Das halbe Kinojahr ist vorbei und diesmal möchte ich keine simple Reihenfolge auflisten, sondern ein bisschen beschreiben, was wir denn gesehen haben bislang im Jahr 2012. Dafür spreche ich wieder nur von Filmen, die in Deutschland bzw. Österreich seit dem 01.01.2012 gestartet sind.
Diese Beschreibung möchte ich einem vergleichenden Muster unterziehen. Vor einigen Tagen war ich im Rahmen meines Studiums auf einem Filmscreening, auf dem mit dem Handy gedrehte Kurzfilme von Studenten zu sehen waren. Neben der enormen Diskrepanz zwischen ambitionierten und extrem einfallslosen Filmen, sowie der Tatsache, dass kaum einer der Filme die Möglichkeiten des Handys wirklich ausnutzte (eigentlich wurde es wie eine normale Kamera genutzt, in manchen Filmen als eine Art Ausrede für einen billigen Cloverfield-Wackelkamerastyle), fiel vor allem auf, dass bestimmte Themen immer wieder aufgetaucht sind:
U-Bahn
Schuhe/Mode
Verfolgung/Paranoia
Alkohol/veränderte Wahrnehmung
Medien
Nun will ich diese 5 wiederkehrenden Motive auf ihr Vorkommen in den Filmen, die 2012 ins Kino kamen, untersuchen. Dabei muss man bemerken, dass sich die subjektive Filmauswahl zum Teil sehr fern der großen Blockbuster bewegt. Zudem beziehe ich mich zum leichteren Verständnis immer auf die Schauspieler, wenn ich von den Figuren schreibe.
U-Bahn
Was beschäftigt uns derart in und an der U-Bahn, dass in jedem zweiten Film eine U-Bahn zu sehen war bzw. sich die Charaktere mit der U-Bahn fortbewegten? Vielleicht liegt es einfach daran, dass sich ein Großteil der Studenten mit der U-Bahn fortbewegt und man aufgrund der hohen Vielzahl interessanter Köpfe und der ständigen Bewegung zu Geschichten und Bildern inspiriert wird. Die U-Bahn ist auch Teil des Untergrunds. Man versteckt sich in ihr gewissermaßen. Man verschwindet unter der Erde, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen. Sie ist auch ein Ort der Berührung. „Shame“ von Steve McQueen spielt zum Teil in der U-Bahn. Es ist eine aussagekräftige Abartigkeit, die sich in der aufkeimenden Erotik einer Begegnung in der U-Bahn manifestiert. Interessanterweise haben auf dem Handyfilmscreening alle Filme die Berührungen und Begegnungen in den U-Bahnen, als etwas Romantisches und Positives dargestellt. Aber was heißt das denn, wenn Michael Fassbender in „Shame“ Frauen in der U-Bahn aufreißt? Die U-Bahn ist kein romantischer Ort, sie ist ein Ort der Enge und des Ekels. Es stinkt meist und es ist dunkel. „Shame“ zeigt auch, dass es ein Ort des Suizids ist. Fassbender spielt einen Charakter, der sich versteckt, der unter der Erde seinen Trieben nachgeht. (Obwohl sein Drang so groß ist, dass er ihnen später auch in luftiger Höhe, für alle sichtbar, folgt.) Die U-Bahn ist hier ein Weg der Ausweglosigkeit. Oft entsteht in ihr Nähe, die sich nicht gut anfühlt. Sie ist aber auch eine Art Zug. In Martin Scorsese’s „Hugo“ wird diese Bewegungsdynamik von Zügen zelebriert. Sie entspricht in so vielen Dingen der Dynamik der Filme in einem Projektor, vor unseren Augen. Scorsese feiert die Kraft des Kinos. Er benutzt dafür die neuesten technischen Standards und sicherlich ist „Hugo“ kein typischer Scorsese-Film; aber es ist ein Film, der Träume fliegen lässt, ein wichtiger Film; ein schöner Film. Er zeigt die romantische Seite des Untergrunds, die gleichzeitig eine Seite der Armut ist. Bei Scorsese stinkt es nicht im Untergrund, es dampft nur. Und das sieht verdammt gut aus.
Schuhe/Mode
Verfolgung/Paranoia
Wackelige Handybilder; meistens verbunden mit einer
subjektiven Kameraführung. Wir sehen, was die Protagonisten sehen, durch die
Augen der Medien. Wir fühlen uns aber auch verfolgt. Immer wieder blicken sich
die Protagonisten der Handyfilme um. Wir werden fast von einer unsichtbaren
Kraft verfolgt. Ist das unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit? Sozusagen das
Konterprodukt der totalen Vernetzung und medialen Sichtbarkeit. Auch sehr
auffällig: Viele Figuren in den Filmen scheinen zu wissen, dass sie verfolgt
werden, blicken daher direkt in die Kamera oder werden plötzlich vom Verfolgten
zum Angreifer. In „Martha Marcy May Marlene“ von Sean Durkin lebt Elizabeth Olsen
in ständiger Angst. Es ist schwer zu beschreiben vor was genau sie Angst hat,
aber es ist eine absolut verständliche Angst. Oft sind es die Dinge, die
scheinbar die Freiheit und das Paradies darstellen, die unter dem Deckmantel
des „Guten“ operieren, die wirklich furchteinflößend sind. John Hawkes erhebt
seine Stimme nie, er spricht immer leise. Er singt und spielt Gitarre. Seine
Sekte brodelt unter der Oberfläche, so wie dieser Film, der einen in eine echte
Welt entlässt, in der man sich auch noch Tage nach dem Film beobachtet
fühlt. Paranoia ist auch das große Thema
im Film „Take Shelter“ von Jeff Nichols. Im Zentrum stehen immer leidende, nahe
am Wahnsinn stehende Charaktere. Hier ist das ein famoser Michael Shannon. Wirklichkeit
und Einbildung verschwimmen. Wir erschrecken immer vor Dingen, die es gar nicht
gibt. Im Anblick der Realität langweilen wir uns eher. Daher sind
Verfolgungsjagden auch so etwas Filmisches. Egal ob Sascha Baron Cohen in „Hugo“
mit seinem Hund illegal im Bahnhof jagende Kinder jagt, mit unheimlich viel Aktion
im Bild und mit Humor, Musik und Farben oder ob Ryan Gosling in „Drive“ bei
fast völlig ruhiger Kamera und Stille in seinem Auto sitzt und seine Verfolger
abschüttelt oder ob bei den Dardenne-Brüdern in „Der Junge mit dem Fahrrad“
Verfolgung als Ungerechtigkeit empfunden wird, mit nüchternen, verwackelten
Bildern, in denen es nicht um die Verfolgung geht, sondern um die Verfolger und
Verfolgten. In denen Verfolgung ein Teil des Lebens ist, völlig ohne Pathos.
Sie ist ein großer Teil des Kinos. Nicht umsonst hat Clint Eastwood mit „J.Edgar“
einen Film gemacht, der in einer Zeit spielt, in der Paranoia Teil des Alltags
war und Teil einer politischen Strategie. Auch hier versucht Eastwood seinen
Charakter ins Zentrum zu stellen. Leider winkt er zu sehr mit dem
Oscar-Zaunpfahl und das ganze verkommt zu einer Masken-Orgie der
Unausgewogenheit. Die politische Geschichte von Verfolgung thematisiert auch
Christian Petzold in „Barbara“. Wir können nur ungläubig unseren Kopf
schütteln, wie man Menschen so ausspionieren kann, wenn diese doch auch gerne
freiwillig ihr Leben preisgeben. In „Stillleben“ von Sebastian Meise wird diese
Verfolgungssituation umgedreht. Plötzlich fühlen wir uns nicht mehr ertappt als
die Verfolgten, sondern ertappt, als die Verfolger. Gekonnt präsentiert der
Film einen Mann, der unter einem gesellschaftlich-moralisch Verurteilten
Verbrechen zu zerbrechen droht; orientierungslos geht er den halben Film durch
die Welt. Seine Familie sucht ihn, gibt ihn auf, verlässt ihn, schließt ihn in
ihr Herz, hasst ihn. Ein Film der kühl seziert und genau deshalb offenlässt. Er
stellt eine Frage an uns und das ist immer noch die beste Art, wie ein Film,
einen bis weit nach dem Ende verfolgen kann.
