Einen quälenden Blick in die dunklen Abschnitte der
menschlichen Seele wirft Katrin Gebbe in ihrem aufschreienden Film „Tore tanzt“,
der mit seiner Einladung nach Cannes hoffentlich vielen in Deutschland einen
Weg aufzeigt anspruchsvolles, alternatives und individuelles Kino jenseits der
Berliner Schule (die es ja nicht gibt) zu machen. Das paradoxe daran ist, dass „Tore
Tanzt“ eigentlich ein Fernsehspiel ist. Das sieht man dem Film auch an in
seiner deutschen Schrebergartenästhetik. Aber die Vorbilder von Gebbe liegen
sicherlich nicht im gewöhnlichen TV-Brei. Ein langsamer Herabstieg in
Erniedrigung und perverse Machtspiele vollziehen sich, als der junge „Jesus
Freak“ Tore per Zufall an den Gartensiedler Benno gerät und beginnt bei ihm zu
leben beziehungsweise beginnt bei ihm leben zu dürfen. Was Benno mit dem
gläubigen Einzelgänger in der Folge veranstaltet, ist Teil dieser Studie
sadistischer Tendenzen.
Das Frische an diesem Film ist seine Furchtlosigkeit vor den
menschlichen Extremen. Damit ähnelt „Tore Tanzt“ in gewisser Weiße Philip Kochs
„Picco“, der eine ähnliche Spirale der Gewalt und Machtausübung in einem
anderen Mikrokosmos, den des Gefängnisses entfaltete. Die Vorbilder von Gebbe
liegen in diesem Kino der Provokation, das immer auch ein Kino der Konsequenz
ist. Sie hat einen Film gemacht, der einem im positivsten Sinne mit voller
Wucht in den Magen schlägt. Pasolini, Von Trier oder Miike stehen hier wohl
Pate. Die Gewalt vollzieht sich in der Zeit bei Gebbe. Keine Schnitte oder
Schwenks, die einen in die (zurecht) vielgerühmte eigene Imagination fliehen
lassen, sondern ein beinhartes Zusehen, das einen reflektieren lässt über menschliches
Verhalten und das ständig fragt, wie man sich selbst wohl verhalten würde. Die
Gartenlandschaft dient dabei gleichermaßen als Keller und als Schaufenster der
Gesellschaft. Sie ist weit genug weg, um wahrgenommen zu werden, bietet aber
ein System, das genauso in der
herkömmlichen Stadt/Gesellschaft funktioniert. Die große Leistung im Drehbuch
ist, dass das Verhalten zu keiner Zeit unrealistisch wirkt, selbst dann nicht,
wenn es in die absoluten Extreme geht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist
der Film auch eine psychologische Studie. Allerdings spielt der Film in
wunderbarer Weise mit einer Parabelhaftigkeit, die Anklänge in der
Lebensgeschichte von Jesus findet. Auf eine merkwürdige Art hilft Tore seinen
Mitmenschen, lebt ein nach konservativ-christlichen Standards vorbildliches
Leben. Wenn er geschlagen wird, dann hält er auch die andere Backe hin und am
Ende wird er im übertragenen Sinne gekreuzigt. Ganz so einfach ist es zwar
nicht, aber Parallelen sind nicht zu übersehen. Der Jesus unserer Zeit wird
nicht als solcher erkannt. Er wird belächelt oder niedergemacht. Ein unheimlicher
Assoziationsspielraum eröffnet sich, den Gebbe mit der Betitelung ihrer Kapitel
in „Glaube“, „Liebe“ und Hoffnung“ auf die Spitze treibt. Damit ähnelt der Film
auch Audiards „Un prophete“, der sich wohl aus politisch-religiösen Gründen
immer einem Bekenntnis zur Parallelität mit der Geschichte des Propheten
Mohammeds verweigerte in Interviews.
Als später auch die
Frau von Benno und ihre Freunde in die brutalen Spiele mit Tore einsteigen,
weiß man, dass es kein Entkommen aus diesem Film gibt. Fluchtartig verließen Menschen
das Kino. Ein großes Lob, wenn man sich ansieht bei welchen Regisseuren diese
Reaktion sonst so auftritt. Gaspar Noé und Lars von Trier sind zwei Regisseure,
die in den letzten Jahren ähnliche Reaktionen hervorgerufen haben in Cannes. Es
handelt sich nämlich um alles andere, als eine reine Provokation der
Provokation zur Liebe; man spürt in jedem Moment, dass etwas über menschliches
Verhalten vermittelt wird. Welche Vorstellung Leute vom Kino haben, die sich
darüber aufregen, dass es ihnen in einem Film nicht gut geht, ist mir ein
Rätsel. Soll es immer um Humor, Harmonie und Weltflucht gehen? In der
Darstellung von Menschen wird man unweigerlich auf dunkle Seiten stoßen. Sie
wettern dann „Skandal“ und leugnen damit zur gleichen Zeit die Kraft des Kinos,
wie sie Werbung dafür machen. Muss das sein? Ja, denn Kino ist mehr, als dramaturgisch
komponierte Glückseligkeit, Kino kann ein Spiegel sein, ein Röntgengerät und im
besten Sinne ist „Tore tanzt“ ein Röntgenbild, das sich traut Dinge zu
offenbaren, die eigentlich versteckt werden. Am Ende gibt es tatsächlich „Hoffnung“,
aber diese ist durchdrungen von jener realistischen Grausamkeit, die den ganzen
Film auszeichnet.
Trotz einer spürbaren bildgestalterischen Limitierung, die
sich auch nicht in eine besondere Sprache transformiert, wie etwa mit der
engen, Steadycam-Gefängnisästhetik in „Picco“, erzählt Gebbe mit filmischen
Mitteln. Die Isolierung von Tore wird mit einem hohen Schärfekontrast betont,
häufig ist der junge Tore von hinten zu sehen und seine komplette Umgebung in
völlige Unschärfe getaucht. Die pulsierende, basslastige Musik erzeugt vom
ersten Moment an eine bedrohliche Stimmung; in kleinen, scheinbar zufälligen
Momenten erzählt Gebbe etwas über ihre Charaktere, etwa wenn das Tatoo von
Benno kurz zu sehen ist. Das Casting ist der Kern dieses Films, denn Julius Feldmaier
gibt den Jesus-Punk alleine schon durch sein hageres, blasses, immer um ein
lächelnd bemühtes Äußeres mit erstaunlicher Glaubwürdigkeit. An dieser
Glaubwürdigkeit hätte der ganze Film scheitern können, es ist die schmale Linie
zwischen Trash/purer Provokation und Tiefsinn, wenn man so will. Und Gebbe
tanzt gekonnt entlang der Linie.
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