefragt hat, beginnt die wortlose Sequenz. Sie irrt durch diffuse Lichter und eine ergreifende Dunkelheit bis sie schließlich neben einem großen Müllcontainer stehenbleibt. Doch just in dem Moment, in dem sie es wagen will, kommt ein Hund um die Ecke und stimmt mit in das kollektive Gebelle der Straßen ein. Otilia erschrickt und geht schnellen Schrittes weiter. Sie blickt sich suchend um, immer Ausschau haltend nach Möglichkeiten das Baby wegzuwerfen und  dabei nicht gesehen zu werden. Ein Auto fährt an ihr vorbei. Otilia blickt zur Seite, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen ist vom Fahrer. Dann betritt sie einen Wohnblock und geht die Treppen nach oben. Dort befindet sich ein Müllschlucker. Sie wirft das Baby hinein und nachdem der Aufprall zu hören ist, steht sie noch für einige Sekunden, wild atmend und sich langsam beruhigend. Sie kehrt zurück zum Hotel. Vor dem Zimmer, indem sie ihre beste Freundin vermutet und in dem auch die Operation stattgefunden hatte, bleibt sie noch einen Moment. Ein Licht im Flur flackert, kaum eines der Deckenlichter ist funktionsfähig. Otilia setzt sich auf einen der vier rotgepolsterten Sessel zwischen den beiden rotgepolsterten Sofas. Sie droht zusammenzubrechen. Dann richtet sie sich auf, geht zur Tür und klopft.



Die komplette Sequenz ist mit Handkamera gedreht. Cristian Mungiu und sein Kameramann Oleg Mutu haben sich für ein reduziertes Lichtkonzept entschieden. Statt eine Ausleuchtung der Protagonistin zu gewährleisten, lässt man sie immer wieder in der Dunkelheit verschwinden. Ein auf einer Angel getragenes Balloonlight sichert zumindest die Orientierung des Rezipienten. In den richtigen Momenten sieht man so auch entscheidende Gesichtsausdrücke, bevor Otilia wieder in der Dunkelheit verschwindet. Dennoch liegt hier eine ganz außerordentlich anspruchsvolle Bildgestaltung vor. Das Stichwort lautet Akzentbeleuchtung. Einzelne Objekte und Momente werden mit Licht versorgt und somit in den Fokus gerückt. Die Kamera sucht sich immer wieder ansprechende Position, verlässt aber nie die Protagonistin. Ein bisschen wie in einem Dardenne-Film, nur dass die Kamera eben auch mal ein paar Meter Abstand gewinnt. Wenn Otilia vor dem Müllcontainer steht, wird dieser bei weitem mehr beleuchtet als sie selbst. Er ist das Ziel und man fokussiert sich als Rezipient sofort darauf. Dieses Stilmittel wird über den ganzen Film hinweg eingesetzt und nicht immer müssen die beleuchteten Objekte derart narrativ motiviert werden. Es entsteht ein Gefühl von realistischer Beleuchtung fernab jeglicher Hollywood „blaue Nacht“ Ästhetik. Ganz nebenbei können so natürlich auch ein paar unsichtbare Schnitte angebracht werden, denn von Zeit zu Zeit taucht Mungiu das Bild in reines Schwarz. Hier findet man auch eine Betonung des Nichts. Das Nichts, in das die Leiche geworfen werden soll, diese Schwärze der Müllschlucker, die so anziehend sind. Das Nichts, in dem Otilia lebt, in diesem politisch abgebrannten Land. Das Nichts, der Zukunft in der sie blickt, nach den Ereignissen des Tages und auch aufgrund der Gesellschaft, in der sie versucht zu überleben. Die Schwärze betont ein Gefühl für eine Stimmung, die sich über den ganzen Film breitmacht. Eine Kargheit und Kühle, die keine starken Farben verdienen würde. Die Blässe von Otilia wirkt noch kränklicher, wenn sie gegen das Schwarz ihrer Umgebung gestellt wird.  Die Kamera wackelt nicht zu stark, sie atmet. Dennoch entsteht Hektik.



