Dienstag, 15. Januar 2013

Vom Atmen im Kino




De rouille et d'os


Vor kurzem war ich mit einigen Freunden in Jacques Audiards Film „De rouille et d’os“ (dt.: „Der Geschmack von Rost und Knochen“). Vor dem Film unterhielten wir uns ein bisschen über Audiard und ich formulierte den etwas merkwürdigen Satz: „Bei Audiard geht es immer um das Atmen. Menschen atmen in seinen Filmen.“ Die Blicke, die ich für diesen Ausdruck erntete, waren irgendwo zwischen „Was will der Mann von uns?“ und „Ja, lass ihn nur.“ Deshalb habe ich mich entschieden etwas genauer zu erläutern, was Atmen im Kino sein kann, wie wichtig es ist und wie es zur Abbildung einer Realität beiträgt, ja das Kino im Unterschied zu Fernsehen beziehungsweise Film allgemein definiert.

Für mich gibt es drei Formen von Atmen im Kino:
    1.      Das Atmen als Ausdruck des Körperlichen
    2.      Das Atmen der Kamera
    3.      Das Atmen als Erzählpause

Das Atmen als Ausdruck des Körperlichen

Un prophete

Damit meine ich genau jenes Atmen, dass sich bei Jacques Audiard finden lässt; die Momente, in denen die Körper der Schauspieler an die Grenzen ihrer Körperlichkeit geführt werden, in denen sie beginnen als Körper zu existieren und nicht nur als verpixelte Fläche auf der digitalen Kinoleinwand herumirren. In „Un prophete“ von Audiard sitzt der junge Malik nach seinem ersten Mord auf dem Bett, sein ganzer Körper bebt, Spucke läuft ihm aus dem Mundwinkel, sein Körper geht auf und ab, er ringt nach Luft. Schon zuvor, als er mit der Rasierklinge übt, schnauft er wild. Wir merken seine Anstrengung, seine Lebendigkeit. In „De rouille et d’os“ sitzt Alain nach einem Boxkampf im Auto, das Handtuch über den Kopf geworfen, wir blicken auf ihn durch die Augen von Stéphanie und spüren jede Ader von ihm Zucken, jeden Muskel sich entspannen. Viele der geschleckten Filme Hollywoods vergessen diese Körperlichkeit über die Zerstückelung ihrer Einstellungen. So besitzen die Charaktere im ansonsten netten „Silver Linings Playbook“ von David O.Russel, der momentan in den Kinos läuft, trotz ihrer körperlichen Aktivitäten (Joggen, Tanzen) praktisch keine Körperlichkeit, weil ihre Berührung in den beständigen Schnittfolgen gar nicht gewährleistet wird und weil sie nicht Atmen, weil Erschöpfung sich hier nur über die ersten zwei oder drei Wörter zieht bis die hoch gefeierten Bradley Cooper und Jennifer Lawrence wieder in einen normalen Tonfall fallen, sodass wir auch ja alles verstehen. Atmen, das sind die Ecken und Kanten einer Inszenierung. In „De battre mon cœur s'est arrêté  von Audiard ist das Atmen des Protagonisten Ausdruck seiner inneren Zerrissenheit, er scheint sich selbst besiegen wollen, Verkrampfung und Wut, Gewalt und Gefühl, beides drückt sich durch sein wildes und unregelmäßiges Schnaufen aus. Sein angespanntes Gesicht erreicht uns lebendig statt nur eine Formel aus dem Drehbuch zu sein.

De battre mon cœur s'est arrêté

 Ist das Atmen also eine Schauspieltechnik? Nein, zumindest ist es nicht ausschließlich eine Schauspieltechnik, es ist mehr noch ein Zeichen für einen Regisseur, der in seiner Welt lebt, der dreidimensionale Figuren erschafft und damit meine ich nicht die Kindergarten-Drehbuchschule vom Zeichnen ambivalenter und vielschichtiger Charaktere, die dann in der Presse und von anderen Leuten, die gerne kluge Dinge über Filme sagen besonders gelobt wird, sondern ich meine das Erschaffen einer realen Körperlichkeit. Darin liegt zum Beispiel auch der Unterschied zwischen Daniel Craig als James Bond und all seinen Vorgängern. Er ist ein körperlicher Bond, man merkt ihm die Anstrengung an, er atmet; wogegen Pierce Brosnan immer so wirkte, als wäre er mit Photoshop auf die Kinoleinwand gesetzt worden, völlig getrennt von seiner Umgebung. Hierin liegt auch die Stärke des Kinos von Fatih Akin; das sind ganz bewusste Entscheidung auf der Ton- und Bildebene. Man hört die Unebenheiten der Charaktere, man fühlt sie förmlich. Denn nur wer atmet, ist lebendig.


