Sonntag, 17. März 2013

Nuri Bilge Ceylan-Regisseur






“I don’t believe in words.”, hat Nuri Bilge Ceylan einmal geantwortet auf eine Frage bezüglich der langen Passagen des Schweigens in seinen Filmen. Worte, die es im kontrastreichen Farben- und Schattenmeer seiner Bilder auch nicht zu geben braucht. Seine Geschichten zielen nämlich auf mehr, als die oberflächliche Sprache seiner Protagonisten. Die Bilder versuchen hinter das Bewusstsein zu blicken. Was die Charaktere sagen, entspricht selten der Wahrheit, es sind aber auch keine direkten Lügen. Es sind einfach Standpunkte aus ihrer unvermeidlichen Perspektive. Sie wollen damit nichts erreichen, es ist einfach nur ihre Art zu (über-) leben. Am Ende seiner Filme steht dann auch oft die völlige Regungslosigkeit im Angesicht einer Welt, die man nicht kontrollieren kann. Der Mensch in einer freien, aber doch limitierenden Natur, blickt hinaus auf die Weite des Meeres wie in „Uzak“ („Distant“) oder „Üç maymun“ („3 Affen“).


Einen Ceylan-Film zu betrachten, heißt auch immer, dass man die Persönlichkeit des Regisseurs mehr als deutlich spürt. Das hat auch mit den Drehmethoden des türkischen Regisseurs zu tun. Insbesondere seine erste Filme „Koza“, „Kasaba“, Mayis sikintisi“ („Clouds of May“) und „Uzak“ hat er mit extrem kleinen Teams umgesetzt, in denen er selbst viele der Jobs übernahm. „Uzak“ wurde zu ganz großen Teilen in seiner eigenen Wohnung gedreht, in der nichts verändert wurde. Sogar das Auto im Film ist Ceylans. Häufig ist auch seine Familie in seinen Filmen zu sehen und er selbst natürlich auch. Charaktere scheinen immer wieder aufzutauchen. Seine Persönlichkeit scheint von den vielen Nahaufnahmen der Gesichter in „Ikimler“ („Jahreszeiten“) fast auf den Zuschauer zu springen; Nahaufnahmen, die enthüllend wirken, aber nicht im Sinne einer Sicherheit. Vielmehr gilt es einen Ceylan-Film zu lesen, in jeder Sekunde. Persönlichkeit, die auch dadurch entsteht, dass sich Ceylan mehr auf die Details fokussiert, als auf das große Ganze der Dinge. Die Wahrnehmung ist eine zutiefst subjektive. Dennoch erlaubt sie einen Zugang; ob man als Westeuropäer allerdings die gleichen Rückschlüsse und Interpretationen zieht wie als Landsmann von Ceylan möchte ich offenlassen. Jedenfalls triefen seine Bilder, etwa jenes von seinem Vater in „Clouds of May“, der an einem Waldrand auf ein aufziehendes Gewitter wartet, vor symbolischem Spielraum. Gleichzeitig sind sie in einem nüchternen Realismus verankert. Im Zentrum seiner Filme stehen oft Widersprüche und Konflikte zwischen Generationen, die aber nur selten offen ausgetragen werden. Die folgenschwere Unzufriedenheit des Sohns in „3 Affen“, das leichtsinnige Spiel mit der Tierwelt in „Kasaba“, der Regisseur, der auf seine Familie blickt in „Clouds of May“. Hinter allem spürt man den persönlichen Blick eines visionären Regisseurs, der sein Medium in der Zeit entfaltet und in der Nähe zu seinen Protagonisten, die er allerdings immer in eine übermächtige Landschaft setzt, wie in „Bir zamanlar Anadolu'da“ („Once Upon a Time in Anatolia“). Dort kommen wir der Figur des Arztes dann am nächsten, wenn sie umgeben von der kalten, windigen und unheimlichen Dürre Anatoliens fast völlig bewegungslos steht. 



In diese Starre fallen die Geräusche Ceylans wie Bojen im Wasser, an denen sich die Charaktere festhalten können und wissen: Ja, die Welt existiert. Dabei kann Ceylan seinen Tarkovsky-Einfluss nicht verbergen, denn wie beim russischen Meisterregisseur sind es vor allem der Wind und seine Folgen, die auf der Tonebene zu hören sind. Ein klapperndes Dach, ein sich im Wind bewegendes Glockenspiel. Ceylan spricht alle Sinne an. So hat man in „Kasaba“ fast das Gefühl tatsächlich zu riechen, als der Lehrer nach einem stinkenden Pausenbrot sucht, man spürt den Kuss auf den schweißgebadeten Gesichtern am Strand in „Jahreszeiten“, diesem letzten Versuch des Mannes etwas zu fühlen, kommt das tatsächlich vermittelte Gefühl gleich. Wer das nicht spürt, wird nichts anfangen können mit den Filmen des Nuri Bilge Ceylan. Eine Realität entsteht, die zu allen Zeiten größer ist, als die Handlung. Und im Zentrum steht immer das Sehen. Was sehen wir und wie sehen wir? Die erste Einstellung von „Once Upon a Time in Anatolia“ stellt genau diese Frage. Und man muss sich auch fragen, ob wir den Bildern trauen können, wenn wir schon den Worten nicht glauben sollen.


