Freitag, 17. Mai 2013

Stimmen



Vor einigen Jahren sah ich den Film „Revanche“ von Götz Spielmann. Ich sah ihn und ich hörte ihn und als der Abspann zu sehen war, wurde mir bewusst, dass ich den Film als wunderbar empfand. Zunächst war mir nicht ganz klar weshalb. Doch immer, wenn ich über den Film sprach oder nachdachte, immer wenn ich versuchte mir klar zu werden, was genau mich so daran faszinierte, hörte ich die Sprache, die Stimmen der Charaktere in meinem Kopf erklingen. Es ist nicht mal so, dass in „Revanche“ ein besonderes Augenmerk auf die Stimme gelegt werden würde, etwa im Sinne einer artaudschen Grausamkeit, einem Schreien oder besonders markanten Stimmen (die Schauspieler natürlich häufig mitbringen), sondern einfach die Echtheit dieser Stimmen dort, die scheinbar in ihrer Sprache daherkamen, die atmeten, wenn sie rannten und die mit der Körperlichkeit des Films eine Einheit bildeten. Das war vor fünf Jahren und ich hatte bis dahin, wie es in Kleinstadtkinos halt so möglich ist, die meisten Filme in einer Synchronfassung gesehen. Was für eine vergeudete Zeit. Inzwischen sehe ich nur in absoluten Notfällen Filme in einer synchronisierten Version, aber warum? Wer sich der Echtheit von Stimmen im Kino, der Zusammengehörigkeit von Körper und Sprache entzieht, der entzieht sich meiner Meinung nach komplett dem Kino. Kino ist in erster Linie Bild und Ton. Wenn ein großer Teil des Tons, nämlich die Stimmen durch etwas anderes ersetzt werden, wird der ganze Film verändert. Es ist eine sehr bedenkliche Situation und es ist charakteristisch für die deutsche Kinolandschaft mit welcher Gleichgültigkeit hier akzeptiert wird, dass es überhaupt so etwas wie Synchronfassungen im Kino gibt. 


Man kann ja auswählen, es gibt ja auch immer die Originalfassungen, heißt es da von jenen, die sich dann ganz gerne in die Synchronfassungen setzen. Nur, wenn der größere Teil der Kinos (der viel größere Teil) Filme auf Deutsch übersetzt, dann ist das ein Widerspruch mit dem Kino an sich. Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Problem ist das größere Problem als das Problem selbst. Wen interessiert das Kino? Viele und niemand, solange man selbst sein bestes Programm zusammenstellen kann beziehungsweise selbst darin und damit überleben kann. Es gibt zwei Argumente, die immer wieder gegen Original- oder Untertitelfassungen vorgebracht werden. Das erste ist, dass man sich bei synchronisierten Fassungen mehr auf die Bilder konzentrieren kann, weil man nicht ständig gezwungen wird mitzulesen. Ich habe dem mehreres entgegenzuhalten. Erstens ist es eine Sache der Gewöhnung, der Übung. So wie man erst mit der Zeit lernt eine spezifische Filmsprache und sei sie noch so billig zu verstehen, so lernt man auch mit der Zeit seinen Blick über Bild und Schrift gleichermaßen wandern zu lassen. In den Zeiten der multiplen Bildschirme sollte genau jenes Element eigentlich ein viel kleineres Problem darstellen. Aber dann muss man sich natürlich konzentrieren und wer will sich schon konzentrieren, wenn er doch auch was anderes tun kann, zum Beispiel sich nicht konzentrieren? Das zweite Argument ist, dass es natürlich vielen Menschen hilft Zugang zu den Geschichten zu finden, wenn sie in ihrer Muttersprache gehalten sind. Dem widerspreche ich nicht, genauso wenig wie das hier etwas mit einer Missgunst gegenüber der wirklich beeindruckende Arbeit vieler Synchronsprecher zu tun haben soll. Es darf ein synchronisiertes Kino geben, aber bitte nicht im Kino. Wer die Bilder möglichst groß und den Ton möglichst laut will, wer ein Kinoerlebnis will und wer sich dafür noch ins Kino bewegt, soll Kino auch komplett erleben: Mit seinen Stimmen. Wenn man die Sprache beherrscht und auf die Untertitel verzichten kann, ist das umso besser. Manchmal, insbesondere in asiatischen Filmen mag unserem europäischen Sprachverständnis das etwas schwer erscheinen. Doch schaut man sich zum Beispiel die Filme von Park Chan-Wook auf Koreanisch an, wird man häufig durch die Tonlage und den Stimmfall jene Komik inmitten der Gewalt erkennen, die in den nüchternen deutschen Synchronisationen meist verborgen bleiben. 




