Montag, 27. Januar 2014

Visconti in January: Le Notti Bianche



„Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag begann trüb und unfreundlich. Es regnete, und die Tropfen prasselten eintönig gegen meine Fensterscheiben; in meinem Zimmer war es dunkel, und im Freien trüb. Mein Kopf schmerzte und schwindelte; ein Fieber schlich sich durch meine Glieder.“

Wenn ein Schrei der Freude einen tief im Herzen verletzt, dann hat das Melodram gesiegt. In meiner sechsten Visconti-Besprechung lasse ich mich auf den nächsten Tanz zwischen Realität und Künstlichkeit mit dem italienischen Meister ein.  Für seinen fünften Spielfilm „Le Notti Bianche“ suchte sich Visconti 1957 eine Vorlage aus, die mit ihrem träumerischen, melodramatisch überhöhten Realismus wie gemacht schien für den abtrünnigen Neorealisten, den Stilisten der großen Gefühle. Auch Robert Bresson („Quatre nuits d'un rêveur“) und James Gray („Two Lovers“) hatten sich in die Novelle von Fjodor Dostojewski verliebt.  Für Visconti jedoch spielten sich inmitten des Melodrams ganz eigene Kräfte ab. Es geht wie in der Vorlage um einen jungen Mann (Mario), der eine jüngere Frau (Natalia) weinen sieht. Er nähert sich ihr an und die beiden verbringen einige Nächte auf den Straßen. Mario erfährt von Natalia, dass sie seit einem Jahr auf einen Mann, ihre große Liebe wartet.  Mario ist hin und hergerissen zwischen seiner Zuneigung zu Natalia und ihren Hoffnungen, die er ihr nicht nehmen will. Am Ende verkehrt sich die Naivität in ihr Gegenteil. Das Unmögliche trifft einen dort emotional im Herzen, wo einen etwa „Rosemary’s Baby“ von Roman Polanski im Magen schockt. Dieses Melodram ist deshalb so erschütternd, weil es den Glauben an die unendliche Liebe nicht wie bei anderen Genrevertretern als gesellschaftliche Unmöglichkeit erzählt, sondern als psychologische Unmöglichkeit. Und aus jener psychologischen Unmöglichkeit entsteht nur wieder eine andere Hoffnung auf unendliche Liebe, die genauso wieder enttäuscht werden wird. Besonders dann, wenn die Unmöglichkeit einer Liebe zur Möglichkeit wird.


Es entfacht sich von Anfang an ein unwirklicher Raum. Der Film wurde im Studio gedreht, Visconti ein wahrhaft abtrünniger Neorealist, aber er findet die falsche Kälte und die richtige Falschheit inmitten der Cinecittà. Wirkt der Film an manchen Stellen wie ein Werbevideo für das große italienische Studio, so wird mit fortschreitender Dauer klar, dass es sich hier um eine bewusst gesetzte Unwirklichkeit handelt, die die melodramatische Fatalität einer eingebildeten Liebe unterstreicht. Wie sehr Visconti das Melodram und diese Fatalität beherrscht, zeigt er in seinem bewussten Rollenspiel mit Mann und Frau. Die Stereotypen verschieben sich zwischen einer Hysterie und Ausgesetztheit, zwischen Unschuld und Naivität, zwischen Begehren und Verzweiflung. Visconti fährt in milchigen Bildern große Kontraste auf. Frau und Mann sind Opfer ihrer Gefühle. Es gibt keine Unabhängigkeiten, sondern nur Schmerz. Am Rande des Geschehens, bewegungslose schwarzgekleidete Statisten. Sie sind oft arm, viele Obdachlose, die trotz Winter unter Brücken schlafen müssen. Sie sind still und werden nicht beachtet. Soziale Realität die ausgeblendet wird von den Figuren, aber die Visconti wie ein Schatten weiter durch sein Schaffen zieht.


Und Visconti interessiert sich für die Zeit. In Blöcken bewegt sich der Film vorwärts und diese Blöcke laufen scheinbar in Echtzeit ab. Wenn Visconti einen harten Schnitt macht, schneidet er kaum durch die Zeit, sondern meist nur durch den Raum. Er schneidet selten. Er beobachtet und lässt höchste Gefühlstöne und Stimmungswechsel in einer Einstellung geschehen. Kombiniert mit einem emotionalen Over-Acting von Maria Schell als Natalia ergibt sich so ein faszinierendes Bild. Es bewegt sich immer zwischen Wahrhaftigkeit und Sentimentalitäten. Irgendwann werden die Sentimentalitäten wahrhaftig. Visconti fischt aus seiner toten Zeiten die Ziellosigkeit des und der Liebenden. Ein streunender Hund ist Mario, wie unlängst bei Tsai Ming-liang in „Stray Dogs“ bemüht sich auch Visconti um diese Metapher. Was stehen bleibt sind die kurzen Momente der Schönheit gegen die zehrende Länge der Einsamkeit. Durch die langen Passagen kratzt Visconti auch immer an der Absurdität des Lebens selbst, er scheint sich für alles zu interessieren, sein Auge will nichts verpassen. Die Ruhe und Beständigkeit seiner Kamerabewegungen lassen das Studio zum Leben erwachen.


Der Film markiert auch die erste Zusammenarbeit von Visconti mit Marcello Mastroianni. Und sie ist denkwürdig. In Mastroiannis lebendiger Freude und Unschuld lauert ein tiefergehender Schmerz, der es schafft, dass der Freudenschrei der Frau am Ende und die Tränen von Mastroianni die Romantik des Schnees in Kälte verwandeln. Er wird zum Beobachter einer Liebe, die er selbst gerne erfahren würde, er wird zum Kinozuseher. Unvergesslich jedoch seine Tanzszene, einer jeder ewigen Kinomomente, in denen Mario seine kindliche Männlichkeit mit einigen verrückten Tanzschritten beweist und Visconti seinen Stilwillen in pure Freude verwandelt. Es ist ein Nouvelle Vague Moment unmittelbar bevor diese in Frankreich losgeht. Aber diese Szene zeigt auch, dass der Tanz in seiner Symbolik, seiner Eleganz, seiner Lebendigkeit, seiner Künstlichkeit, seiner Unschuld, seiner Absurdität und seiner Schönheit ein Metier für einen Kinopoeten wie Visconti sein muss.

„Ich stand noch lange da und sah ihnen nach, bis sie meinen Blicken entschwunden waren.“

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