Montag, 9. September 2013

Sacro GRA von Gianfranco Rosi und Pine Ridge von Anna Eborn



Das Filmfestival in Venedig hat seinen Hauptpreis an die Dokumentation „Sacro GRA“ von Gianfranco Rosi vergeben. Der Film erzählt kleine Geschichten, die sich rund um die Ringautobahn Roms abspielen, er beleuchtet das Leben von Außenseitern, schrägen Vögeln, mit der Existenz kämpfenden und auch ganz durchschnittlichen Personen. Rosi geht es dabei mehr um Vielfalt als um einen größeren Zusammenhang, es soll ein Querschnitt durch das Leben sein und ein, wie von der Presse und dem Publikum mehrfach betont wurde, exemplarisches Bild für die Gesellschaft der italienischen Hauptstadt. Und genau hier beginnen meine Probleme mit dem Film, weil sich für mich eben keinerlei Normalität dort erzählt, sondern ich einen Film gesehen habe, der versucht hat, die außergewöhnlichsten Figuren zu finden, die irgendwo entlang dieser Straße leben, ohne jeden Zusammenhang, ohne jede Zusammenführung, aber so gar nicht essayistisch, sondern mit dem prätentiösen Versuch eine Geschichte zu erzählen, ja eine Gesellschaftsanalyse zu erstellen. Zugegebenermaßen sind die außergewöhnlichen Menschen interessant und in den Charakteren findet sich auch tatsächlich die große Stärke des Films, aber mit einem Querschnitt der Gesellschaft, selbst mit der von Rom kann das nur wenig zu tun haben. Statt sich selbst zurückzunehmen und seine Figuren bei ihren Tätigkeiten zu beobachten, lässt Rosi sie ständig in langen und merkwürdig gescripteten Passagen, die zudem in einem Framing eingepfercht sind, das keine Echtheit erlaubt (Beispielsweise wird ein Naturforscher oft von schräg unten geflmt, sodass sein Kopf am rechten unteren Bildrand ist und er sich auf keinen Fall bewegen dürfte.), über alltägliche Probleme sprechen. Dabei findet er schöne und schrullige Momente wie etwa den alten Fischer, der sich über Statistiken zur Wasserqualität echauffiert  oder den Aristokraten, der von seinem Fenster aus einen gegenüberliegende Villa inspiziert. Es muss großer Respekt an Rosi gezollt werden, dass er ein sichtbares Vertrauen zu seinen Figuren aufgebaut hat, dass er praktisch unsichtbar in deren vier Wänden stehen kann. 


Manchmal verliert „Sacro GRA“, dann die titelgebende GRA völlig aus den Augen. Nicht immer ist der Einfluss der Straße wirklich bewusst, Rosi lässt sich davon treiben und jede kleine, irre, dramatische Geschichte ist ihm wichtiger als ein größerer Rahmen. Doch weder baut er mit dieser Methode ein größeres Gefühl auf, noch gewinnt er inhaltlich. Vielmehr wirkt sein Film, auch stilistisch wie eine Aneinanderreihung oder Fragmentierung einer besseren TV-Reportage. Die unscharfen Lichter der Autobahn bei Nacht geben ein genauso klischeehaftes Bild ab wie die Tatsache, dass er mit einem Krankenwagen beginnt, die Idee eines Studienanfängers, wenn man ihm die Aufgabe gibt besondere Menschen auf einer Stadtautobahn zu finden. Es mag sein, dass man Italiener sein muss, um die Nuancen und Besonderheiten des Films entsprechend würdigen zu können, es kann aber auch sein, dass man dieses Jahr Italiener sein musste, um das Festival zu gewinnen. Ich habe eine durchschnittliche Dokumentation gesehen.


Weitaus mutiger, tiefgründiger und aufregender gestaltet sich dagegen „Pine Ridge“ von Anna Eborn. Dieser dänische Film kam mit einer ziemlich ähnlichen Prämisse daher. Eborn beschäftig sich mit der Pine Ridge Indian Reservation. Sie nimmt also ebenfalls einen Ort als Ausgangspunkt ihres Films, aber im Gegensatz zu Rosi erzählt sie diesen Ort nicht mit selbstwichtiger Art, die irgendeine künstliche Sprache auf den Film presst, sondern nimmt sich zurück und beobachtet. Schon paradox, wenn man bedenkt, dass die GRA eigentlich ein banaleres, alltäglicher Thema ist, als die nicht ganz ungefährliche Auseinandersetzung mit einem Reservat in den Vereinigten Staaten. Gefährlich, weil man schnell in politische Botschaften fallen könnte. Nicht so Eborn, die sich tatsächlich auf das bloße Anhören und Ansehen ihrer Charaktere beschränkt, die Leben sucht und dabei auf eine Perspektivlosigkeit und Leere stößt, zu der sich jeder Zuseher selbst eine Meinung bilden kann. Ästhetik wird bei ihr nicht dem Inhalt untergeordnet, sondern wird ein Teil von ihm. Die Geschichten zeichnen ihre eigenen Geschichten in den vielen Nahaufnahmen, die Landschaft und ihre Grenzen werden im Off erzählt, etwa in der wunderbaren Szene, in der zwei junge Männer zusammen mit einem alten Waffennerd in der Wildnis stehen und schießen. Wohin wird nie gezeigt, es wird von einem Baum gesprochen, alles was zählt ist die Lautstärke der Schüsse und dann heißt es „There must be some kind of way out of here“. Manchmal verlässt „Pine Ridge“ leider diesen Weg und zwar immer dann, wenn er die Figuren in Voice Over-Passagen von ihrem Schicksal erzählen lässt. Es ist zwar vielsagend, wenn in diesen Abschnitten keine Bewegung bei den Figuren zu sehen ist, aber hier wird trotzdem etwas zu viel Story und Sentimentalität in das ansonsten zurückhaltende Drama gerührt. Stellenweise führt die essayistische, nie auf Geschichten sonder immer auf kleine Ausschnitte fokussierte Erzählweise des Films dazu, dass man nicht das Gefühl hat einer Dokumentation beizuwohnen. Beinahe glaubt man dann in einem Spielfilm beispielsweise von Kelly Reichardt zu sitzen. Statt also die Figuren in einen Käfig von Erzählungen und künstlerischen Auflösungen zu sperren, versteht es Eborn ihren Ort wirklich zu durchdringen. Jugendliche beim Baden, ein junger Mann, der an einer Tankstelle sein Zelt verkaufen möchte, um sich Benzin leisten zu können, ein kleines Mädchen, das die Babykatzen im Haus quält.



Der Hauptpreis ist nicht deshalb ein Grund zum Ärgernis, weil der Film polarisieren würde oder dergleichen. Er ist es, weil der Film aus filmischer (im Gegensatz zu gesellschaftlicher-nationaler) Sicht völlig irrelevant scheint. „Sacro GRA“ bietet nichts neues, nichts aufregendes, nicht mal besonders gutes. Es ist natürlich ein Statement einer Dokumentation den Goldenen Löwen zu geben, aber selbst auf dem eigenen Festival 2013 konnte man da, zum Beispiel Out of Competition mit „Pine Ridge“ besseres, mutigeres und innovativeres sehen.

TRAILER


Trailer Pine Ridge

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