Das Atmen der Kamera

Audiard am Set von Sur me lèvres

Bei einem Filmdreh hörte ich die Regisseurin unerlässlich zu ihrem Kameramann sagen: „Lass die Kamera ein bisschen Atmen“; was sie damit meinte war wohl die leichte Bewegung der Kamera (und schließlich des Bildes), bei der Benutzung einer Handkamera oder einer Steady-Cam. Das ist nicht zu verwechseln mit einer Pseudo-Authentizitäts-Wackelkamera, die hektisch ein Gefühl des Geschehens vermitteln versucht, wie zum Beispiel in den grausamen Actionsequenzen des amerikanischen Hits „The Hunger Games“. Nein, bei diesem Atmen handelt es sich vielmehr um den Einsatz der Kamera, wie sie ein Hans-Christian Schmid oder die Dardenne-Brüder benutzen. Durch die ständige Bewegung der Kamera wird er eine emotionale Ebene erzeugt, die der intellektuellen Kühle und Präzision ihrer Geschichten entgegenwirkt und  so den Zuschauer am Herzen anzusprechen vermag. Natürlich ist diese leichte Kamerabewegung auch eine Mode, heute geht es so weit, dass im Bild die Schärfe gesucht wird; sie ist die scheinbar effektivste Art der Kamerabewegung durch die sich die Filmemacher nicht wirklich spürbar machen, denn sie vermittelt ein Gefühl von Subjektivität. Deshalb muss man streng abgrenzen zwischen den vielen Mainstreamproduktionen, die diese Art der Kameraführung bei Point-of-View Einstellungen verwenden oder zur Visualisierung von Schwindel, Übelkeit, Ekstase etc. und jenen Filmen, deren ganzer Stil darauf basiert. Die Filme die durchzogen sind von einem Atmen der Kamera versuchen auf der technischen Ebene die gleiche Körperlichkeit zu erreichen, wie sie durch das tatsächliche Atmen des Schauspielers vermittelt wird. Dabei sollte es aber nicht wie so oft um technische Perfektion gehen, weil genau diese der Körperlichkeit im Weg steht. Gerade weil es so in Mode gekommen ist die Kamera leicht zu bewegen, verliert sich die Wirkung oft völlig. Wirklich effektiv kann dieses Stilmittel meiner Meinung nach nur verwendet werden, wenn es den Gemütszustand der Protagonisten widerspiegelt, wenn es Ausdruck von deren/dessen Weltwahrnehmung ist; alles andere ist Selbstverherrlichung und die typische Kopie dessen, was man selbst so gern sieht. Damit meine ich auch, dass die Kamera unterschiedlich stark atmen sollte, denn nicht immer sind die Charaktere gleich beunruhigt, gleich lebendig. Gaspar Noé wendet dieses Verfahren in seinem „Irréversible“ (den man gar nicht überstrapazieren kann) exemplarisch an: Je hektischer und extremer die Situation, desto freier schwebt, fliegt und wackelt die Kamera durch den Raum und als alles noch ruhig ist, da steht auch die Kamera. Es gibt viele Gründe für Kamerabewegung jenseits einer inneren oder äußeren Figurenbewegung, aber wenig Gründe für eine unmotiviert atmende Kamera. (außer vielleicht den Moment des voyeuristischen Horrors, der Spannung, wenn Einstellungen, beispielsweise hinter einem Vorhang so wirken als wären sie subjektiv und man sich unwohl fühlt.)

Das Atmen als Erzählpause

De rouille et d'os

Das ist dann eher eine Aufgabe des Schnitts. Es sind die Momente zwischen oder nach der Handlung, der Augenblick, in dem die Kamera noch ein wenig länger bei den Charakteren verweilt. Über diese Stellen definieren sich Filme. Nicht alles muss eine Bedeutung haben, manche Bilder sollten einfach für sich selbst stehen und eine Stimmung schaffen. Audiard hat zahlreiche Bilder jener Art in seinen Filmen, wenn er sich langsam um seine Charaktere herumbewegt, wenn Alain aus dem Fenster blickt, wenn Malik zum ersten Mal das Gefängnis verlassen darf. Statt sich in irren Geschwindigkeiten durch die Handlung zu hangeln und lediglich funktionale Szenen im finalen Schnitt zu lassen, um eine ständige Unterhaltung bei annehmbarer Länge zu gewährleisten, sollte man sich lieber darum bemühen eine gewisse Tiefe und Echtheit der gefilmten Welt zu sichern; auch Audiard hetzt manchmal zu sehr in „De rouille et d’os“, versucht akribisch die Handlung in zwei Stunden zu erzählen, statt den ein oder anderen Moment stehenzulassen.  John Cassavetes war ein Meister dieser Momente. Er erreichte sie durch die absolute Freiheit, die er seinen Schauspielern in Bezug auf die Interpretation seiner vorgeschriebenen Drehbücher gab. Laurent Cantet fand viele dieser atmenden Stellen in „Entre les murs“, als er den Lehrer zwischen der Hektik des Schulalltages immer wieder auf das leere Klassenzimmer blicken ließ.

Entre les Murs

Filme brauchen diese Zeit zum Verschnaufen, sie müssen sich festsetzen. Es ist keine Überraschung, dass die Komödien, die dem Leben nahe stehen und nicht als reine Blödelorgie dienen, diese Pausen von der Erzählung nehmen. So finden sich zum Beispiel in „Happiness“ von Todd Solondz unzählige Einstellungen von Charakteren, die abends alleine im Bett sitzen, reflektieren und so uns die Möglichkeit zur Reflektion geben. Oft wird man überwältig von den Filmen, die einem scheinbar keine Pause geben, die von einem Highlight in das nächste springen; „da wird einem nicht langweilig“, sagt man dann. Nur oft hat man diese Filme unmittelbar nach ihrem Ende schon wieder vergessen, man kann gar nicht alles verarbeiten. Das Bescheuerte daran ist, dass die Schnelligkeit der Handlung, der Versuch des Aussparens sämtlicher nicht-funktionaler Szenen weder vor Spannung, noch für Humor, noch für eine bessere Unterhaltung sorgt. Niemand wird bestreiten, dass Roman Polanskis „Ghostwriter“ trotz einer langsamen Erzählweise und vieler rein atmosphärischer, charakterbezogener Momente eine mindestens gleichwertige Spannung erzeugen kann, als jeder Hollywood-Blockbuster. Sieht man sich zum Beispiel „The Adjustment Bureau“ von George Nolfi an, wird man fast erschlagen von dieser unnötigen Hektik bis irgendwann nur noch Farben und Formen vor einem über die Leinwand flimmern.

The Adjustment Bureau

Beim Humor ist das ganz ähnlich. Versuchen Filme zwanghaft ein Gagfeuerwerk abzufeuern, empfindet man sie irgendwann als ermüdend, ja dumm. Mag dieses Konzept im Kino noch funktionieren (frei nach dem Motto: bei 200 Leuten lacht immer irgendeiner über irgendeinen Gag und nimmt die anderen mit), so merkt man dann oft beim nochmaligen Schauen alleine oder im kleineren Kreis, dass Charaktere nur noch installiert werden, um Gags zu produzieren statt dass Charaktere produziert werden, die Gags produzieren. Schließlich kann man auch mit langsamer, atmender Erzählhaltung unterhalten, wenn man denn möchte. Quentin Tarantino unterhält mit Gewalt und Musik, Paul Thomas Anderson unterhält mit Perversion und Schuld, Ulrich Seidl unterhält mit Ekel und schwarzem Humor und Jacques Audiard unterhält mit Unberechenbarkeit und Ehrgeiz. Gerade in den langen, scheinbar nichts-aussagenden Einstellungen liegt oft die Wahrheit aller Filme, in etwa so, als würde man einen einsamen älteren Mann von seinem Fenster aus beobachten, wie er draußen steht und die Tauben füttert.

Was noch?
Es gibt „Atmen“ von Karl Markovics und „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard; die hektischen Schnitte bei Godard lassen einen in der Tat atemlos zurück; Atmen heißt in beiden Filmen immer auch leben. Außer Atem heißt auch, dass man keine Zeit hat; doch Zeit sollten sich Filme nehmen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass der Unterhaltungsfaktor etwas mit der Laufzeit des Films zu tun hat. 

A bout de souffle

Manchmal atmet auch der Sitznachbar im Kino sehr laut; er sollte nie lauter atmen, als der Film selbst. Sein Atmen verhindert dann, dass man in den Film einsteigen kann, dass man sich in der Leinwand verliert. Atmen ist auch in der realen Welt Ausdruck von Intensität, Nähe (in diesem Fall: zu nah) und Körperlichkeit. Das Kino hat die Fähigkeit diese Attribute auf der Leinwand zu versammeln. Bei Audiard passiert genau das. Deshalb habe ich davon gesprochen, dass seine Filme atmen.

Sur mes lèvres


De battre mon coeur s'est arretè


Un prophete


De rouille et d'os

 

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