Alkohol/Wahrnehmungsbeeinflußung
Ein weiteres wichtiges Thema in den Handyfilmen war
Alkohol. Menschen, die sich betrinken, die betrunken aufwachen, die sich an
nichts erinnern können. Unmotiviert in die Handlung eingeflochtene Kifferszenen
inklusive. Sind ja schließlich alles Autorenfilme. Dadurch verändert sich auch
oft die Wahrnehmung. Sie wird langsamer, schneller, Farben verändern sich. Und
irgendwo im Bild war noch Platz für eine Bierflasche. Ist ja auch cool. In „Once
Upon a Time in Anatolia“ von Nuri Bilge Ceylan gibt es auch einen Moment der
Wahrnehmungsbeeinflußung; wie in einer Oase mitten in Anatolien bekommen die
Polizisten und Gefangenen im Film in der Nacht ein Getränk von einer jungen
Frau überreicht. Es ist wie eine Hoffnung auf Leben, es ist ein Moment der
Schönheit, die Charaktere scheinen aus dem Gefängnis des Filmes herauszutreten.
Ceylan lässt diesen Wahrnehmungswandel nur in den Gesichtern geschehen; er
zeigt ihn von außen. Charlize Theron säuft sich alle Sorgen vom Leib in „Young
Adult“. Jason Reitman dringt über das Trinken tiefer zur Wahrheit seines
Charakters vor. Sie offenbart im Alkohol ihre Schwäche hinter ihrer Maske.
Können wir nur noch wir selbst sein, wenn wir unsere Wahrnehmung verändern. In „Martha
Marcy May Marlene“ werden die Frauen mit einer Droge betäubt, bevor John Hawkes
zum ersten Mal mit ihnen schläft. Sie wachen dann mitten im Sexualakt auf. Es
geht nur um ihren Körper, nicht um ihren Geist. Dieses Verlieren des
Bewusstseins führt hier zu einer Vergewaltigung, allgemein führt es fast immer
zu sexuellen Erlebnissen und Stimmungen. Auch das ist strenggenommen eine
Flucht. Eine Flucht vor dem Leben. Ins Kino.
Medien
Computer, Videospiele, Handy, IPod,…fast in jedem
Handyfilm wird eine dieser Dinge thematisiert. Sie sind ein fester Bestandteil
unseres Lebens und haben zum Teil vor allem ein Problem: Sie sind furchtbar“
unfilmisch“. Den Bildschirm eines Computers zu filmen, ist schlicht und ergreifend
ästhetisch langweilig. Auf irgendeine
Art und Weise beißen sich Film als Medium und Medien in Filmen. Gerade mit dem
Handy konnten allerdings so einige interessante subjektive Perspektiven
gewonnen werden und mit der Wahrnehmung der Filme gespielt werden. In „Hunger
Games“ von Gary Ross wird massive Medienkritik geübt. Die Charaktere werden als
Spielzeug in die Welt der Medien geworfen. Es geht im Medium Fernsehen vor allem um
Wahrnehmung, Mode bzw. Darstellung und Bewegung. Für einen Blockbuster
thematisiert der Film diese Themen erstaunlich offen. Wenn gegen Ende die
Spielregeln geändert werden, fühlt sich das ungerecht an. Aber doch nur, weil
wir mit den Charakteren fühlen? Wären wir die Fernsehzuseher, dieser etwas
merkwürdigen, dekadenten Welt, die wir doch sind, dann würden wir uns wünschen,
dass die Spannung immer weiter getrieben wird. Bis etwas passiert. Dann sind
wir alle entsetzt. Aber nur ein bisschen. In „The Girl with the Dragon Tatoo“
von David Fincher kann man sich gar nicht retten vor lauter Bildschirmen und
Handys. Ermittlungsarbeit wird heute eben von Hackern betrieben. Auch das Medium Film wird thematisiert in
Filmen 2012. „The Artist“ von Michael Hazanavicius treibt ein ironisches Spiel
mit dem Stummfilm-Genre, bis zur Perfektion ausgearbeitet und daher leider ohne
jegliche Ecken und Kanten; die Protagonisten scheinen uns Zuzuzwinkern. Sie
sind sowohl die Schauspieler, die sich freuen in einem solchen Film zu spielen,
als auch die Rollen, die Schauspieler spielen, die nun mal mit dem Publikum
spielen.
Man darf gespannt sein, was in der zweiten Hälfte
des Jahres den Weg in die deutschen und österreichischen Kinos findet. Und man
darf auch gespannt sein, wie weit sich die Filmtechnologien des Handys
entwickeln und vor allem darf man gespannt sein: Was sind die Themen, auf denen
die Filme unserer Generation weiterhin beruhen werden.
Das kommt in den nächsten Wochen;
Empfehlungen (Deutschland):
05.07 Cosmopolis von David Cronenberg; Woody Allen:
A Documentary von Robert B. Weide
12.07. Periferic von Bogdan George Apetri
26.07. The Dark Knight Rises von Christopher Nolan
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