In den ersten Sekunden von „Medeas“ von Andrea Pallaoro ist
alles still. Würde sich die Wasseroberfläche des Badeteichs nicht leicht
bewegen und gebe es nicht den kontinuierlichen Sound der Natur, könnte man fast
glauben es wäre eine Photographie. Hier wird die Ruhe nur etabliert, um sie mit
plötzlichen Stößen und Schnitten zu durchdringen. Manchmal liegt aber auch in
der Ruhe eine Bedrohung. Silence kills. In „Stray Dogs“ von Tsai-Ming Liang
werden Tableaus aufgefahren. Seine Bilder haben mehr mit Gemälden zu tun, als
mit kommerziell dominanten Kino. Bei ihm liegt die Bewegung im Detail: Eine
Träne, leichter Wind in den Haaren oder das Auf und Ab des atmenden Körpers im
Schlaf. Wenn er Bewegung hat, dann verläuft sie im Kreis, in Schleifen, ohne
Ausweg, sodass sie schon fast wieder ein Stillstand ist. Es ist auffällig wie
bislang im Kinojahr 2013 die Bilder ihre Bewegung verlieren. Aber nur auf der
Oberfläche.
In „Only God Forgives“ manövriert sich Nicolas Winding Refn durch stillstehende
Bilder, die in ihrer gefrorenen Symmetrie auch glatt einem Möbelmagazin
entspringen könnten, das in rote Sauce gefallen ist. Bei Abbas Kiarostami und „Like
someone in love“, der dieses Jahr regulär in die Kinos kam, wird gezeigt, wie
man durch scheinbare Bewegungslosigkeit ein Mehr an Bewegung, eine emotionale
Betonung der kleinen Regungen gewinnen kann. Natürlich beherrscht Kiarostami
das vor allem in seinen Autofahrten, in denen die zum Teil einzige Bewegung von
der Spiegelung auf der Frontscheibe auszugehen scheint. Vor kurzem hatte die
Cahiers du Cinéma etwas sorgenvoll den Zeigefinger gehoben, ob das Schauspiel
aufgrund dieser modernen Starre und Kühle (insbesondere im europäischen Kino)
vom Aussterben bedroht ist. Man würde den Schauspielern zu wenige Freiheiten
lassen und die Liebe gegenüber dem Schauspiel würde verschwinden. In der Tat
betrachten viele prägende Regisseure des Autorenkinos Schauspieler derzeit, als
ein mit Requisiten und Farbgebung gleichwertiges Element, auf ihren Bildern.
Die Apathie der Protagonistin in Ozons „Jeune & jolie“ passt da genauso ins
Bild wie das innere Absterben praktisch aller Charaktere in Park Chan-Wooks „Stoker“.
Aber nur scheinbar, denn Stimmen und Körperlichkeit haben gegenüber dem Drama
und der sichtbaren Emotion an Bedeutung gewonnen. Wenn man sich dann „La vie d’Adèle“
von Abdellatif Kechiche ansieht, dann sieht man schauspielerische Bewegung. Ein
vibrierender Cocktail aus Bewegung und Emotion. Ist das Bild also doch nicht
stehengeblieben, sondern bewegt sich wie in „Fish&Cat“ von Shahram Mokri
ohne Unterlass, ein ständiges Treiben und plötzlich stellt sich die Frage, ob
nicht durch das Ausbleiben des Schnitts, der in „La vie d’Adèle“ auch an vielen
Stellen zu beobachten und bei Mokri in Reinheit durchgezogen wird, eine weitere
Form der Bewegungslosigkeit liegt.
