Arnaud Desplechin |
Arnaud Desplechin ist ein Regisseur, der sich eigentlich
beständig jeder Einordnung entzieht. Sein Kino scheint sich immer wieder im
Entstehen zu Erfinden. Bei ihm wirkt alles spontan. Es scheint genauso wenig
irgendeiner Tradition oder Linie zu folgen, wie es trendig oder modern wirkt.
Ein wiederholter Bruch mit den Erwartungen, der sich irgendwo zwischen der
Liebe, dem Zynismus, der Abscheu, dem Respekt und der Wahrheit befindet mit der
sich einer der großen Virtuosen, der Kinolandschaft des 21. Jahrhunderts seinen
Figuren nähert. Figuren, die ähnlich einer festen Theaterkompanie von den immer
gleichen Schauspielern gespielt werden: Emmanuelle Devos, Mathieu Amalric,
Chiara Mastroianni, Emmanuel Salinger, Thibaut de Montalembert und einige
andere. Man kommt nicht umher Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen
Rollen der Schauspieler in den Filmen von Desplechin zu suchen. Man wird sie
finden und man wird gleichzeitig vergeblich suchen. Ein Kino also voller
Widersprüche, von denen mir drei ganz besonders charakterisierend für das
Schaffen von Desplechin zu sein scheinen:
1.Komödie und Tragödie
2.Realismus und Inszenierung
3.Persönlichkeit und Zitat
Komödie und Tragödie
In einer bemerkenswerten Szene in seinem „Un conte de Noël"
wird Henri, gespielt vom immer wieder bei Desplechin auftauchenden Mathieu
Amalric (seinem Alter Ego ?) nach dem er sich wiederholt im Ton vergriffen
hat, plötzlich vom Ehemann seiner Schwester zusammengeschlagen. Ein zutiefst
ernster Moment, doch Desplechin inszeniert ihn mit Leichtigkeit. Alle im Raum
beginnen zu lachen, beschwingte Musik setzt ein. Was ist darin lustig ?
Was ist daran ernst ? Erst später, wenn Henri mit seiner Freundin alleine
ist, sickert die Ernsthaftigkeit der Situation durch. Aus Komödie wird dann
Tragödie, aber eigentlich ist es bei Desplechin immer beides gleichzeitig, was
es in einem Wort « lebensnah » wirken lässt. Augenscheinlich mag eine
gewisse Ähnlichkeit zu Woody Allen sein. Doch wenn dann reden wir hier von
einem frühen Woody Allen, von Filmen wie "Hannah and her sisters"
oder "Manhattan", als beim Altmeister auch in den komischten
Momenten noch eine existentialistische Tragik lag ; im Gegensatz zu seinen
letzten Filmen, die sich in verklärter Städteromantik verlieren und aus
lockerleichten Einzeilern bestehen, die gegen das Kino eines Desplechin wirken,
als hätte ein ehemaliger Gagschreiber nochmal versucht Lacher zu bekommen. Die
Ähnlichkeiten kommen aus den Sinnkrisen und Neurosen der Charaktere, die dann
auch mal direkt an die Kamera adressiert sprechen, die
bürgerlich-intellektuelle Welt, die sowohl Allen als auch Desplechin
erforschen. Aber damit hat es sich auch, denn dort wo Allen den Humor im
Banalen sucht, findet Desplechin den Humor im Banalen. Es ist kein gezwungener
Humor, es ist ein alltäglicher Humor, der sich genauso schnell auflöst wie
Tränen, Erinnerung oder Begehren in seinem gesamten Œuvre. Es gibt kein Lachen
ohne Bauchschmerzen und keine Bauchschmerzen ohne Lachen. Ismaël (wieder Amalric) wird in „Rois
et Reine“ zwangseingewiesen in eine psychiatrische Anstalt. Diese Szene ist
eine der lustigsten des Films, sie ist mit völliger Leichtigkeit inszeniert und
man fragt sich, welchen Blick muss jemand auf die Welt haben, um den Humor
immer in den schlimmsten Momenten zu entdecken. Es hat etwas Sprunghaftes,
seine Filme legen sich nie fest.
Realismus
und Inszenierung
Das liegt daran, dass seine Geschichten meist kaum
inszeniert wirken. In seinem "La vie de morts" trifft sich eine
Familie, um gemeinsam auf den Tod ihrer adoptiv-Bruders und Sohnes zu warten,
der sich umbringen wollte. Dabei filmt Desplechin die Familie bei Gesprächen am
Tisch oder in anderen Räumen, immer beiläufig, ohne sich auf eine Figur zu
fokussieren. Man sucht sich mehr oder weniger selbst aus, wem man folgt in
diesem Film, man springt durch die Gesichter und liebt und verabscheut sie in
gleichen Maßen. Immer wieder spielen Krankheiten, die ernüchternd real
eingefangen und aufgenommen werden eine große Rolle. In einem Krebs liegt keine
Tragik bei Desplechin, keine Veränderung des Lebens wie in Hollywood, sondern
vielmehr eine statistische Wahrscheinlichkeit des Überlebens, eine Angst vor
dem Unausweichlichen. Seine Filme atmen einen ganz individuellen Realismus,
gewissermaßen eine philosophische Entdeckung seiner Umwelt, aber mit-und das
ist der springende Punkt und eigentlich ein Widerspruch-total filmischen
Mitteln. Exemplarisch dafür ist sein Film "La sentinelle". Mathias
findet einen Totenschädel in seinem Reisegepäck, gerät als unschuldiger Dritter
in einen politischen Strudel, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint :
Eine klassischer Thriller, Hitchcock wäre stolz gewesen. Doch bei Desplechin
entwickelt sich eine ganz andere Geschichte,
eine Geschichte, in der eine Faszination vom Totenschädel ausgeht, in der sich
Mathias treiben lässt, in der das Leben nicht nur aus der Funktion dieses
Thriller-Plots besteht. Desplechin nimmt eine klassische Struktur und löst sie
komplett auf. Vater-Sohn Beziehung, Liebesgeschichten…alles ist gleichbedeutend
mit dem eigentlichen Plot, nichts wird überbetont. Wenn er in « Rois et
reine » oder "Un conte de Noël" die gesamte Palette filmischer Stilmittel
von experimentellen Überblendungen, zu Splitscreen, zu Jump-Cut, zu wilden
Kamerafahrten abläuft und dabei unterschiedlichste Musik- und Kunsteinflüsse
ineinanderwirft, dann wirkt Desplechin wie einer der letzten Überlebenden der
Nouvelle Vague, ein Nachfahre sozusagen, der sich in den Grauzonen zwischen
mise-en-scène und Realismus bewegt. Eine moderne Fassung von Truffaut ?
Persönlichkeit
und Zitat
Wie Truffaut zitiert Desplechin quer durch die
Filmgeschichte. Hitchcock, Coppola, Forman, Laughton. Vieles lässt sich finden
in seinen Filmen. Es geht hierbei nicht lediglich um das direkte Zitat, sondern
eben auch um das bedienen von Genres oder um das Verwenden bestimmter
Musiktitel an prägenden Stellen. "Moon River" ist zu hören am Ende
von « Rois et reine », doch die Szene selbst ist alles andere als ein
Zitat. Sie ist eine der persönlichsten Szenen, die man sich vorstellen kann,
eine nackte Szene. Ein Vater, dessen Leben ein einziges Disaster ist, versucht
zu der einzigen beständigen Person seines Lebens durchzudringen, seinem Sohn. Er
zeigt dabei Facetten seiner Persönlichkeit, die aus einem abstoßenden Clown
plötzlich einen Menschen machen. Betrachtet man das Werk von Desplechin bis zum
heutigen Tag merkt man seine, von ihm selbst verleugnete Autorenschaft deutlich
durch die Filme dringen. Die Charaktere werden älter und reifer, haben andere
Probleme. Zwei Filme zeigen ganz besonders deutlich die autobiografischen Züge
seiner Filme. Am offensichtlichsten ist es bei seiner Dokumentation "L’aimée",
in der er selbst auftritt und die sich mit dem Verkauf des Familenhauses
beschäftigt. Eine Home-Movie auf 35mm, eine faszinierende Familenstudie.
Familie : Das zentrale Thema im Werk von Desplechin wird hier auf seinen
Kern reduziert und es entsteht eine starke Meditation über das Vergessen und
die Erinnerung ; Desplechin begibt sich auf die Suche nach der verlorenen
Zeit und er findet sie wie so oft in Zitaten. Zu Worten seiner früh
verstorbenen Mutter zeigt er Filmstills aus "The Night of the Hunter",
es ertönen die Känge von Bernhard Hermann. Für Desplechin sind Zitat und
Persönlichkeit nicht getrennt, sie gehen einher und dadurch ist er ein absolut
moderner Regisseur, aufgewachsen mit Bildern. Seine Charaktere Leiden an
Sinnkrisen, seine Themen sind existentialistischer Natur. In "Comment je
me suis disputé…(ma vie sexuelle)" steht Paul an der Schwelle zu seinem
richtigen Leben. Dabei verpasst er es eigentlich. Er kann sich nicht
entscheiden, ob er liebt, wen er liebt und was er mit seinem Leben anfangen
soll. Ein zutiefst ehrlicher Film, der sich wie alles bei Desplechin mit den Figuren
beschäftigt, nicht mit dem Plot ; der sich mit dem Kino beschäftigt, nicht
mit dessen Ökonomie.
Filme, die sich mit Desplechin beschäftigen und
nicht mit Desplechin.
TRAILER/SZENEN
La sentinelle
Comment je me suis disputé...(ma vie sexuelle)
Esther Kahn
Rois et reine
Un conte de Noël
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