Das Filmmuseum zeigte anlässlich seiner
derzeitigen Marseille-Schau den Film „Nénette et Boni“ von Claire Denis. Wenn
man sich ein wenig mit der Regisseurin befasst hat, dann erkennt man sofort die
oberflächlichen Merkmale ihres Kinos. Die Zusammenarbeit mit Agnès Godard, den
Tindersticks oder ihren Lieblingsdarstellern Grégoire Colin (hier in seiner
vielleicht definitiven Rolle bei Denis, jugendlich, naiv, bedrohlich,
unschuldig, verloren, liebevoll, gewalttätig, verträumt und damit alles, was
den Film selbst auszeichnet) und Alex Descas. Den Schnitt-und der ist für Denis
ja absolut entscheidend-übernimmt hier der Truffaut-Garrel-Pialat Cutter Yann
Dedet und er passt sich gleichzeitig dem Kino von Denis an als es auch auf
seine eigene Spitze zu treiben. Denn in dieser Geschichte eines
Geschwisterpaares, das über die Schwangerschaft der Schwester wieder
zusammenfindet ohne sich jemals wirklich zu finden, verfließen nicht nur die
Grenzen zwischen Realität und Traum, sondern auch zwischen Zukunft und
Vergangenheit, filmischen Happy End und grausamen Morden und somit Film und
Zuseher. Denis schreibt den Film als eine dauernde Fluchtbewegung. Es ist als
würde „Nénette et Boni“ vor sich selbst fliehen. Assoziativ dienen Farben,
Formen und Töne als Übergänge, es ist wie ein dauernder Matchcut der Gefühle,
ein beständiger Regen aus Eindrücken, der manchmal gar nicht zu verarbeiten
ist. Ist eine rote Farbe im Bild zu sehen wird sie im nächsten Bild wieder
auftauchen, erregtes Stöhnen geht über in eine Kaffeemaschine und bis zur
schmerzhaften Eindeutigkeit wird die Parallele zwischen Teigbacken und Sex
hervorgehoben. Dabei betont die Regisseurin durchgehend die Sinne. Es wird
gegessen, es wird gerochen, es wird berührt. In einer erdrückenden Schnittfolge
ist eine Nahaufnahme des jungen Bruders zu sehen, der in seinem Bett stark atmend
seine Schwester beobachtet. Beim Gegenschuss auf die Schwester hört man deren
Atmen nicht. Es ist als würde sie ersticken und man erstickt mit ihr.
Fast
rotzig scheint der Film gedreht worden zu sein, rebellisch und assoziativ und
nicht umsonst wurde häufig der Vergleich mit Wong Kar-Wais „Chungking Express“
bemüht. Von der Farbgebung bis zur ständigen Wiederholung eines musikalischen
Themas greifen sowohl Denis als auch Kar-Wai auf ein ähnliches Repertoire
zurück. Auch teilen die beiden Filme
jene Sinnlichkeit und Poesie, die sich nie in Kitsch verwandelt, sondern immer
auf ihr eigenes Ablaufdatum zu schauen scheint. Doch Denis ist auch eine Geschichtenerzählerin
und am Ende kehrt sich dann doch zu einer recht klassischen Struktur zurück,
die in der vollkommenen Nicht-Unterscheidbarkeit zwischen Traum und
Wirklichkeit kulminiert, ein etwas enttäuschender Ausweg aus einem ansonsten absolut
sehenswerten Stück Film. Sinnlichkeit und tatsächliches Glück manifestiert sich
immer in Sekunden auf der Leinwand. Betörende Musik setzt ein und erotische
Fantasien von der lokalen Bäckerin (Valeria Bruni-Tedeschi) tanzen vor den
Augen des voyeuristischen Betrachters. Es ist ein Ruhen auf der Frau, das nur
durch die tiefen blauen Augen von ihrem Partner und Mitarbeiter Vincent Gallo
gehalten wird. In einer Sequenz wird die Fluchtbewegung, die auch diesem Paar
zugrunde liegt mehr als deutlich. Der Bruder steht verlassen und traurig hinter
einem großen Fenster, um ihn bewegen sich bunte Lichter. Die Musik setzt ein
und ein trautes Familienbild der Bäckerin und ihres Partners in einem innigen
Tanz drückt sich mit rosa Farben in den Fokus. Dabei ruht die Kamera fast nie
auf dem Geschehen, sondern immer auf den Körpern. Totalen werden schnell
unterbrochen für das essentielle im Kino von Denis: Dem Körper. Dann sieht man die
Bäckerin in einer Parfümerie und plötzlich taucht sie neben dem Bruder auf. Sie
geht mit ihm in ein Kaffee und er vermag kaum zu sprechen. Ob die Fantasie hier
zur Realität wurde oder die Realität für einen Moment völlig verlorenging, ist
kaum von Relevanz, denn Denis kümmert sich nicht nur in „Nénette et Boni“
weniger um äußere Handlungen, denn um innere Vorgänge. Es ist der Rhythmus, den
sie mit Yann Dedet gefunden hat, der den Film prägt, ihn immer wieder verliert
und schließlich umschließt.
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