Insbesondere „Climates“ atmet in seiner erzählten Entfremdung vor seinen Charakteren und zwischen den Charakteren das Gefühl eines Michelangelo Antonioni-Films. Vielleicht ein zweiter wichtiger Einfluss für Ceylan. Die in existenzialistischer Manier herumwandernder Protagonisten haben selten ein Ziel und selbst wenn sie eines haben, wählen sie nicht den direktesten Weg. Ceylan interessiert sich für die Momente der Leere, in denen man nachdenkt, in denen man verloren ist, wartet und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Ob solche Momente beim einsamen betrachten von „Stalker“ in „Uzak“, beim gedankenverlorenen Blick auf ein Foto wie in „Once Upon a Time in Anatolia“ oder in der Angst eines Kindes vor einem Fehler wie in „Kasaba“ liegt, ist völlig egal. Ceylan zeigt nur das Nötigste. Er lässt dort die Lücken, wo andere Filmemacher erst einsetzen. In diesem salopp bezeichneten Minimalismus liegt auch seine Ähnlichkeit zu Robert Bresson. In einer Szene in „3 Affen“ kommt der Sohn nach Hause. Wir sehen ihn nur von der Hüfte abwärts, er macht sich an etwas zu schaffen. Der Blick auf sein Gesicht wird uns verweigert und er verschwindet just in dem Moment hinter einer Tür, als seine Mutter durch eine andere Tür den Raum betritt. Nach einigen Momenten öffnet sie die Tür und wir sehen das blutverschmierte Gesicht des Sohnes. In dieser Szene wird nicht nur auf brillante Weise auf den weiteren Verlauf des Films hingearbeitet, sondern durch den ausgelassenen Blick auf sein Gesicht, wird uns auch jäh die Entfremdung des Sohnes vor seiner Mutter bewusst. Man könnte diese lyrischen Momente einen Surrealismus im Realismus nennen. Dieser wird durch ein avanciertes Spiel auf Ton- und Bildebene erreicht. 



Beispielhaft erscheint die Szene am Strand in „Jahreszeiten“, als Ceylan während seine Freundin im Wasser schwimmt die Worte einstudiert, um sie zu verlassen. Er bricht ab und beginnt von vorne. Wieder spricht er die Worte und plötzlich schneidet Ceylan auf seine Freundin, die bereits wieder neben ihm sitzt. Ohne zu zeigen wie sie zurückkommt, hat er hier einen fließenden Zeitsprung hinbekommen. Dieser Surrealismus entsteht durch die äußerste Subjektivität. Die Wahrnehmung der Hitze am Strand, der schwierigen Situation, der drückenden Stimmung erlaubt diesen Sprung ohne einen Realitätsverlust. In „3 Affen“ findet sich eine äußerst realistische Szene, in der sich der Sohn übergeben muss. Die Sequenz beginnt mit einer unscharfen Einstellung auf einen Mann am Bahnsteig. Dann lehnt sich der Sohn nach hinten ins Bild und in die Schärfe. Alles ist verlangsamt, der Ton ist gesenkt. Es ist eine subjektive Welt, in die wir eintauchen. Man merkt, dass irgendwas nicht stimmt, spürt die Hitze, den Schwindel. Dann übergibt er sich in einer gewaltsamen Plötzlichkeit, die gleichzeitig die Umwelt wieder in seine Welt hineinlässt. Ähnlich wie die Felsformationen, die sich in Gesichter verwandeln in „Once Upon a Time in Anatolia“ findet Ceylan diese Momente im scheinbar Alltäglichen, im scheinbar Unbeweglichen. Wie ein Apfel, dessen Weg er verfolgt, vom Baumstamm bis er in einem kleinen Bach an einer Engstelle mit mehreren anderen Äpfeln hängenbleibt. Ähnlich wie Bresson allegorisch einen Esel betrachtet, betrachtet auch Ceylan Tiere und Obst, das Wetter und das Gras. Immer in Verbindung zum Menschen und noch viel wichtiger: Die Menschen, immer in Verbindung zur Natur.




Seine Bilder können dabei die fotografische Herkunft des Regisseurs nicht leugnen. Oft statisch, meistens von durchkomponierter Schönheit. Er scheint die Bilder aufzubauen, in denen sich die Handlung fast wie Zufall entwickeln kann. Starke Kontraste und eine Betonung der Dunkelheit sind Markenzeichen dieses Stils. Seine große Stärke offenbart sich in den Großaufnahmen, der leidenden Gesichter. In „3 Affen“ altert und verjüngt sich die Frau scheinbar von Szene zu Szene, in „Jahreszeiten“ blickt einen die verlorene Leere der Seelen der Protagonisten fast direkt an, in „Once Upon a Time in Anatolia“ fällt die Maske des Staatsanwalts weit schneller als die des potenziellen Täters. Sie wechseln sich ab mit Totalen, die ähnlich leer und gleichzeitig tief wirken, wie die Gesichter. Die türkischen Landschaften haben sich in die Züge der Gesichter eingeschrieben. Kein Wunder, dass es Ceylan immer wieder in die Natur zieht. Dort leben die Kinder noch in einer Unschuld, in die seine Erwachsenen auch zurück möchten.


Doch es gelingt ihnen nicht. Meist versuchen sich die Protagonisten ihrer eigenen Triebe zu wehren, wie Ceylan in „Climates“ als er wie wild über eine Frau herfällt oder der Vater in „3 Affen“, der in einer bewegenden Szenen zwischen Hass und Lust mit seiner Frau auf dem Bett sitzt. Doch auch die Kinder bei Ceylan werfen mit Steinen und drehen Schildkröten auf den Rücken. Bei ihm ist das Leben ein Kreislauf und so steht es auch mit seinen Filmen; es handelt sich dabei mehr um eine Reflektion auf das Leben, denn einer Narration. Und wer den Weg mit Ceylan geht, findet sich vielleicht am Ende des Tages an einem Fluss stehend auf die Weite des Himmels blicken. Ein großer Regisseur.

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