Schnitte scheinen elliptisch zu sein wie bei
Refn oder Pallaoro oder eben kaum mehr vorhanden. Die Montage generiert aber in
den Köpfen der Zuseher sowas wie Bewegung. Sie greift die Zeit an und bewirkt
häufig dieses zeitlose Gefühl im Kino. Plötzlich werden kleine Gesten und ein
Flüstern mit großer Kraft bedacht. In „La grande bellezza“ zaubert Sorrentino
mit Schnitten und Bilderwelten, um sie von Zeit zu Zeit zu verlangsamen und so
die Kontrolle, den Blick von außen, der seinem Protagonisten eigen ist, zu
versinnbildlichen. Bei ihm ist es eher das Spiel mit Bewegung und Stillstand, das
nicht nur zum Spüren einer Vergangenheit beiträgt, sondern eben auch den Film
selbst in eine Art Stillstand versetzt. Es wurde viel geschrieben über Film als
Medium der Bewegung und es scheint auch natürlich zu sein, wenn man von
tatsächlichem Film spricht, weil dieser ja per se schon im Projektor bewegt
wird. Außerdem ging man ja ins Kino, um visuelles Spektakel, um Bewegung zu
erleben. Aber in der heutigen Zeit, in der selbst in Cannes Filme fast ausschließlich
digital gezeigt werden und der Kinozuseher schon aus einer visuellen Welt in
die Dunkelheit des Kinosaals flüchtet, will er vielleicht gar keine Bewegung
sehen, sondern Stillstand. Er will atmen können und sich aus dem Bombardement
an Eindrücken des Alltags befreien. Dieser Gedanke war in der Filmtheorie schon
immer von Relevanz, aber scheint mir jetzt gerade aktueller denn je: Wie schön
kann es sein, wenn man Zeit bekommt etwas anzusehen. Etwas wirklich anzusehen. James
Benning geht mit Schulklassen ins Museum, um mit ihnen an der Fähigkeit etwas
anzusehen, zu arbeiten. Durch Bewegungslosigkeit kann die Aufmerksamkeit auf
etwas gelenkt werden, das sich unter der Oberfläche befindet. In den
elliptischen Montagen eines Winding Refns oder eines Harmony Korines befindet
sich weniger ein Fenster zur Wirklichkeit, als ein Spiegel zur Gesellschaft.
Ihre Schnitte entsprechen dem ziellosen Treiben durchs Internet, dem hin und
zurück ohne wirklich vorwärts zu kommen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
beginnen sich in digitalen Bildern zu überlappen und die Zeit stirbt. Claire
Denis hat in „Les Salauds“ einen ähnlich konsequenten Weg gewählt. Sie filtert
aus der scheinbaren Zusammenhangslosigkeit Gefühle und Hässlichkeit.
In „36“
von Nawapol Thamrongrattanarit wird auf eine großartige Weise die Angst dieser
Zeit thematisiert. Eine junge Frau macht ein Foto von sich und einem Mann, den
sie attraktiv findet. Sie speichert es auf einer Festplatte, die später kaputt
geht. Verzweifelt versucht die Frau die Festplatte reparieren zu lassen, weil
sich dort die einzige Erinnerung an den Mann befindet. Früher hatte der zu ihr
gesagt, dass sie die Augen benutzen solle statt zu fotografieren. Vor kurzem
konnte ich im Kunsthistorischen Museum in Wien begutachten wie Menschen Gemälde
von Albrecht Dürer fotografierten ohne sie anzusehen. Das zweite Bild hat schon
lange gegen das erste Bild gewonnen. Film muss das zweite Bild deshalb
angreifen. Vor jede seiner 36 statischen Einstellungen stellt Thamrongrattanarit
einen Satz, der das Bild, das laut eigener Aussage Fotografien ähneln soll
ähnlich einem Facebook-Kommentar in eine Relation setzt. Das Bild alleine
reicht nicht mehr. Viele Regisseure reagieren darauf mit einer Art Nostalgie,
erwecken vergangene Bilder und Genres zum Leben wie James Gray in „The
Immigrant“, Quentin Tarantino in „Django Unchained“, Arnaud Desplechin in „Jimmy
P.“, Derek Cianfrance in „The Place Beyond the Pines“ oder Noah Baumbach mit „Frances
Ha“. Es gibt noch einige mehr, aber es bleibt festzuhalten, dass ihr Kino dem
Programm großer Theaterhäuser entspricht. Dort kann durchaus das ein oder
andere Glanzstück dabei sein und Kino kann dort zurück in eine andere Zeit
geführt werden, in der vielleicht manches besser war, aber es verliert seinen
Bezug zur Realität und damit auch ungemein an Wichtigkeit und Notwendigkeit. Es ist die Masturbation eines sterbenden
Kinos, die dort betrieben wird. Und auch wenn dieser Satz vielleicht etwas
reißerisch daherkommt, so muss man doch festhalten, dass nichts dadurch
gewonnen wird für den Zuseher außer ihm dieses ausgelutschte Nostalgie-Gefühl
in die Augen zu drücken, auf das man manchmal mehr und manchmal weniger fliegt.
