Sonntag, 20. Oktober 2013

Prisoners von Denis Villeneuve



Der kalte und epische amerikanische Thriller hat mit “Prisoners” von Denis Villeneuve einen würdigen weiteren Vertreter gewinnen können, ein Film, der so vieles richtig macht, dass man fast in jedem der klinischen Bilder von Roger Deakins die großen Fähigkeiten eines fantastischen Filmemachers sieht: Denis Villeneuve. Mit „Incendies“ und „Polytechnique“ hatte er sich auf die Kinolandkarte bombardiert und er bleibt seinen virtuosen Verschränkungen und seinen Cut- bzw. Fade-Away Szenenübergängen genauso treu, wie seinen elegischen Zufahrten, die ganz für sich stehend schon mehr Suspense kreieren als ganze Pararellmontagen in anderen Filmen. Schon lange hat kein Regisseur mehr so gut eine amerikanische Überwältigungsstrategie mit intelligenten Subplots verbinden können wie das hier der Fall ist. Auf der Oberfläche bewegt sich der herkömmliche Thriller mit den verlorenen Kindern, den suchenden Vätern, den Rachemotiven und den verzweifelnden Polizisten, aber darunter verbergen sich nicht nur schwerwiegende Fragen zur gesellschaftlichen Moral, sondern auch Fragen zu unserer herkömmlichen filmischen Wahrnehmung. Ein ganz besonderer Credit muss dafür an den Drehbuchautor Aaron Guzikowski gehen, der eben nicht nur verschachtelt erzählt, sondern auch ein Meister der subtilen falschen Fährten, der großen Schicksalshaftigkeit und der kleinen Momente dazwischen ist. Als die Tochter von Keller Dover verschwindet beginnt dieser schnell an den Methoden des zuständigen Polizisten Detective Loki zu zweifeln und nimmt das Gesetz selbst in die Hand. Die Handlung verfolgt die beiden Männer, zieht Parallelen und findet Konflikte. Eigentlich nichts Besonderes und Villeneuve erfindet sicher das Rad nicht neu, aber selten hat man diese Art Geschichte mit derartiger Finesse vorgetragen gesehen. Das liegt auch immer daran, dass Villeneuve die Klischees in seinen Bildern ausspart und immer genau im Moment des womöglich eintretenden Klischees in eine andere Szene schneidet und somit den Zuseher extrem involviert. In der Struktur erinnert der Film an einen wildgewordenen Maler, der immer die richtigen Farben auf die Leinwand spritzt und immer genau im richtigen Moment die Lust an einer gewissen Farbe verliert. Schon „Incendies“ fuhr diese Strategie.


Villeneuve wechselt häufig Schauplätze und führt Figuren oder Tiere ein, mit denen man niemals gerechnet hätte zu Beginn des Films. Er unterschneidet seine konfliktgeladenen Szenen mit reinen Stimmungsbildern, die zwar ganz im Stil des amerikanischen Mainstreamkinos immer eine Bedeutung haben, aber die niemals platziert wirken. Eher ist es so, dass Villeneuve Gegenstände und Stimmungen zu entdecken scheint und ihnen dann mit seinen Bildern folgt. Dort wo etwa Derek Cianfrance mit seinem furchtbar gekünstelten „The Place Beyond The Pines“ stolperte, geht Villeneuve einfach weiter. Die Frage nach Zufall und Schicksal stellt er sich nicht, er erzählt die Geschichte. Erstaunlich, dass ihm dabei trotz eines auf den ersten Blick nicht gleichwertigen Casts eine ähnliche epische Tiefe wie Clint Eastwood in „Mystic River“ gelingt. Es ist die Stärke von Filmen große Themen der Menschheit auf kleine Personenkonstellationen herunterzubrechen und trotzdem real dabei zu wirken. Wo Eastwood und Lehane allerdings den Ausgang einer tatsächlichen Tragödie exerzieren, bleibt Villeneuve ein wenig hängen. Die Moral steht bei ihm nämlich nicht am Ende sondern am Anfang des Films. Und am Schluss steht die Emotion oder das Filmische per se, ein Spiel mit den Erwartungen, dass über die ganze Laufzeit auf die Probe gestellt wird. Auch Ben Afflecks „Gone Baby Gone“ agierte derart und ist zu den in diesem Jahrtausend äußerst fruchtbaren Ostküsten-Thrillerdramen zu zählen. Villeneuve lässt das Wetter auf die Autos prasseln wie James Gray in „We own the night“. Atmosphäre wird bei ihm großgeschrieben, der Raum wird nicht sozial verankert, sondern physisch greifbar. Ins Zentrum seiner Inspiration stellt Villeneuve mit Jake Gyllenhaal einen Schauspieler, für den er dann spätestens mit „Enemy“ ähnlich fungieren könnte wie Martin Scorsese für Leonardo DiCaprio. Oder weniger kompliziert: Jake Gyllenhaal liefert eine der herausragenden Performances des Jahres ab. Es scheint auf den ersten Blick nur ein allzu motivierter Versuch zu sein einen als weich angesehen Schauspieler einen relativ harten, ständig „fuck“ sagenden Cop spielen zu lassen oder eine Variation seiner Rolle in „Zodiac“ von David Fincher zu sein. Aber Gyllenhaal legt zwischen der Härte und der Verlorenheit seiner Figur eine psychotische Note, die dort einen Menschen entstehen lassen. Als er zum ersten Mal zu sehen ist, ist er nicht im Ansatz in der Lage Kontakt mit einer Kellnerin aufzunehmen, seine Augen zucken nervös zusammen, in ihm brodelt eine große Aggression.


Thematisch ist „Prisoners“ sicherlich kein Meilenstein, sondern eher eine Addition zu bekannten Geschichten. Allerdings ist es tatsächlich eine Addition. Ein Film, der von der ersten Szene, in der ein Reh von einem Jungen erschossen wird, mit der für das Genre des Entführungsfilms relevanten Frage nach Konsequenz und Gewalt spielt, ein Film der klinisch mit der Frage der falschen Fährte verfährt, der Moral nicht benennt sondern einfach nur in den Augen seiner Nebenfiguren geschehen lässt, ein Film, der sich der Frage der Sentimentalität mit einem verweigerten Lächeln eines kleinen Kindes nähert, der eine Welt entstehen lässt statt sie schon in und auswendig zu kennen. Dadurch entsteht ein rares Gut im modernen Kino: Klassische Spannung.


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