Olivier Assayas ist derzeit einer
der angesehensten europäischen Regisseure. Der gebürtige Pariser spezialisiert
sich für gewöhnlich in sehr persönlichen Filmen auf die Probleme von
Jugendlichen und Außenseitern. Dabei gelingt es ihm in fast jedem seiner Filme
eine aufregende Vitalität auf die Leinwand zu bannen. Die Musik aus der
jeweiligen Zeit ist zu hören und die Kamera fährt, schwenkt und atmet
pausenlos. Lange Zeit tat er dies und war außerhalb seines Heimatlandes nur
wenigen ein Begriff. (Einzig noch Irma
Vep, ein grandioser Film über das Filmemachen schwappte in deutschsprachige
Gefilde) Als er im Jahr 2010 dann
aber Carlos drehte, eine als
dreiteilige Miniserie Biographie über den berühmten Terroristen Ilich Ramírez
Sánchez alias Carlos, änderte sich das ziemlich schlagartig. Durch die
Kinoauswertung wurden die drei Teile zusammengefügt und der wahre Kern der epochalen
Erzählweise von Assayas trat zum Vorschein. Außerdem betonte der Film die sonst
häufig unter der schieren Wucht seiner Persönlichkeit und Offenheit vergrabenen
Fähigkeiten des Regisseurs eine Ära zum Leben zu erwecken. Wer Carlos sieht, atmet die 70er. Nun war
auf der Viennale sein neuer Film Après
Mai zu sehen. (Premiere war in Venedig) Gewissermaßen kann man den Film als
einen Versuch von Assayas lesen die Persönlichkeit seiner früheren Werke mit seinem
Gefühl für die Zeit zu verbinden.
Wieder sind es die 70er Jahre. (vor
der Vorführung entschuldigt sich Assayas fast dafür.) Nur dieses Mal übertrifft
sich Assayas an Detailtreue fast selbst. Stolz bemerkt er, dass vieles im
Szenenbild von ihm erarbeitet wurde. Alle Farben, Bauten, Bücher, Platten,
eigentlich alle Requisiten sind derart natürlich im Film, dass sich dort
wahrhaftig eine völlig glaubhafte Welt auftut. Vielleicht ist das auch eine
philosophische Frage, weil es natürlich eher um die Vorstellung bzw. Erinnerung
von einer Zeit geht. Vielleicht ist Assayas also auf der Suche nach der
verlorenen Zeit? Im Anschluss gibt er grinsend zu, dass Marcel Proust eine
wichtige Inspiration gewesen sei. Erstaunlich jedenfalls für mich, wie er es
schafft, dass eine schon so oft in Film und Fernsehen thematisierte Epoche, die
ich auch nur aus diesen Medien kenne, nochmal so frisch und lebendig wirkt. Die
Auswahl der Schauspieler alleine wirkt, als wäre man in einer Zeitmaschine
zurück in die 70er und hätte diese (Laien-!) Darsteller aufgetrieben. Und
wieder fährt die Kamera unaufhaltsam und die Musik der Zeit erklingt im
Kinosaal. Im Zentrum der Handlung steht Gilles, ein junger passiver Revoluzzer,
der sich eigentlich zur Kunst (insbesondere zur Malerei und zum Filmemachen)
hingezogen fühlt, aber nicht so recht weiß, wohin mit sich. Ein typischer
Assayas-Charakter. Gilles ist Teil von Demonstrationen, von Diskussionen, von
terroristischen Aktionen und von Liebe. Aber er wird hindurch gezogen durch
diese Zeit, wie der Zuseher auch. Der Film ist eine Initiation in die Kunst,
sowohl für den Protagonisten, den man als niemand anderen, als das Alter Ego des
Regisseurs verstehen muss, als auch für den einzelnen Zuseher, der verstehen
lernt, was es heißt eine Entscheidung zu treffen und Künstler zu werden.
Olivier Assayas |
In der Halbherzigkeit der
politischen Momente des Films und in der Fokussierung auf Details statt auf den
Zusammenhang, das „Große Ganze“, wenn man so mag, zeigt sich einerseits, warum
der Film nicht jeden in gleicher Weise berühren kann und anderseits, dass
Assayas hier tatsächlich eine Biographie mit den Mitteln des Films schreibt.
Das persönliche Element dringt praktisch durch jede Szene. Besonders aufregend wie
er immer wieder bei den zahlreichen Frauen bleibt, als sich sein Protagonist
schon von ihnen verabschiedet hat. Man sieht einen traurigen Blick, ein
Nachdenken oder eine Verzweiflung. In seiner Erzählung versucht Assayas Dinge
zu sehen, die er eigentlich nicht erfahren hat. Vielleicht Wunschvorstellungen,
vielleicht Ängste. Er selbst meint, dass er von seiner eigenen Biographie
ausgegangen sei, aber die Perspektive dann erweitert habe, weil es für den Film wertvoller gewesen wäre. Es
ist nicht gerade ein perfekt ausbalancierter Film, aber das Weglassen von
scheinbar unwichtigen Szenen hätte Après
Mai seiner Essenz beraubt: Persönlichkeit und Zeitstudie. Interessant
allerdings, dass dieses detailorientierte Beschleunigungskino in Venedig den
Drehbuchpreis gewinnt. Oder ist dieser Film etwa so detailgetreu geschrieben?
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