Diese ist in erster Linie dem Ton zuzuschreiben. Hundegebell, Glasscherben splittern, jemand pfeift, Stimmen sind zu hören; ständig und von überall gibt es undefinierbare Geräusche. Wenn gerade nichts zu hören ist, dann hören wir das laute, ringende Atmen von Otilia. Der aufgewühlte Ton dient als perfekte Beschreibung des inneren Zustandes der Protagonistin. Der Ton funktioniert wie ein psychotisches Ringen im Kopf von Otilia, vergleichbar mit dem schrillen Pfeifen nach einem Granateneinschlag mit dem in Filmen so oft experimentiert wird. Jedes Geräusch könnte das Ende bedeuten, es geht eine große Bedrohung davon aus. Zusätzlich dienen die Töne auch zur weiteren Orientierung zwischen den dunklen Blockbauten und Straßen. Als Otilia den Embryo dann in den Müllschacht wirft bekommt der Ton nochmal eine besondere Bedeutung. Denn es dauert schier eine Ewigkeit bis der Aufprall zu hören ist; durch die Länge des Falls wird einem auch sein Gewicht gewahr. Was für eine brutale Tat, zu der die Frauen mehr oder weniger gezwungen sind. Der hallende Ton des gegen die Rohre schlagenden Leichnams trifft einem mehr ins Mark, als das blutige Bild des Körpers im Bad einige Minuten vorher. Die Fantasie des Rezipienten wird so auf eine grausame, Haneke-artige Art des Nicht-Sehens angeregt. Wir spüren gleichzeitig die Last, die sich entlädt.



Was diese Sequenz so hervorhebt, ist das ständige Oszillieren zwischen Spannung und Ekel. Am liebsten würde man sich abwenden, aber dafür sympathisiert man zu viel mit Otilia. Ihr selbst geht es genauso. Immer wieder stoppt sie. Sie scheint sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen. Sie schwankt, aber dann holt sie die Realität wieder ein und sie muss weiterkämpfen. Der Widerspruch wird von Cristian Mungiu in diesen Momenten des Zögerns eindrücklich inszeniert. Im Treppenhaus bleibt Otilia stehen. Es ist ein Gefühl der Unerträglichkeit. Sie macht mehr für ihre Freundin, als man einem Menschen zumuten kann. Es ist überlebensnotwendig, deshalb geht sie weiter. Diese Grausamkeit hat etwas von Kriegsfilmen, in denen Menschen mit ansehen müssen, wie ganze Familien ausgelöscht werden und dennoch weiterkämpfen müssen, um zu überleben. Uns geht es nicht anders. Eigentlich hat man das Bedürfnis wegzusehen. Aber die Kamera ist gnadenlos, lässt keinen Raum durchzuatmen, bleibt durchgehend beim Geschehen. Hier liegt ein Paradox, denn es scheint fast, als würde die Kamera selbst damit kämpfen; die Schwenks mit der Protagonisten wirken angestrengt und es ist selten besser gelungen eine Stimmung von Protagonist und Rezipient so gleichzuschalten. Man wünscht sich gleichzeitig, dass es ihr gelingt das Baby wegzuwerfen und hofft, dass es nicht passieren muss. Man will es nicht sehen, will aber, dass es passiert. Das ist die Unerbittlichkeit von 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage. Die Spannung scheint sich aufzulösen, als das Baby entsorgt ist. Zumindest bis Otilia an der Tür klopft. Der Ekel aber trägt sich weiter fort. 



In der Lobby im Hotel in der letzten Einstellung der Szene herrscht eine zerstörte Symmetrie. Alle Objekte, die man für Symmetrie bräuchte sind da. Aber sie tragen Spuren, die es ihnen nicht ermöglichen wieder in eine ansprechende Form zu kommen. Der Horror für Otilia ist nicht vorbei. In dieser Welt herrscht ein verzweifeltes Nichts vor. Sie atmet nochmal durch. Es spielt eigentlich keine Rolle. Jedes Wort in dieser Sequenz hätte die schiere Präsenz und Wucht aus ihr Genommen. 


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