Vielleicht bewegt sich dort auch zu viel. Wie in „Gravity“ von Alfonso Cuarón,
der 3D zu einem weiteren spektakulären Tiefpunkt führt, weil Technik vielleicht
ein Grund ist ins Kino gehen, aber kein Grund sich zu erinnern. Und wenn die
Festplatte kaputtgeht, wird nichts mehr davon übrig sein. Ein konsequenter Film
könnte da „La jetée“ von Chris Marker sein. Eine apokalyptische
Aneinanderreihung von Fotografien, die mit der Zeit machen, was sie wollen,
scheint mir prädestinierter für unsere Zeit zu sein als fast alles, was heute
produziert wird.
In „The Zero Theorem“ taucht
der Protagonist in virtuelle Welten ein. Gilliam versteht es dabei lediglich
unsere Zeit abzubilden, kaum jedoch sie zu durchdringen. Bei ihm ist alles ein
wilder Zirkus aus Eindrücken, das Kino von Gilliam liefert keinen Stillstand
aus dieser Bewegung, keinen Blick darauf, sondern einen Blick aus seiner Mitte.
Wie ein Kriegsfilm inmitten des Krieges scheint mir das ein Film zu sein, den
keiner braucht, der aber in einiger Zeit als Portrait einer Generation an Bedeutung
gewinnen könnten. Es ist schwer ein Kino über die digitale Zeit zu machen.
Große Regisseure hatten früher die Möglichkeit mit Industrie und Kirche
Bewegung und ein sakrales Element in ihre Filme zu bringen, das irgendwie dem
Wesen des Films völlig entsprach. Aber die Kirche wurde vom Internet abgelöst
und damit wurde in vielerlei Hinsicht auch die Bewegung aus dem Leben genommen.
Viele Filmemacher verweigern die zum Teil wirklich unästhetischen Blicke auf
Mobiltelefone oder Laptops und trotzdem muss die Gegenwart im Film am Leben
bleiben, um es nicht zu einem nostalgischen Randmedium werden zu lassen. (Ich
spreche von der filmische Erzählung, nicht vom Material.)
In Ansätzen wie „36“
zeigt sich die extreme Kapazität eines modernen Kinos. Jedenfalls sind es
minimale Bewegungen, die den Zuseher in große Geschwindigkeiten versetzen. Die
kleinen Gesten und Töne prägen Julia Loktevs „The Loneliest Planet“, die
langsamen Entscheidungen beschleunigen Asghar Farhadis „Le passé“ bis man kaum
mehr atmen kann. In einem perfiden Twist scheint die Lustlosigkeit an der
Bewegung auch die Protagonisten selbst getroffen zu haben. Sie verlassen ihr
Auto nicht wie in „Locke“ von Steven Knight und so verweigern die eigene Flucht
wie in „Tore tanzt“ von Katrin Gebbe oder „Tom à la ferme“ von Xavier Dolan.
Ihr Stehenbleiben ist der Schrei nach mehr Bewegung, ihr Warten drückt die
Sehnsucht nach Gefühl aus. Es ist ein Kino, das „Take this Waltz“ von Leonard
Cohen hört ohne sich wirklich auf den Tanz einzulassen. Aber für die Charaktere
lauert dort eine große Gefahr, die für den Zuseher zur Bewegung wird. Und wenn
der Vater in „Medeas“ plötzlich aus dem Teich springt und die
Bewegungslosigkeit durchbricht, dann ist das Kino ganz bei sich.
Passt ja zur "Bewegungslosigkeit" Deines letzten Kurzfilms. Die Tanzende im ansonsten ruhenden Garten, das lange Verharren an der roten Ampel, die Szene danach, in der nur Worte "passieren".
AntwortenLöschenJa, ich nehme die Welt-insbesondere in meiner Generation-auch so wahr. Wir sitzen und überlegen uns, was wir fühlen und wer wir sind. Da kommt jede Bewegung als ein Schock und es passiert nicht viel. Natürlich mag man das als Zuseher manchmal als langweilig empfinden, aber wenn man an einem Kino interessiert ist, das etwas über die Realität oder Gegenwart aussagt, dann finde ich, dass man diesen Weg gehen musst. Ist aber natürlich eine subjektive Wahrnehmung. Ich fühle mich jedenfalls den Filmemachern nahe, die ähnlich zu denken scheinen. Auch wenn-gerade in Deutschland-dieses "denkende" Kino von der Masse oft verpöhnt wird. Auf der anderen Seite bin ich noch in einem Findungsprozess und kann auch nur das in Film umsetzen, was ich selbst wahrnehme.
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