Wenn die Stimme plötzlich relevant werden könnte, wie bei Gesang, kommen die Synchrongurus, die sich ihre kleine Industrie aufgebaut haben, um die Filmindustrie damit zu unterstützen ins Schwimmen. Da kommt es schon mal vor, dass es sehr merkwürdige Wechsel im Ton gibt, manchmal hörbar. Wieso wird der Originalton beim Singen so sehr geschätzt, aber beim Sprechen, einem essentiellen Bestandteil jedes Schauspiels so gering gehalten? Dieses glattgebügelte, übersetzte Englisch oder Französisch findet dann amüsanterweise Einzug in viele Drehbücher von deutschen Filmen. Da heißt es dann „Mach das verdammte Fenster auf.“ oder „Hier wohne ich, weißt du?“. Und am Ende zählt nur die Narration und das man auch versteht, was da passiert. Es muss doch langweilen, es muss doch sterben, wenn es nur darum geht zu verstehen und nicht die Stimme zu fühlen, ihre Tonlage zu verstehen. Wer kennt es nicht, dass er einen Menschen im sogenannten echten Leben sympathisch findet oder nicht, sich hingezogen fühlt oder nicht, aufgrund der Stimme. Im österreichischen Kino existiert diese Echtheit der Stimmen vielmehr als im deutschen Kino. Viele deutschen Filme wirken derart glattgebügelt, dass man sie lokal schon gar nicht mehr verorten kann. Und wenn jemand einen Kinofilm im Dialekt dreht wie Markus H.Rosenmüller, dann wird das gleich zur Marke und verkauft und auf seine Art wieder glattgebügelt. Dagegen scheinen die Dialekte und Stimmen in Österreich tatsächlich aus den Charakteren zu kommen. Wer sich Filme von Ulrich Seidl oder Wolfgang Murnberger ansieht, könnte erahnen worauf ich anspiele. Dabei geht es nicht zwangsläufig um Dialekt. Es geht um Direktheit und Körperlichkeit. Ich habe Christian Petzolds Eröffnungsszene in „Yella“ als einen Versuch verstanden die Körperlichkeit von Spiel und Stimme in seinen Film zu bringen, später verschwinden die Stimmen wieder (womöglich gewollt) in der kalten Anonymität der Konferenzräume und Autos. In „Der Räuber“ von Benjamin Heisenberg fühlt man die Stimmen auch, gerade in den intimeren Szenen scheint das Atmen die Stimmen fast zu überlagern und der Film schreit uns an in den Stimmen mehr zu verstehen, als in den Worten. Hat Matthias Glasner in „Der freie Wille“ und „This is love“ noch jene Körperlichkeit erreicht, scheint in „Gnade“ die Schönheit des Ortes die Stimmen seiner Darsteller weichzuspülen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Stimme ins Theater verbannt wurde. Bei Bettina Oberlis „Tannöd“ rennt ein junger Mann durch das Dorf und schreit. Es läuft einem kalt den Rücken runter. So kann eine Stimme wirken. Es liegt nicht an den Schauspielern oder so etwas wie einem deutschen Schauspielstil. Häufig, so mein Eindruck aus einer unterlegenen Distanz, fehlt es am Mut Lücken zu lassen, unsauber zu sein. Tondesigner, die ihre Arbeit ohne künstlerischen Anspruch ausführen, um am Ende jene technische Sauberkeit zu garantieren, für die sie ihren nächsten Auftrag bekommen. Sauber arbeiten ist das Motto. Bitte macht das im Fernsehen. 


Antoine Doinel steht vor dem Spiegel und wiederholt seinen Namen. Seine Stimme wirkt verspielt, schüchtern, angespannt. Jemand hat geschrieben, dass Jean-Pierre Léaud immer zugleich mit seinem Schauspielpartner und mit dem Publikum spielt. Er/Sie hatte Recht. John Cassavetes steht in seinem „Opening Night“ auf der Bühne und beginnt zu lachen. Es schallt so laut und man verliert den Bezug dazu, ob es ein echtes oder ein falsches Lachen ist. Natalie Portman ruft in „Black Swan“ bei ihrer Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie die ersehnte Hauptrolle endlich ergattert hat. Ihre Stimme versagt, sie kämpft mit den Tränen. Weinen, Lachen, Schreien, Jammern, Atmen, Stöhnen. Eine affektive Reaktion übersetzt sich in ihrer Wirkung nur, wenn sie echt ist. Es ist eine Respektlosigkeit gegenüber dem Schauspiel und eine Respektlosigkeit gegenüber dem Kino, wenn man einen Film synchronisiert, wenn man den Stimmen nicht ihre Fehler und Unebenheiten lässt. (Und ja ich weiß, dass Synchronsprecher versuchen von sich selbst Unebenheiten in die Stimmen zu bringen. Nur wo ist ihr Körper?)

Weinen

In „Twentynine Palms“ von Bruno Dumont sitzt Jekaterina Golubewa in einem Restaurant am Tisch und beginnt plötzlich ohne Vorwarnung zu weinen. Ihr Schluchzen durchdringt einen dabei und man spürt ein tiefes Leid in ihr Schlummern; ein Ankämpfen und Loslassen; hier ist Weinen ein Kampf und Resignation zugleich, der einen mit einer gewissen Plötzlichkeit überrascht, die aus dem tiefsten Inneren ihres Körpers zu kommen scheint.

Lachen

In „Husbands“ von John Cassavetes arbeitet der Regisseur selbst als Zahnarzt. Als er eine Frau untersuchen will, offenbart diese ihm ihre Angst und beginnt daraufhin immer wieder zu lachen, wenn du Cassavetes versucht sie zu untersuchen. In ihrem Lachen liegt tatsächliche Lockerheit und Humor, aber auch Angst und Verunsicherung. Außerdem löst die körperliche Reaktion aus, dass auch Cassavetes lachen muss und dadurch entsteht zwischen den beiden eine Verbindung, die über das gewöhnliche Arzt und Patient Verhältnis hinaus geht.

Schreien

Zu Beginn von „The Others“ von Alejandro Amenabar erwacht Nicole Kidman aus einem Schlaf und schreit so entsetzt, dass dieser Schrei im Körper der Zuseher bis zum Ende des Films und sogar darüber hinaus, weiterwirkt. Ein Schrei, der die ganze affektive Wirkung des Films bündelt und der weit mehr Raum für Interpretationen liefert, als der Plot selbst.

Jammern

Am Ende von „Epidemic“ von Lars von Trier treffen die Schreie einer Frau den Zuseher dort, wo kein Wort und kein Twist einen jemals treffen können. Ihr Klagen und Jammern, das mal ein Weinen ist, mal ein Schreien scheint ein Hilferuf zu seiner der über jegliche Dramaturgie hinausragt. Hier geht es um die Erfahrung einer Körperlichkeit, fast wirkt es so, als stülpe Von Trier seiner Darstellerin in dieser Szene ihr Inneres nach Außen.

Atmen

Wer Valeria Bruni Tedeschi in der ersten Sequenz in „5x2“ von François Ozon beim Abschiedssex mit ihrem Exmann atmen hört, der spürt so viel mehr, als das bloße Bild vermitteln vermag. Routine, Nähe, Anziehung, Ekel, Hass und Liebe…alles ist Teil ihres Rhythmus, ihres stärker und schwächer werdenden Atmens.

Stöhnen 

In „Pola X“ von Leos Carax stürzen sich Guillaume Depardieu und Jekaterina Golobewa derart lustvoll aufeinander, dass ihr zwischenzeitliches Stöhnen auf merkwürdige Weise den Sexakt zu unterbrechen scheint. So als würde er, gerade in seiner Rohheit und Nacktheit, darin erinnern, dass es sich womöglich um ein Geschwisterpaar handelt; hier wird echte Berührung in einen Ausruf verpackt. 

Zittern

Wenn der Lehrer in „Entre les murs“ von Laurent Cantet von seinen Schülern wiederholt gefragt wird, ob er schwul sei, antwortet er mit einer derart zittrigen Stimme „No“, dass man nur durch den Tonfall einen ganz neuen Film, einen Moment der Freiheit erspürt, der die Dramaturgie eben aus den Mauern des Klassenzimmer herausspringen lässt und uns dort einen Menschen statt eines Lehrers präsentiert.

Vielleicht mag der ein oder andere Textanalytiker sich fragen, wozu diese angriffslustigen Formulierungen zu Beginn gut sein sollen und wo denn bitte so etwas wie eine Argumentationsstruktur in diesem Eintrag zu finden ist. Vielleicht habe ich aber auch bewusst Unebenheiten gelassen, damit meine Stimme eine Chance hat durch die leeren Worte, die hier immer versuchen Bilder zu beschreiben, hindurch zu dringen.

2 Kommentare:

  1. Leider kann man nicht einfach die OV im Kino wählen, wenn es kein Kino gibt, welches diese zeigt. Das ist schon ein Problem.

    Was die angesprochene Sauberkeit angeht, so muß man sich auch erstmal gewahr machen, daß vielleicht gar nicht jeder Wortfetzen verstanden werden muß und nicht alles dazu gedacht war, den Zuschauer in kristallklarer Aussprache zu erreichen. Ich hörte kürzlich gerade wieder John Ford sagen, es seien die Augen. Ausdruck übermittelt Film nicht zwingend über die Aussprache. Laut Hitchcock wird deshalb ein Film auch überall verstanden. Manchmal hat er damit recht.

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  2. Was für ein großartiger Text! Spricht mir absolut aus der Seele. Die Synchron-(Un)Kultur in Deutschland ist zum Verzweifeln: als OmU/OV-Anhänger wird man in Deutschland oft entweder als exotischer Freak von einem anderen Planeten oder wahlweise als intellektuell arroganter und selbstverliebter Kunstsnob abgekanzelt. Man steht immer unter Rechtfertigungsdruck. Ich habe zwar auch schon zwei Artikel darüber geschrieben, aber die erhoffte Anti-Synchro-Revolution ist trotzdem ausgeblieben, selbst in meinem Bekanntenkreis (dafür gab‘s beim ersten Text ordentlich Stunk in den Kommentarzeilen).
    Gerade die Aspekte des Atmens und der Unsauberkeiten finde ich sehr interessant, weil ich die bislang so noch nicht wirklich bewusst in diesem Kontext wahrgenommen hatte.
    Andere Sache: „Jugend ohne Film“ ist ein toller Blog mit vielen anregenden Texten voller unentdeckter Aspekte (u. a. eben der Beitrag zu Atmen bei Jacques Audiard). Weiter so!

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