Sonntag, 16. März 2014

Odinnadcatyi von Dziga Vertov



Text: Rainer Kienböck

Montag: Was ich schreiben will diese Woche, fragt mich Patrick bei unserer allwöchentlichen Redaktionssitzung (meist handelt es sich um einen schriftlichen Austausch auf Facebook, diese Woche war es tatsächlich ein persönliches Gespräch). Morgen (also dienstags) spielt es „Umberto D.“ von Vittorio De Sica im Filmmuseum, etwas Spannenderes fällt mir fürs Erste nicht ein und ich habe ohnehin schon länger keine ordinäre Rezension mehr abgetippt.

Wie man beim Lesen dieser Zeilen feststellen kann, sollte es aber nicht so weit kommen. Zwar habe ich dienstags Vittorio De Sicas wundervollen Film gesehen, und an dieser Stelle könnte ich auch genauso gut über die Rolle des Hundes im Film referieren – einen viel bleibenderen Eindruck hinterließ aber ein Film, der im Programm davor lief.


Dziga Vertovs „Odinnadcatyi“ („Das elfte Jahr“; der Film erschien 1928 – elf Jahre nach der Revolution), ein knapp siebzigminütiger Dokumentarwahnsinn über Bergwerke, Kraftwerke und Stahlbäder hat mich mehr inspiriert und beschäftigt. Im Programm folgte ihm Charles Dekeukeleires „Impatience“, was dessen Film nicht sehr förderlich war – zu sehr war ich noch mit Vertovs Bilderwelten beschäftigt. Nach nur wenigen Minuten Pause folgte die Vorstellung von „Umberto D.“, und auch dieser überstand die Konfrontation mit Vertov, trotz seiner immersiven Qualitäten nicht unbeschadet (befürchte ich zumindest). Vertov ist zu polemisch, agitatorisch und demagogisch. Seine manipulativen Methoden verlangen nach einem Zuschauer verlangt, der mit geschultem Auge die Selbstreflexivität dieses Extrems durchleuchtet und goutiert.

Ich vermute außerhalb von Wien, und somit fern von der umfangreichen Vertov-Sammlung des ÖFM, bekommt man nicht allzu viele Filme von Vertov zu sehen. Ich wage zu behaupten, dass einem großen Teil der Kinobegeisterten lediglich sein „Čelovek s kinoapparatom“ bekannt ist. Der Vertov von „Čelovek“ ist jedoch keineswegs der „typische“ Vertov. Formal betrachtet fällt „Čelovek“ nicht ganz so stark aus der Reihe: technisch beeindruckende Montagen, unmögliche Kamerapositionen, Mehrfachbelichtungen, Überblendungen und kunstvolle Schnitte. Vertov ist in erster Linie ein formidabler Cutter und Techniker – könnte man schließen wenn man bei „Čelovek“ stehenbleibt.


Faktisch ist „Čelovek“ ein fast avantgardistisch anmutendes Filmexperiment, das vergleichbar undemagogisch daherkommt. Im Unterschied zu seinen Wochenschauen „Kino nedelja“ oder „Kino pravda“ oder seinen anderen Langfilmen wie „Entuziasm“, „Tri Pesni o Lenine“ oder eben „Odinnadcatyi“ steht mehr der Entstehungsprozesses des Filmens an sich und die verschiedenen technischen Tricks im Mittelpunkt, als den Kommunismus zu preisen. In seinen anderen Filmen ordnet sich die technische Brillanz im Umgang mit dem Medium der Propaganda unter. In „Odinnadcatyi“ ist ihm das, ausgehend von dem was ich bisher gesehen habe, am besten gelungen. Das objektive Kinoauge ist in erster Linie daran interessiert was es an sowjetischen Errungenschaften abzufilmen gilt, als an kunstvollen Aufnahmen nach dem Motto l’art pour l’art. Das unterscheidet Vertov dann wohl auch von seinen Zeitgenossen wie Eisenstein und Pudowkin, die aus künstlich und kunstvoll produzierten Einzelstücken eine Realität zusammenstückelten, während Vertov die Realität einfing und sie mit technischen Mitteln zum Kunstwerk machte. Kunst entstand bei Vertov nicht zum Selbstzweck, sondern als (zwangsläufiges) Nebenprodukt eines Schaffensprozesses, der auf ein möglichst leicht verdauliches Konsumationsprodukt abzielte. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich „Čelovek“ von „Odinnadcatyi“ et al. „Čelovek“ ist keineswegs leicht verdauliche Agitprop, eher eine intellektuelle Bildersymphonie wie bei Ruttmann.


„Čelovek“ ist vielleicht Vertovs imposantestes Werk, aber nicht zwangsläufig repräsentativ für sein Schaffen. Vertov ist: Aufnahmen in einem Bergwerkstollen bei spärlichem Licht. Vertov ist: Die Sprengung eines Felsens, der einem Kraftwerk weichen muss. Vertov ist: Kommunistische Parolen in den Zwischentiteln. Vertov ist: Überlebensgroße Arbeiter durch Schneide- und Kameratricks auf Augenhöhe mit riesigen Maschinen. Vertov ist: Eisenbahn. Vertov ist: Kino.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen