Der kalte und epische amerikanische Thriller hat mit “Prisoners”
von Denis Villeneuve einen würdigen weiteren Vertreter gewinnen können, ein
Film, der so vieles richtig macht, dass man fast in jedem der klinischen Bilder
von Roger Deakins die großen Fähigkeiten eines fantastischen Filmemachers
sieht: Denis Villeneuve. Mit „Incendies“ und „Polytechnique“ hatte er sich auf
die Kinolandkarte bombardiert und er bleibt seinen virtuosen Verschränkungen
und seinen Cut- bzw. Fade-Away Szenenübergängen genauso treu, wie seinen
elegischen Zufahrten, die ganz für sich stehend schon mehr Suspense kreieren
als ganze Pararellmontagen in anderen Filmen. Schon lange hat kein Regisseur
mehr so gut eine amerikanische Überwältigungsstrategie mit intelligenten
Subplots verbinden können wie das hier der Fall ist. Auf der Oberfläche bewegt
sich der herkömmliche Thriller mit den verlorenen Kindern, den suchenden
Vätern, den Rachemotiven und den verzweifelnden Polizisten, aber darunter
verbergen sich nicht nur schwerwiegende Fragen zur gesellschaftlichen Moral,
sondern auch Fragen zu unserer herkömmlichen filmischen Wahrnehmung. Ein ganz
besonderer Credit muss dafür an den Drehbuchautor Aaron Guzikowski gehen, der
eben nicht nur verschachtelt erzählt, sondern auch ein Meister der subtilen
falschen Fährten, der großen Schicksalshaftigkeit und der kleinen Momente
dazwischen ist. Als die Tochter von Keller Dover verschwindet beginnt dieser
schnell an den Methoden des zuständigen Polizisten Detective Loki zu zweifeln
und nimmt das Gesetz selbst in die Hand. Die Handlung verfolgt die beiden
Männer, zieht Parallelen und findet Konflikte. Eigentlich nichts Besonderes und
Villeneuve erfindet sicher das Rad nicht neu, aber selten hat man diese Art
Geschichte mit derartiger Finesse vorgetragen gesehen. Das liegt auch immer
daran, dass Villeneuve die Klischees in seinen Bildern ausspart und immer genau
im Moment des womöglich eintretenden Klischees in eine andere Szene schneidet
und somit den Zuseher extrem involviert. In der Struktur erinnert der Film an
einen wildgewordenen Maler, der immer die richtigen Farben auf die Leinwand
spritzt und immer genau im richtigen Moment die Lust an einer gewissen Farbe
verliert. Schon „Incendies“ fuhr diese Strategie.
Villeneuve wechselt häufig Schauplätze und führt Figuren
oder Tiere ein, mit denen man niemals gerechnet hätte zu Beginn des Films. Er
unterschneidet seine konfliktgeladenen Szenen mit reinen Stimmungsbildern, die
zwar ganz im Stil des amerikanischen Mainstreamkinos immer eine Bedeutung
haben, aber die niemals platziert wirken. Eher ist es so, dass Villeneuve
Gegenstände und Stimmungen zu entdecken scheint und ihnen dann mit seinen
Bildern folgt. Dort wo etwa Derek Cianfrance mit seinem furchtbar gekünstelten „The
Place Beyond The Pines“ stolperte, geht Villeneuve einfach weiter. Die Frage
nach Zufall und Schicksal stellt er sich nicht, er erzählt die Geschichte.
Erstaunlich, dass ihm dabei trotz eines auf den ersten Blick nicht
gleichwertigen Casts eine ähnliche epische Tiefe wie Clint Eastwood in „Mystic
River“ gelingt. Es ist die Stärke von Filmen große Themen der Menschheit auf
kleine Personenkonstellationen herunterzubrechen und trotzdem real dabei zu
wirken. Wo Eastwood und Lehane allerdings den Ausgang einer tatsächlichen
Tragödie exerzieren, bleibt Villeneuve ein wenig hängen. Die Moral steht bei
ihm nämlich nicht am Ende sondern am Anfang des Films. Und am Schluss steht die
Emotion oder das Filmische per se, ein Spiel mit den Erwartungen, dass über die
ganze Laufzeit auf die Probe gestellt wird. Auch Ben Afflecks „Gone Baby Gone“
agierte derart und ist zu den in diesem Jahrtausend äußerst fruchtbaren Ostküsten-Thrillerdramen
zu zählen. Villeneuve lässt das Wetter auf die Autos prasseln wie James Gray in
„We own the night“. Atmosphäre wird bei ihm großgeschrieben, der Raum wird
nicht sozial verankert, sondern physisch greifbar. Ins Zentrum seiner
Inspiration stellt Villeneuve mit Jake Gyllenhaal einen Schauspieler, für den
er dann spätestens mit „Enemy“ ähnlich fungieren könnte wie Martin Scorsese für
Leonardo DiCaprio. Oder weniger kompliziert: Jake Gyllenhaal liefert eine der
herausragenden Performances des Jahres ab. Es scheint auf den ersten Blick nur ein
allzu motivierter Versuch zu sein einen als weich angesehen Schauspieler einen
relativ harten, ständig „fuck“ sagenden Cop spielen zu lassen oder eine
Variation seiner Rolle in „Zodiac“ von David Fincher zu sein. Aber Gyllenhaal
legt zwischen der Härte und der Verlorenheit seiner Figur eine psychotische
Note, die dort einen Menschen entstehen lassen. Als er zum ersten Mal zu sehen
ist, ist er nicht im Ansatz in der Lage Kontakt mit einer Kellnerin
aufzunehmen, seine Augen zucken nervös zusammen, in ihm brodelt eine große
Aggression.
Thematisch ist „Prisoners“
sicherlich kein Meilenstein, sondern eher eine Addition zu bekannten
Geschichten. Allerdings ist es tatsächlich eine Addition. Ein Film, der von der
ersten Szene, in der ein Reh von einem Jungen erschossen wird, mit der für das
Genre des Entführungsfilms relevanten Frage nach Konsequenz und Gewalt spielt,
ein Film der klinisch mit der Frage der falschen Fährte verfährt, der Moral
nicht benennt sondern einfach nur in den Augen seiner Nebenfiguren geschehen
lässt, ein Film, der sich der Frage der Sentimentalität mit einem verweigerten
Lächeln eines kleinen Kindes nähert, der eine Welt entstehen lässt statt sie
schon in und auswendig zu kennen. Dadurch entsteht ein rares Gut im modernen
Kino: Klassische Spannung.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen