Der geöffnete Mund von Adéle taucht immer wieder auf während
der drei Stunden im Palme d’Or-Gewinner „La vie d’Adèle“ von Abdellatif
Kechiche. Es ist der Bezugspunkt für die Kamera. Diese junge Frau, der man den
ganzen Film folgt, der man folgen will. Man saugt sie förmlich auf: Ihre Worte,
ihre Gesten, jede Bewegung. Die junge Schauspielerin Adèle Exarchopoulos
liefert eine große, völlig furchtlose Leistung ab in der Rolle der
titelgebenden Figur. Sie wirkt wie völlig verloren in ihrer Welt, in ihrem Körper, im Film und in
ihrer Liebe.
Bedeutende Schriftsteller haben sich daran versucht in Worte
zu kleiden, was es bedeutet sich zu verlieben. Selten hat ein Filmemacher mit
einer solchen Direktheit und Offenheit Bilder für dieses Gefühl gefunden. „La
vie d’Adèle“ funktioniert über Identifikation. Diese wird nicht hergestellt
über stupide Hintergrundgeschichten oder typische Vergangenheitsbewältigungen,
wie das im amerikanischen Kino derzeit sehr stark in Mode ist, sondern über die
genuinen Stilmittel des Films selbst. Zum Beispiel durch die Länge der Einstellungen, die uns erlauben
die Achterbahnfahrt der Emotionen tatsächlich mitzuerleben während sie
geschehen. Statt durch Schnitte und Musik eine Emotion vorzukauen, zeigt
Kechiche die Personen, die die Gefühle erleben in ihrer ganzen Verlorenheit, in
ihrer ganzen Ambivalenz und Menschlichkeit. Die hellen Bilder wirken rau und
doch schön, häufig wird mit Gegenlicht gearbeitet; trotzdem wirkt alles spontan,
die Kamera sucht Momente, kleine Details. In Großaufnahmen werden häufig die
gleichen Einstellungen aufgegriffen, wie etwa der geöffnete Mund von Adèle. Der
suchende Blick der Kamera entspricht dem der Neugier, wenn man sich frisch
verliebt hat, die Oberfläche schmilzt dahin und Kechiche nähert sich in einer
völlig entblößten Art und Weise der Essenz eines unbeschreiblichen Gefühls. Die
Farbe Blau (der englische Titel „Blue is the warmest colour“ nach der gleichnamigen Comicvorlage) als Leitmotiv:
Vor allem in den Haaren von Emma, gespielt von einer völlig verändert Léa
Seydoux, die durch ihre Blicke mehr erzählt als ganze Monologe in anderen
Liebesfilmen.
Die reale Art der unsimulierten Sexszenen bedeutet eine
Verschmelzung von Liebe und Lust, die in vielen anderen Filmen nicht gewagt
wird. Normalerweise gibt es entweder die Liebe, was in Filmen sehr oft
Blümchensex oder einen eleganten Schnitt oder Schwenk bedeutet oder eben Lust, was Erotik, Gewalt und
Körperlichkeit bedeutet. In „La vie d’Adèle“ gibt es beides zugleich. Er
versteht es die Lust als Teil jener Liebe zu inszenieren, zu der sie in vielen
Fällen einfach auch gehört. Dabei zeigt er die beiden Frauen, insbesondere, bei
ihrem ersten gemeinsamen Sex in all ihren Emotionen, ihrer Lust, ihrer
Körperlichkeit, ihre Schüchternheit und Dominanz. Nichts ist geschnitten,
nichts ist gefaked. Es ist einfach echter Sex und trotzdem ist er himmelweit
davon entfernt pornografisch zu sein. Ketiche wahrt Distanz, nicht aber aus
Verlegenheit, sondern um die Verschmelzung zweier Körper in ihrer Ganzheit
einzufangen. Kurz nach der ersten Sexszene folgt auch schon die zweite. Am
Anfang einer neuen Beziehung steht wie so oft die Körperlichkeit im
Vordergrund. Umso grausamer, wenn diese kurz darauf nicht mehr gegeben ist. In
gewisser Weise bildet der Film damit das Pendant zu einem anderen großen Film
über Liebe, Wong Kar-Wais „In the mood for love“, der Liebe als versteckt
inszeniert. Eine Gesellschaft, die endlich aufgewacht ist, kein Grund zum
Versteckspiel. Die politische Bedeutung dieser Offenheit mit homosexuellen
Beziehungen zu analysieren, überlasse ich anderen. Mich interessiert die
filmische Brillanz.
Normalerweise sind Liebesfilme eher durchschnittliche Unterhaltungsware
mit klischeehaften Erzählungen, Kitsch und glattpolierten Bildern. Die großen
Filme über Liebe sind die, die sich mit dem Scheitern, dem Verschwinden oder
der Abwesenheit von Gefühlen beschäftigen, wie Antonionis „L’eclisse“ oder „Hiroshima,
mon amour“ von Alain Resnais. Das Geheimnis, von „La vie d’Adèle“, der eben
himmelweit davon entfernt ist sich in irgendwelchen Mustern zu verlieren, könnte
in seiner Natürlichkeit liegen. Hier wird nichts als „Liebe“ bezeichnet, sie
passiert einfach. Außerdem zeichnet sich das Drehbuch durch eine extreme
Beobachtungsgabe aus. Die Dialoge treffen häufig jenen vibrierenden Ton, den
man als Gefühlsduselei bezeichnen könnte, wenn man nicht involviert ist und als
pure und echte Emotion, wenn man mitten im Gefühl lebt. Und der Film wirft
einen ziemlich schnell in diese Gefühlswelt. Der Rhythmus von Ketiche ist kein
langsamer, dennoch nimmt er sich Zeit. Er weiß, dass sich die Energie eines
Ver- und Entliebens nicht in 90 Minuten erzählen lässt, er lässt seine
Charaktere einmal über die Länge von Kunstwerken sprechen und sein Standpunkt
scheint klar und ist absolut richtig: Man kommt den Charakteren näher, wenn man
mehr Zeit mit ihnen verbringt. Das zeigt einmal mehr, dass es nicht wie bei Smalltalks
mit Filmemachern so üblich palavert wird, die Geschichte ist, die die Länge des
Stoffs bestimmen sollte, sondern das was der Filmemacher und seine Figuren über
und mit der Geschichte zu sagen haben. Ein großer Unterschied!
Am Anfang verlässt Adèle ihr Haus und rennt einem Bus
hinterher. Am Ende geht sie weg von der Kamera. Was man in der Zwischenzeit
erlebt hat, ist tatsächlich passiert.
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