Samstag, 1. Februar 2014

Die Entfremdung des Zusehers beim Point-of-View Shot



Ein wild atmender Mann rennt durch einen schneebedeckten Wald. Hektische Bilder, die sich in Bewegungsunschärfen verlieren. Die Bäume, Äste, der weiß-graue Himmel. Ich sehe alles außer diesem Mann selbst. Wir blicken durch seine Augen. Fast wie in einem John Rambo Ego-Shooter Spiel gestaltet sich in manchen Teilen die Flucht des Afghanen in „Essential Killing“ von Jerzy Skolimowski. Was er in seiner absurd misslungen, weil sich ständig selbst verneinenden Kriegsparabel versucht zu erzeugen, ist den brutalen und nicht immer ethischen Überlebenskampf einer Figur zum Überlebenskampf des Zusehers selbst zu machen. Er unterliegt damit diesem weitverbreiteten Irrtum, dass ein Blick aus der Sicht einer Person zugleich Identifikation bedeutet. Ganz im Gegenteil. Der Point-of-View Shot oder nennen wir es die Ego-Shooter Perspektive erzeugt Entfremdung vor dem Geschehen.


Das liegt daran, dass sie auf sich selbst aufmerksam macht. Noch nie habe ich eine Ego-Shooter Perspektive gesehen und nicht daran gedacht, dass es sich dabei um eine Ego-Shooter Perspektive handelt. Selbst bei gewöhnlichen längeren Sequenzen wie etwa Dialogen oder zum Beispiel dem wiederholten Blick zur Decke in Paolo Sorrentinos „La grande bellezza“, die offensichtlich den Blick durch die Augen einer Person anzeigen, muss man daran denken, dass diese Einstellung aus der ersten Person gedreht ist. Ein Stil, der auf sich aufmerksam macht. Nun mache ich hier kein Plädoyer für den klassischen Hollywoodstil, der den POV-Shot als kurzen Zwischenschnitt nicht nur unterstützt, sondern auch geschickt in seine eigene Unsichtbarkeit integriert und damit genau das erreicht, was den POV-Künstlern rund um Skolimowski und Gaspar Noé verwehrt bleibt, nämlich Identifikation. Ich halte die Verwendung des POV-Schusses bei den beiden genannten Regisseuren für deutlich virtuoser und bedeutender, allerdings nur dann, wenn sie ihn nicht für den Zweck der Identifikation verwenden, denn das funktioniert nicht bei längeren, formaleren Einstellungen (oder gar ganzen Filmen). 


Eine Ego-Shooter Perspektive durch die Augen eines Afghanen hat ja für sich schon eine politische Note. Jedoch versucht „Essential Killing“ den Zuseher dadurch auch ins Geschehen zu ziehen und da widerspricht er sich selbst. Ein fast komischer Effekt entsteht durch die bemühten POV-Einstellungen im Wald, weil sie sich mit der dritten Person beißen, mit dem Naturalismus beißen und mich emotional packen wollen, aber irgendwie in eine Reflexion bringen. Noé ist das umgangen, indem er ganz im Stil von Robert Montgomery gleich alles aus der ersten Person gedreht hat in seinem Hipster-LSD fliegenden Neonspektakel „Enter the Void“. Sein Coup daran sind die inneren Monologe, die dann tatsächlich Identifikation bedeuten. Ähnliches gilt auch für den äußerst grünen (im Bezug auf die Farben) „Le scaphandre et le papillon“ von Julian Schnabel, der sich allerdings damit wehtut aus einer Künstlichkeit des Lidschlussreflexes als filmisches Mittel eine Natürlichkeit gewinnen zu wollen. Was all diesen drei Filmen nicht gelingt, ist es Identifikation durch die Einstellung per se herzustellen. Ich kann eine Figur nicht besser verstehen, nur weil ich durch ihre Augen sehe. Durch die Augen sehen geschieht im Film zumeist anders.



Durch die Augen eines Hais bekommt man das Meer und zappelnde Beine in Steven Spielbergs „Jaws“ zu sehen. In Horrorfilmen wackelt die Kamera immerzu bedrohlich hinter billigen Ästen und Vorhängen, sie nähert sich lautlos an, man spürt eine Bedrohung. Diese Ur-Form des effektiven POV funktioniert bis heute. Sie funktioniert deshalb, weil sie den Aspekt im Bild betont, den wir nicht sehen. Statt ein Off-Screen außerhalb des Bildes zu haben, versetzt sie uns in das Off-Screen. Und das macht Angst. Sicherlich erzeugt es keine Identifikation. Der Grund warum Filmemacher den Ego-Shooter Touch dennoch als Methode für sich zu gewinnen versuchen, die Welten ihrer Figuren spürbar zu machen, könnte an der Effektivität der ersten Person in der Literaturgeschichte liegen. Daher können Julian Schnabels und Gaspar Noés Versuche auch deutlich besser gelingen, weil sie sich eben dem Mittel des Monologs annehmen, der von der ersten Person in Prosaform ja praktisch automatisch generiert wird.


