Dienstag, 13. November 2012

Viennale 2012: À perdre la raison von Joachim Lafosse



Grausamkeiten und Gräueltaten des „echten“ Lebens bieten sich immer wieder für Verfilmungen an. Schließlich gelingt es keinem Medium besser unsere Schaulust zu befriedigen, uns unerklärliche Dinge plausibel erscheinen zu lassen und Unterhaltung aus Brutalität zu ziehen. Zuseher, die Filme dann auf moralischen Standards verurteilen, lauern dann hinter sämtlichen Ecken und unterscheiden nicht zwischen Ironie, Psychologie, Philosophie, Sozialkritik und billigen Gewalt für Gewalt Filmen. Alles wird als Provokation verstanden. In À perdre la raison von Joachim Lafosse bleibt dieser pseudo-moralische Aufschrei aus und das obwohl der Film auf einer Begebenheit basiert, deren Notwendigkeit zur Verfilmung durchaus fragwürdig erscheint. Eine Mutter in Belgien hat- unter dem Druck ihres familiären Umfelds leidend- ihre 4 Kinder getötet. Und dass dieser Aufschrei ausbleibt, zeigt die Schwäche des Films an vielen Stellen. Mangelnde Geduld in der Beobachtung, eine Rechercheartig-zusammengewebter-Plot und das Drücken einer unerklärlichen Geschichte in eine klassische Dramaturgie.



Dabei sind die Voraussetzungen nicht schlecht. Mit Niels Arestrup und Tahar Rahim spielt das Duo aus dem fantastischen „Un prophet“ von Jacques Audiard in einer (dreist kopierten) Konstellation, die ihre Stärken wieder zum Vorschein bringt. In den Schatten gestellt werden sie aber von einer umwerfenden Émilie Dequenne, die den langsamen Verlust des Verstandes mit ungeheurer Wucht zu spielen weiß. Sobald Lafosse sich Zeit nimmt seinen Charakteren zuzusehen, sobald er sich scheinbare Erklärungen spart, zeigt sich die Stärke dieses Films. In einer herausragenden Szene bleibt die Kamera lange auf dem Profil der Mutter. Sie fährt mit dem Auto und beginnt zu einem Lied im Radio zu singen. Während sie singt bricht sie in Tränen aus. Warum? Sie weint fürchterlich und bleibt stehen. Warum? Immer wieder diese Frage. Denkt man an Filme wie „Elephant“ von Gus van Sant oder „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ von Michael Haneke, sieht man die Bescheidenheit mit der große Autoren an dieses Thema herangehen. Van Sant bietet unterschiedliche Gründe an und Haneke eigentlich keinen Grund. Dadurch bleibt es dem Zuseher selbst überlassen die Gründe zu suchen. Diese Autoren zeigen nur, erklären nicht. Ohne die Psychologie zu überspitzen, versucht Lafosse dagegen eine Abgeschlossenheit aufzubauen. Seine Geschichte ist eine Geschichte der Ausweglosigkeit, weil von der ersten Szene an klar ist, was passieren wird. Weil seine Dramaturgie ein einziger Fall in den Wahnsinn ist und keinen Spielraum zulässt. Dieser fehlende Spielraum zeigt sich bis hinein in die immer gleichen Kameraschwenks von unten nach oben und dem ständigen Anschneiden diverser Gegenstände im Vordergrund. Man mag entgegenhalten, dass „À perdre la raison“ mit der Marokko-Episode durchaus eine Fluchtmöglichkeit, eine Alternative anbietet. Allerdings wirkt diese Episode von Anfang an als Mittel, um der Mutter ihrer letzten Hoffnung zu berauben.



Störend auch die Geschwindigkeit der Erzählung in der ersten Hälfte des Films. Man kommt kaum zum Atmen, weil der Film versucht in kürzester Zeit ein gesamtes Familienleben zu zeigen. Eigentlich ist die erste Stunde des Films eine einzige Montagesequenz, die wirkt, als hätte man alle Ergebnisse einer Recherche in den Film bringen wollen. Immer wieder versucht Lafosse mit signifikanten Szenen, die er herausnimmt, ein exemplarisches Bild von der aktuellen Situation zu zeichnen. Er zeigt wie ein neues Kind geboren wird, wie die Eltern zum ersten Mal streiten und schon der nächste Sprung. Das nächste Kind und der nächste Streit. Man merkt dem Film einfach zu sehr seine Konstruktion an und daher auch kein moralischer Aufschrei. Das gezeigte wird mit zu viel Respekt behandelt, das Thema ist/war zu sensibel zum Zeitpunkt der Verfilmung. Vieles hat man sich einfach nicht trauen können. Vielleicht hätte man noch einige Jahre warten sollen oder es mehr entfremden sollen oder mutiger sein sollen. Am Ende steht kein schlechter Film, der aber zum Themenfilm verkommt, der gerne eine psychologische Studie wäre und ein Stück vom Realitätskuchen erhaschen wollte, aber nur durch sein beeindruckendes Schauspiel an Wert gewinnt.


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