Der Trugschluss scheint mir zu sein, dass man durch das Auflösen des Schauspielers in die Figur eintauchen kann. Das könnte dann gehen, wenn man die Figur nie von außen zu sehen bekommt, wenn man tatsächlich nur in ihrem Kopf ist. Noé ist nahe an dieser Methode gewesen, hat sich aber auch nicht dafür schützen können seine Figur/seinen Schauspieler zu zeigen. Schade. Am Ende ist sein Film aber sowieso nur eine gelungene Kameraspielerei in Zeiten der psychologischen Komplexe, die in ihrer unmittelbaren Wirkung nicht enttäuscht, wohl aber in ihrer Langzeitwirkung. Der Schauspieler ist es aber, der Identifikation stiften muss, der sich durch sein Gesicht als Projektionsfläche öffnet und unsere Geschichte entstehen lässt. Wenn man sich etwa ansieht wie Luchino Visconti Dostojewskis Erzählung „Weiße Nächte“, die aus der ersten Person geschrieben ist, in die Wahrnehmung der Welt durch seine Hauptfigur, durch seine Blicke, durch seine Gesten einfängt, dann muss man zugeben, dass er deutlich näher an die Stimmung der Vorlage kommt, als er es mit POV-Einstellungen getan hätte.


Das bedeutet nicht, dass der POV-Schuss obsolet wäre. Ganz im Gegenteil. Geschickt gesetzt, kann er dann nämlich doch jene Identifikation liefern, ganz zu Schweigen von seinem Meta-Potenzial mit politisch, sozialkritischen Konnotationen. Denkt man zum Beispiel an den kleinen Jungen in Alejandro González Iñárritus „Babel“, der zum ersten Mal über die amerikanisch-mexikanische Grenze fährt und durch dessen Augen wir das Leben auf den Straßen durch die Autofenster betrachten, so muss man zugeben, dass man sich hier durchaus als Kind fühlt, als ein von Eindrücken überfahrenes Kind. Aber Iñárritu kombiniert diese Einstellung auch (ganz im Hollywood Stil) mit dem Blick des Kindes selbst. Erst wenn wir sehen wer blickt, können wir uns identifizieren. Film scheint mir mit einer Distanz geboren zu sein. Der Distanz der beobachtenden Kamera. Ihr Blick, der niemals real ist, aber Realität anzeigen kann, ist näher an der Vorstellung einer Göttlichkeit als an der einer Menschlichkeit. (deshalb ist Noé auch der bislang weiteste Vorstoß gelungen…)

Die Meta-Bedeutung der Einstellungen steht außer Frage. Genauso wie die Unmittelbarkeit, die erzeugt wird. Allerdings hat mich diese Unmittelbarkeit noch nie in das Geschehen geworfen, sondern immer davon entfremdet. Man kann nicht vergessen, dass man aus einer dritten Person den Blick einer ersten Person zu Gesicht bekommt. Eine interessante Möglichkeit diese Unterscheidung aufzuheben, haben Filme wie „Cloverfield“ von J.J. Abrams oder „Rec“ von Jaume Balagueró und Paco Plaza gewagt, als sie die Kamera selbst als Objekt im Film installierten, durch deren Linse wir das Geschehen beobachten. Am meisten Freude haben beide Filme daran, sich zu überlegen wann genau die Kamera aus- und wieder angeschaltet wird. Damit spielen sie wieder mit jenem Off-Screen, der Horrorfilme von Haus aus prägt. Sie machen den Off-Screen zu einem zeitlichen Ereignis statt räumlichen Abseits. Damit erreichen sie eine ähnliche Effektivität wie schon „Jaws“ und anderen Genrevertreter. Angst, Humor (etwa die merkwürdig symmetrischen POV-Schüsse bei Wes Anderson) oder Meta-Reflexionen entstehen aber immer aus filmischer Entfremdung. 


Der Versuch die erste Person der Literatur derart plump mit Einstellungen aus der ersten Person in einen Film zu bringen, muss scheitern. Er ist Folge dieses Aberglaubens von Film als Literatur. Wenn sich Film auf seine eigenen Stärken beschränkt, wenn er nicht nach Übersetzungen literarischer Formen sucht, kann er durchaus in die Köpfe seiner Figuren einsteigen, wenn er denn unbedingt will. Federico Fellini und Ingmar Bergman haben das beherrscht wie niemand sonst.In "Essential Killing" kann man sich nicht sicher sein, ob man verstört wird oder sich identifizieren soll oder ob die Identifizierung verstören soll. Ich befürchte aber, dass der Filmemacher selbst das auch nicht weiß.

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